8

»Das ist meine eigene Schuld«, murmelte Mrs. Hershal.

»Ich hätt’s gleich sehen müssen, aber meine Augen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, vor allem im Dunkeln.«

Kelsey rieb sich den Schlaf aus den Augen, während sie mit halbem Ohr auf das Gemurmel der Haushälterin lauschte. Sie sagte nichts, weil sie nicht wußte, wovon die Frau redete. Offenbar hatte sie diesen Teil verpaßt, denn sie war erst aufgewacht, als Mrs. Hershal bereits eins ihrer Kleider aus dem Koffer genommen hatte, damit es keine Falten bekam.

Das Zimmer war schon aufgeräumt, obwohl sie gestern abend nicht mehr lange genug wach gewesen war, um Unordnung zu machen. Frisches Wasser erwartete sie, flauschige Handtücher und eine Kanne Tee.

Sie gähnte und war froh darüber, daß sie beim Aufwachen gleich gewußt hatte, wo sie war und sich nicht fragen mußte, wer wohl diese Frau sein mochte, die im Zimmer rumorte. Braunes Haar, das zu einem strengen Knoten geschlungen war, breite Schultern und ein aus-ladender Busen, der sie ein wenig übergewichtig wirken ließ, dazu starke Augenbrauen, die zu einem ständigen Runzeln zusammengezogen schienen.

O ja, sie erinnerte sich durchaus an die Haushälterin –

nur zu gut hatte sie noch ihr mißbilligendes Schnalzen im Ohr und den abschätzigen Blick, unter dem Kelsey sich vorgekommen war wie die elendeste Kanalratte.

Und die letzte Bemerkung, die sie fallenließ, bevor sie das Zimmer verlassen hatte, würde Kelsey nie vergessen.

»Und laufen Sie bloß nicht hier herum und stehlen etwas, weil wir auf jeden Fall wissen werden, wer es war.«

Eine solche Herabsetzung war besonders schwer zu verdauen, weil sie so etwas noch nie in ihrem Leben erfahren hatte, aber sie hatte rasch begriffen, daß sie sich an ein solches Verhalten würde gewöhnen müssen. Sie mußte ihre Gefühle in Zukunft einfach hinter einem Schutzschild verbergen, damit solche Bemerkungen sie nicht mehr so verletzen oder beschämen konnten.

Kelsey wünschte, die Haushälterin würde sich beeilen und endlich gehen. Aber sie murmelte immer noch vor sich hin und hatte offensichtlich immer noch nicht gemerkt, daß Kelsey bereits aufgewacht war. Doch als Kelsey aufmerksamer zuhörte, was die Frau sagte, änderte sie ihre Meinung.

»Das kommt davon, wenn man auf Hanly hört. Na, was weiß der schon? Sagt mir, sie war’ eine Dirne, die Seine Lordschaft nach Hause mitgebracht hat, und ich gehe hin und glaube ihm auch noch. Ich bin selbst schuld. Ich geb’s ja zu. Ich hätte besser genauer hingese-hen. Man sieht’s an den Knochen. Die Knochen können einen nicht täuschen, und sie hat die richtigen.«

»Verzeihen Sie bitte .. «

»Was? Was habe ich zu Ihnen gesagt? Ich hätte sie gestern abend um Verzeihung bitten müssen, Mylady, und ich habe von Anfang an gewußt, daß Sie nicht hier unten hingehören. Es lag an dem Kleid, verstehen Sie. Und außerdem sind meine Augen nicht mehr so gut, wie ich bereits sagte.«

Kelsey zuckte zusammen, als sie sich in dem harten Bett aufsetzte. Gestern abend hatte sie gar nicht bemerkt, daß es so unbequem war. Du lieber Himmel, die Frau entschuldigte sich. Deshalb hatte sie die ganze Zeit vor sich

hingemurmelt.

Aus

irgendeinem

unbekannten

Grund hatte sie beschlossen, sich geirrt zu haben, als sie Kelsey mit einer Kanalratte gleichsetzte. Und wie sollte Kelsey jetzt damit umgehen? Sie wollte gar nicht, daß jemand sie für eine Dame hielt.

Vielleicht sagte sie besser gar nichts. Sollte doch die Frau denken, was sie wollte. Schließlich würde sie in diesem Haus nicht lange bleiben und nicht jeden Tag mit ihr zu tun haben. Es gab allerdings die Möglichkeit, daß Mrs. Hershal schuldbewußt direkt zu Lord Derek ging, um sich weiter zu entschuldigen, und das wäre auch nicht so gut.

Deshalb lächelte sie die Frau schwach an und sagte: »Es ist nicht so, wie Sie denken, Mrs. Hershal. Es stimmt zwar, daß das vulgäre Kleid nicht mir gehört, und ich wäre nur zu glücklich, wenn ich es nie wiedersähe, aber ich bin nicht von Adel, ganz bestimmt nicht.«

»Wie erklären Sie mir dann ...«

Kelsey unterbrach sie rasch: »Meine Mama war Gouvernante, wissen Sie, und es ging uns nicht so schlecht.

Sie war fast mein ganzes Leben lang bei der gleichen Familie angestellt, und wir wohnten in einem ähnlich schönen Haus wie diesem hier. Ich hatte sogar das Privileg, von dem gleichen Lehrer unterrichtet zu werden wie die jungen Ladies, um die sich meine Mutter kümmerte — deshalb denken Sie wahrscheinlich, daß ich etwas Besseres bin. Glauben Sie mir, Sie sind nicht die einzige, die sich in mir irrt, weil ich mich so ausdrücke.«

In der Wiederholung ging ihr die Lüge noch leichter über die Lippen, aber Mrs. Hershal runzelte trotzdem zweifelnd die Stirn und musterte Kelseys Gesicht, als ob sie dort die Wahrheit entdecken könnte. Und genau das wollte sie tatsächlich. »Das erklärt aber nicht ihre Knochen, Mylady. Sie haben die zarten Knochen der Oberschicht.«

Kelsey dachte fieberhaft nach und sagte dann das einzige, was ihr einfiel. »Nun …, ich weiß nicht, wer mein Vater war.« Das tiefe Erröten, das mit dieser Lüge ein-herging, brauchte sie nicht vorzutäuschen.

»Also ein Fehltritt?« erwiderte Mrs. Hershal nachdenklich und nickte dann. Diese logische, offene Antwort schien ihr zu gefallen. Dann meinte sie mitfühlend:

»Nun ja, davon gibt es genug. Sogar Lord Derek, Gott segne ihn, kam auf der falschen Seite zur Welt. Natürlich hat ihn sein Papa, der Marquis, anerkannt und ihn zu seinem Erben gemacht, deshalb hat ihn die Gesellshaft auch akzeptiert, aber das war nicht immer so. Er mußte ziemlich kämpfen – die jungen Leute können so grausam sein, bis sich Lord Eden auf dem College mit ihm anfreundete.«

Kelsey hatte sicher keine Geschichte über Jeremys Freund Derek erwartet und wußte nicht so recht, was sie darauf sagen sollte. Es ging sie natürlich nichts an, daß er illegitim war, aber da sie gerade behauptet hatte, es auch zu sein, hielt sie es für angebracht, Verständnis zu äußern.

»Ja, ich weiß, wie das ist.«

»Da bin ich ganz sicher, Miss, ganz sicher.«

Als Kelsey hörte, daß Mrs. Hershal sie jetzt mit ›Miss‹

statt mit ›Mylady‹ anredete, entspannte sie sich. Mrs.

Hershal wirkte jetzt auch nicht mehr so gereizt, offensichtlich stellte es sie zufrieden, daß ihr Irrtum nicht zu schwerwiegend gewesen war, so daß sie keinerlei Probleme deswegen zu erwarten hatte.

Und rasch zog die Haushälterin ihre eigenen Schlüsse.

»Dann hatten Sie also ein bißchen Ärger, und Lord Derek hat Ihnen geholfen?«

Einfach ›Ja‹ zu sagen und es dabei bewenden zu lassen, wäre das einfachste gewesen, aber die Haushälterin war zu neugierig, um ihr Schweigen zu akzeptieren.

»Oder kennen Sie Seine Lordschaft schon lange?«

»Nein, keineswegs. Ich war ... ohne Unterkunft. Ich kenne diese Stadt nicht, wissen Sie, ich war gerade erst angekommen und hatte zwar das Glück, gleich eine Unterkunft zu finden, aber leider geriet das Haus in Brand. Deshalb trug ich auch dieses entsetzliche Kleid.

Jemand hatte es mir geliehen, bevor man meinen Koffer wiedergefunden hat, und ... Lord Derek war zufällig vorbeigefahren, sah den Rauch und hielt an, um zu helfen.«

Kelsey war ziemlich stolz auf ihren Einfall, ein Feuer zu erfinden, um sowohl das Kleid als auch ihre Anwesenheit hier zu erklären. Die Haushälterin nickte zustimmend.

»Ja, unser Lord Derek hat ein gutes Herz. Ich weiß noch, wie er einmal …«

In diesem Augenblick unterbrach ein Klopfen an der Tür ihren Redefluß. Eine junge Zofe steckte den Kopf herein und sagte: »Die Kutsche ist vorgefahren, und Seine Lordschaft wartet.«

»Du meine Güte, so früh?« Mrs. Hershal winkte dem Mädchen zu gehen und blickte dann Kelsey an. »Nun ja, dann habe ich also keine Zeit mehr, das Kleid zu bügeln. Aber ich glaube, ich habe die Falten auch so gut herausbekommen und verlasse Sie jetzt, damit Sie sich fertigmachen können. Leider ist auch keine Zeit mehr zum Frühstücken, aber ich werde Cook sagen, er soll Ihnen etwas zum Mitnehmen in einen Korb packen.«

»Das ist nicht nö ...«, begann Kelsey rasch, aber die Haushälterin war bereits aus der Tür.

Kelsey seufzte und hoffte, die ungeheure Lüge, die sie gerade erzählt hatte, bliebe ohne Folgen. Aber eigentlich spielte es auch keine Rolle, sie würde schließlich ja nicht hier wohnen.

Allerdings behagte ihr die ganze Lügerei überhaupt nicht. Sie war auch nicht besonders gut darin, da sie einfach keine Übung hatte. Sie und Jean waren zu absoluter Aufrichtigkeit erzogen worden, und keine von ihnen hatte je Grund gehabt, von diesem Weg abzuwei-chen – zumindest Kelsey nicht, bis jetzt.

Der Tee war nicht mehr besonders heiß, aber sie trank rasch einen Schluck, während sie sich eilig wusch und anzog. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie das rote Kleid einfach dalassen sollte, aber dann fiel ihr ein, daß May ihr bei Lonny den Rat gegeben hatte, für ihren Liebhaber immer besonders gut und reiz-voll auszusehen, und sie besaß kein anderes Kleid, das in letztere Kategorie fiel. Sie mochte ja das Kleid entsetzlich finden, aber Männer taten das offenbar nicht, denn sonst wären die Gebote bestimmt nicht so hoch gegangen.

Aber sollte sie es je noch einmal tragen, dann nur spät am Abend und hinter geschlossenen Türen. Für heute zog sie das Kleid an, das Mrs. Hershal ausgepackt hatte, ein beigefarbenes, dickes Wollkleid, das zu ihrer kurzen Jacke paßte. O Gott, es tat richtig gut, sich endlich wieder anständig anzuziehen, auch wenn ›anständig‹ zu sein nicht zu ihren zukünftigen Aufgaben gehören würde.

Als sie die Treppe herunterkam, stand Lord Derek bereits wartend in der Halle und schlug ungeduldig mit seinen Handschuhen gegen die Hüfte. Jeremy war nicht da. Im hellen Tageslicht sah der Lord anders aus, allerdings nicht weniger gut.

Eigentlich konnte man in der lichtdurchfluteten Halle sogar noch besser registrieren, wie gut er aussah, mit seiner hohen, schlanken Gestalt, dem feingezeichneten Gesicht und ... seine Augen waren eigentlich haselnuß-

braun. Anscheinend hatten sie nur in der Beleuchtung gestern abend grün gewirkt.

Diese Augen musterten sie nun kritisch und gaben ihr das Gefühl, daß er ihren züchtigen Aufzug keineswegs schätzte. Damit hatte sie gerechnet. Natürlich sah sie jetzt wie eine Dame aus, und das hatte er bestimmt nicht erwartet. Aber schließlich mußte sie ja auch nicht ihm gefallen, deshalb machte sie sich darüber keine Gedanken.

Sie hatte angenommen, daß »Seine Lordschaft wartet«

bedeuten würde, daß Jeremy gekommen wäre, um sie abzuholen, aber der jüngere Lord war nirgendwo zu sehen. Vielleicht saß er ja in der Kutsche.

»Ich vermute, Sie haben gut geschlafen?« fragte Derek, als sie auf ihn zutrat. Sein Ton klang so, als ob er das eigentlich nicht für möglich hielte.

»Ja, sehr gut.«

Sie staunte selbst, daß das stimmte, aber wenn sie darüber nachdachte, so mußte sie in dem Moment eingeschlafen sein, wo ihr Kopf das Kissen berührte. Allerdings hatten die Angst und die Sorge des vorangegan-genen Tages sie auch ernstlich erschöpft.

»Ich glaube, das ist für Sie.«

Sie hatte gar nicht bemerkt, daß er, halb hinter seinem Rücken verborgen, einen Korb hielt. Sie nickte und hoffte, daß Mrs. Hershal ihn nicht selbst übergeben oder zumindest nichts gesagt hatte. Aber dieses Glück war ihr nicht vergönnt.

»Ich habe also eine gute Tat vollbracht, an die ich mich gar nicht erinnern kann?«

Kelsey errötete vor Zorn darüber, bei einer Lüge er-tappt worden zu sein. »Es tut mir leid, aber Ihre Haushälterin hat mich heute früh mit Fragen überschüttet, und ich nahm an, daß es Ihnen nicht recht sei, Wenn sie die Wahrheit erführe.«

»Das stimmt allerdings, es geht sie überhaupt nichts an.

Haben Sie wirklich gut geschlafen?«

Sie war überrascht, daß er sie noch einmal danach fragte, und wieder in einem Tonfall, der zu erkennen gab, daß er dies für unwahrscheinlich hielt.

»Ja, ich war anscheinend ganz erschöpft. Es war ein ..

anstrengender Tag.«

»Ja?« Wieder dieser zweifelnde Tonfall, aber dann lächelte er. »Nun, heute wird es hoffentlich besser werden. Sollen wir?« Er wies zur Tür.

Sie nickte seufzend. Der Mann benahm sich äußerst seltsam,

aber

eigentlich

konnte

es

ihr

gleichgültig

sein. Vielleicht war es ja auch nicht seltsam, und er war von Natur aus wegen allem und jedem skeptisch.

Es spielte auch gar keine Rolle, sie bezweifelte, daß sie ihn nach dem heutigen Tag jemals wiedersehen würde.

Er geleitete sie in die wartende Kutsche, und als seine Hand die ihre berührte, verspürte sie wieder dieses ver-wirrende Gefühl. Aber nicht aus diesem Grund runzelte sie die Stirn, als er sich ihr gegenüber niederließ.

Die Kutsche war leer.

Sie konnte sich nicht enthalten zu fragen: »Werden wir Ihren Freund Jeremy abholen?«

»Jeremy?«

Seine Verwirrung verärgerte sie, da sie zu ihrer noch beitrug, doch wiederholte sie ruhig: »Ja, Jeremy. Holen wir ihn heute morgen ab?«

»Wozu?« fragte er. »Wir brauchen seine Gesellschaft auf dem Weg nach Bridgewater wohl kaum.« Dann lächelte er, und sie hätte schwören können, daß seine Augen wieder grün wirkten. »Außerdem ist dies eine hervorragende

Gelegenheit

für

uns,

einander

besser

kennenzulernen. Tatsächlich kann ich es keinen Augenblick

länger

aushalten,

herauszufinden,

wie

Ihre

Lippen schmecken.«

Bevor sie merkte, was überhaupt vor sich ging, war er schon dabei, sie auf seinen Schoß zu ziehen. Doch sie reagierte blitzschnell. Kaum hatte er den Versuch gemacht, seine Lippen auf ihre zu drücken, da versetzte sie ihm eine Ohrfeige. Er sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. Sie blickte ihn genauso an.

Rasch schob er sie wieder auf ihren Sitz zurück und sagte steif: »Ich weiß nicht, ob ich Sie um Verzeihung bitten soll oder nicht, Miss Langton. Wenn ich bedenke, welches Loch Sie gestern für die exklu-sive Nutzung ihres lieblichen Körpers in meine Bör-se gerissen haben, halte ich eine Erklärung für angebracht. Oder unterliegen Sie der irrigen Annahme, ich gehörte zu den wenigen Auserwählten, die Lonnys Haus besuchen, weil sie den Sex ein wenig rauh mögen? Ich kann Ihnen versichern, daß dies nicht der Fall ist.«

Ihr blieb der Mund offenstehen, und ihre Wangen be-gannen vor Scham zu brennen. Er hatte sie gekauft.

Nicht Jeremy. Und sie hatte ihre Beziehung gerade damit begonnen, daß sie ihn ohrfeigte.

»Ich .. ich kann es erklären«, sagte sie. Leichte Übel-keit begann in ihr aufzusteigen.

»Das hoffe ich, meine Liebe, denn im Augenblick habe ich großes Verlangen, mein Geld zurückzufordern.«