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Die Mietkutsche vor ihnen hatte angehalten. Dereks Kutsche fuhr daneben. »Warum halten wir an?« rief James hinaus.

Nach

einem

kurzen

Augenblick

kam

Artie

zum

Kutschenfenster, um mit ihnen zu reden. »Das da drü-

ben ist das Haus, Captain, das, wovon ich Ihnen erzählt hab’, das Ashford ein paarmal besucht hat. Das ist der einzige andere Ort, den ich kenne, wo er mit dem Mädchen sein könnte, aber wahrscheinlich ist er doch nicht hier.«

»Warum nicht?«

»Weil Henry nirgendwo zu sehen ist. Henry wär’ hier, wenn Ashford das Mädchen hergebracht hätte. Außerdem sieht’s hier so verlassen wie immer aus. Ich würd’

sagen, hier ist meilenweit kein Mensch.«

James stieg aus, um sich das Haus und die Umgebung anzusehen. Derek und Anthony folgten ihm.

»Sieht

irgendwie

gespenstisch

aus«,

sagte

Anthony.

»Wohnt hier überhaupt jemand?«

Artie zuckte mit den Schultern. »Wir haben nie jemand gesehen, wenn wir hier waren.«

»Wir müssen trotzdem ins Haus«, sagte Derek. »Wenn das unsere letzte Hoffnung ist, gehe ich nicht eher weg, bis ich den letzten Winkel durchsucht habe.«

»Einverstanden«, erwiderte James und begann, Befehle zu geben. »Artie, sieh in der Umgebung und im Stall nach, ob da jemand ist. Tony, um Zeit zu sparen, solltest du versuchen, einen Hintereingang zu finden, der offen ist. Wenn keiner offen ist, brich eine Tür auf. Derek und ich versuchen es vorn an der Haustür.

»Warum probiert ihr es dort, während ich hintenherum gehen muß?« wollte Anthony wissen.

»Halt die Augen offen, Junge«, knurrte James. »Wir haben jetzt keine Zeit zu streiten.«

Anthony warf einen Blick auf Derek, hustete und erwiderte: »Sehr wohl.«

»Und macht schnell«, fügte James hinzu. »Ich bezweifle zwar, daß der Bastard hier ist, weil Henry nirgendwo zu sehen ist, aber es ist unsere letzte Hoffnung. Henry wird uns wahrscheinlich eine Nachricht schicken, wohin er gegangen ist, sobald er kann. Und dann müssen wir schnell zur Stelle sein.«

Er sagte das, um Derek zu beruhigen, aber es nützte nichts. »Dann« würde zu spät für das Mädchen sein.

»Na, es sieht so aus, als ob doch jemand da ist«, sagte Anthony auf einmal und starrte zum Haus. »Irre ich mich oder sehe ich da ein Licht auf dem Speicher?«

Und wirklich. Man konnte es zwar kaum erkennen, aber oben war ein Licht zu sehen. Damit waren sie sicher, daß das Haus nicht völlig unbewohnt war.

Sie trennten sich und gingen auf das Haus zu. Derek folgte seinem Kutscher zur Haustür. Sie war verschlossen, also mußte er eben klopfen.

James kam ein wenig langsamer nach. Er machte sich Sorgen um seinen Neffen; noch nie hatte er ihn so rasend vor Wut und so voller Tatkraft gesehen. Derek konnte nicht still stehen. Er wippte auf den Absätzen und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Noch einmal hämmerte er an die Tür.

»Henry ist ein guter Mann«, sagte James, während sie darauf warteten, daß die Tür aufging – oder nicht. »Wenn er Kelsey aus den Händen Ashfords befreien kann, tut er es. Vielleicht ist sie ja schon längt bei ihm.«

»Glaubst du das wirklich?«

Es tat weh, die Hoffnung zu sehen, die in Dereks Augen aufleuchtete. Ein Gentleman hegte normalerweise nicht solche Gefühle für seine Mätresse. Daß James ursprünglich vorgehabt hatte, seine Frau Georgina zu seiner Mätresse zu machen, war etwas anderes. Er hatte es ja auch nicht getan, sondern er hatte sie

geheiratet.

Aber

diese

kleine

Langton

gehörte

nicht zu denen, die man heiratete. Nicht, daß James das etwas ausmachte, wirklich nicht. Er hatte immer getan, was ihm beliebte. Aber der zukünftige Marquis of Haverston konnte sich diesen Luxus nicht erlauben.

Er würde ein ernstes Gespräch mit dem Jungen führen müssen, wenn das hier vorüber war. Oder besser noch mit Dereks Vater. Ja, sollte doch Jason seine Pflicht tun und seinem Sohn die unangenehmen Tatsachen vor Augen halten.

James konnte ihm nicht mehr antworten. Die Tür ging auf, und sie standen einem äußerst wütenden – wem oder was eigentlich? – gegenüber.

James war überall auf der Welt herumgekommen und hatte schon viel gesehen, aber selbst er schreckte zurück vor der mißgebildeten Kreatur, die auf der Schwelle stand. Aber sie konnte sprechen. Es war offensichtlich ein Mann und kein Mißgriff der Natur.

»Warum machen Sie so einen Krach, he? Sie haben hier nichts zu suchen .. «

»Ich bitte um Verzeihung«, unterbrach James ihn. »Sei ein guter Junge und tritt zur Seite. Wir müssen mit Lord David Ashford sprechen – und zwar sofort.«

Der Name überraschte den Kerl.

»Er ist nicht hier«, sagte er nur.

»Ich weiß es zufällig besser«, erwiderte James. Er bluffte natürlich, aber das erwies sich unter den gegebe-nen Umständen als nützlich. »Führ uns zu ihm, oder wir suchen ihn selbst.«

»Nein, das geht nicht, Gentlemen! Ich habe Anweisung, niemanden hereinzulassen – unter keinen Umständen.«

»Du wirst eine Ausnahme machen müssen .. «

»Das glaube ich nicht«, entgegnete der Mann zuversichtlich, und in der Hand, die er hinter dem Rücken vorzog, kam eine Pistole zum Vorschein.

Er hatte sich natürlich vorbereitet, bevor er zur Tür gegangen war, um notfalls Ashfords Befehl, keinen einzulassen, Nachdruck verleihen zu können. Und auf diese kurze Entfernung waren die Besucher ein sicheres Ziel

– zumindest, solange James nicht in seinen Mantel greifen konnte, um seine eigene Pistole hervorzuholen.

Aber er zögerte damit, weil Derek dabei war, und der Mann die Waffe abwechselnd auf sie beide richtete. Sein eigenes Leben in Gefahr zu bringen bedeutete ihm nichts, aber mit dem Leben seiner Verwandten ging er nicht so leichtfertig um.

»Waffen sind hier nicht erforderlich«, verwies James ihn.

»Ach, wirklich nicht?« Der Mann grinste und wiederholte James’ Worte: »Ich bitte um Verzeihung ..

Aber da Sie alle Verbotsschilder an der Einfahrt zu diesem Besitz ignoriert haben, muß ich Sie vielleicht erschießen, weil Sie widerrechtlich eingedrungen sind.«

Auf

einmal

ertönte

Anthonys

Stimme

hinter

dem

Mann. Mit eisiger Ruhe sagte er: »Der Kerl droht doch wohl nicht damit, euch zu erschießen, alter Knabe?«

Sofort fuhr der Mann herum, um der neuen Bedrohung in seinem Rücken zu begegnen. Anthony hatte einen anderen Weg in das Haus gefunden und sich von hinten an ihn herangeschlichen.

»Hervorragend, alter Junge«, sagte James, während er dem Mann die Pistole aus der Hand schlug und ihn am Hemd packte.

»Du kannst mir später danken«, erwiderte Anthony grinsend.

»Muß ich?« fragte James. Er blickte den Kerl an, den er festhielt, und bevor seine Faust mitten im Gesicht des Mannes landete, fügte er hinzu: »Wie zum Teufel bricht man jemandem die Nase, der gar keine mehr hat?«

Damit ließ er den Kerl los, der bewußtlos zu Boden sank.

»War das nötig?« fragte Anthony und trat näher. »Er hätte uns doch sagen können, wo Ashford ist.«

»Das hätte er bestimmt nicht«, widersprach James.

»Zumindest nicht, bevor wir es nicht aus ihm herausge-prügelt hätten, und wir haben keine Zeit für solche Spielchen. Derek, du durchsuchst das Erdgeschoß. Ich gehe nach oben. Tony, sieh dich um, ob es hier einen Keller gibt.«

Anthony wußte genausogut wie James, daß Ashford sich wahrscheinlich nicht im Erdgeschoß des Hauses befand, das er Derek zugeteilt hatte. Er würde sich entweder in einem Schlafzimmer im Obergeschoß aufhalten, was der geeignetste Ort für seine Zwecke war, oder in einem abgelegenen Raum unten im Keller, wo man die Schreie nicht hören konnte. Offenbar wollte James nicht, daß er Ashford oder das Mädchen als erster fand.

»Ich kriege schon wieder die schmutzigste Aufgabe«, murrte Anthony, während er auf dem Weg zurückging, den er gekommen war. Über die Schulter rief er zurück:

»Laß mir auch ein Stück Kuchen übrig, Bruder.«

James war bereits auf der Treppe und antwortete ihm deshalb nicht. Da die meisten Zimmer leer waren, dauerte es nicht lange, bis sie das ganze Haus durchsucht hatten. James kam die Treppe wieder herunter, gerade als Anthony die Halle betrat.

»Und?« fragte James.

»Unter uns ist ein Keller, aber da gibt es nur leere Regale und Fässer, und ein paar Kannen Ale. Und bei dir?«

»Der Speicher war völlig leer, es stand nur eine Lampe da oben, was nicht besonders viel Sinn macht.«

»Sonst nichts?« fragte Derek und trat zu ihnen.

»Eine Tür oben war verschlossen. Zum Teufel, ich dachte wirklich, jetzt hätte ich ihn, als ich auf sie stieß.«

»Bist du hineingekommen?« fragte Anthony.

»Natürlich«, schnarrte James. »War allerdings niemand drin. Das Zimmer war voller Möbel, nicht so leer wie die anderen, aber es sah nicht so aus, als ob sich in den letzten zehn oder zwanzig Jahren jemand dort aufgehalten hätte. Der Schrank war voller altmodischer Kleider, und in einer Ecke hingen Bilder von immer der gleichen Frau mit einem Kind. Sah fast aus wie so ein verdammter Altar, wenn ihr mich fragt.«

»Ich hab’ doch gesagt, hier gibt’s Gespenster«, meinte Anthony.

»Na, auf jeden Fall keine Gespenster namens Ashford.

Nicht mal ein weiterer Diener ...«

In diesem Augenblick flog die Haustür auf, und Artie stürmte herein. »Ich hab’ Henry gefunden. Er lag gefesselt im Stall, er und ein anderer Kerl, und sie sind beide übel zugerichtet. Jemand hat sie zusammengeschlagen.«

»Aber sie leben noch?«

»Aye, Sir, Henry ist zu sich gekommen und hat gesagt, ein Wildschwein hätte ihn angegriffen. Der andere Mann sieht schlimm aus, vielleicht kommt er nicht durch. Sie brauchen beide sofort einen Arzt.«

»Bring sie zurück in die Stadt, Artie, und hol einen Arzt«, befahl James. »Wir kommen bald nach.«

»Ich fand auch, er sah ein bißchen wie ein Wildschwein aus«, bemerkte Anthony, als Artie gegangen war, und blickte den bewußtlosen Mann an, der immer noch auf dem Fußboden lag.

»Was er auch sein mag, er hat auf jeden Fall die schlechte Angewohnheit, Leute umzubringen, die das Grundstück

betreten«,

sagte

James

voller

Abscheu.

»Ich habe so ein Gefühl, als ob er das mit Derek und mir auch vorgehabt hat.«

»Ach, und auf wessen Befehl?«

»Ashford war hier, verdammt noch mal, sonst wäre Henry nicht da«, warf Derek ein.

»Ja, aber jetzt ist er nicht mehr hier. Er muß das Mädchen

irgendwo

anders

hingebracht

haben,

als

Henry auftauchte.«

Anthony stieß den Verwalter mit der Stiefelspitze an.

»Ich wette, der weiß wohin.«

»Ich neige dazu, dir zuzustimmen«, sagte James. »Wenn Ashford einen von seinen Dienstboten ins Vertrauen gezogen hat, dann wohl diesen hier. Sollen wir ihn auf-wecken?«

»Ich hole Wasser«, erklärte Anthony und verschwand durch die Halle.

Derek war zu ungeduldig, um auf ihn zu warten. Er zog den Mann halb hoch, schüttelte ihn und schlug ihm ins Gesicht.

»Langsam, Junge«, warnte ihn James. »In ein paar Minuten haben wir ihn so weit, daß er redet.«

Derek ließ den Mann wieder zu Boden fallen und sah James verzweifelt an. »Es bringt mich um, Onkel James, daß er Kelsey jetzt schon so lange in seiner Gewalt hat; er könnte . .«

»Denk nicht darüber nach. Wir wissen ja gar nichts, bevor wir sie nicht gefunden haben, und ich verspreche dir, wir werden sie finden.«

Anthony kam zurück und goß dem Verwalter einen Eimer Wasser über den Kopf. Der Mann kam spuckend und hustend zu sich. Offenbar wußte er sofort wieder, was passiert war, denn er blickte James finster an.

James schenkte ihm ein besonders gemeines Lächeln.

»Ach, wir sind wieder wach? Nun paß gut auf, mein lie-berjunge, weil ich dir das nur einmal erkläre. Ich werde dich jetzt fragen, wo Lord Ashford ist, und wenn mir deine Antwort nicht gefällt, schieße ich dir eine Kugel in den Knöchel. Sie wird dir natürlich die Knochen zerschmettern, weil sie an dieser Stelle besonders dünn sind, aber was bedeutet das schon bei einer solchen Mißgeburt wie dir? Und dann werde ich dir dieselbe Frage noch einmal stellen. Und wenn mir die Antwort immer noch nicht gefällt, werde ich dir eine Kugel in die Kniescheibe jagen. Das wird eine sehr viel tiefere Wunde geben. Und dann gehen wir zu deinen Händen und den anderen Körperteilen über, deren Verlust dir bestimmt nicht viel ausmachen wird.

Hab ich mich klar ausgedrückt? Muß ich noch mehr erklären?«

Der Mann nickte und schüttelte fast zur gleichen Zeit den Kopf. James hockte sich nieder und richtete den Lauf seiner Pistole genau auf den Knöchel des Mannes.

»Nun, wo ist Lord Ashford?«

»Er ist unten.«

»Hier?«

Anthony zischte mißbilligend. »Verdammt, ich habe nicht geglaubt, daß er lügt, wirklich nicht.«

»Ich habe nicht gelogen«, stieß der Mann hervor.

»Ich bin unten gewesen. Da ist nur ein Keller«, sagte Anthony. »Und es gibt nur einen einzigen Ausgang, nämlich die Tür, durch die man auch hereinkommt.«

»Nein, da gibt’s noch eine andere Treppe, ich sag’s Ihnen. Wenn die Tür auf ist, sieht man sie. Wenn sie zu ist, kann man nur die Wandregale sehen. Sie ist immer zu, wenn er unten ist.«

»Zeig sie uns«, sagte James und zog den Mann auf die Füße, um ihn durch die Halle zu schubsen.

Was dann geschah, ging zu schnell, als daß sie es hätten verhindern können. Der Verwalter versuchte, vor ihnen die Kellertreppe herunterzulaufen, vielleicht, um hinter die andere Tür gelangen und sie verriegeln zu können.

Aber da Anthony einen ganzen Schwall Wasser auf ihn gegossen hatte, waren seine Schuhe so naß, daß er ausrutschte und die Kellertreppe hinunterstürzte.

Anthony lief nach unten, fühlte dem Mann den Puls und blickte dann seinen Bruder an. »Scheint sich den Hals gebrochen zu haben.«

»Verdammt«, sagte James. Jetzt müssen wir die Tür alleine finden. Schaut euch um. Sucht nach Geheimöffnungen, Rissen in der Wand oder Holzlatten, die den Türrahmen verdecken. Wenn wir sie nicht gleich finden –

zum Teufel, dann müssen wir eben die Wände einreißen.«