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»Molly?«

Langsam erwachte sie, lächelte dann aber Jason zu, als sie sich umdrehte und ihn auf ihrem Bett sitzen sah. Sie hatte nicht erwartet, ihn schon heute nacht wieder in Haverston zu sehen. Er hatte vorgehabt, in seinem Londoner Stadthaus zu übernachten, da Amys Hochzeitsempfang sicherlich lange dauern würde. Daß er nun doch da war und mitten in der Nacht in ihrem Schlafzimmer saß, war allerdings eher normal und kein Grund zur Besorgnis.

»Willkommen zu Hause, mein Schatz.«

Und das war er. Jason Malory war ihr halbes Leben lang ihr Schatz gewesen. Molly hatte es nie richtig glauben können, daß ein Mann wie der Marquis of Haverston sich in sie verliebt hatte. Aber mittlerweile zweifelte sie seine Gefühle schon lange nicht mehr an.

Im Anfang hatte er mit ihr geschäkert, wie es jeder junge Lord mit jedem hübschen Zimmermädchen tut, das unter seinem Dach lebt. Damals war er zweiundzwanzig und unverheiratet gewesen. Sie war gerade achtzehn geworden und überwältigt gewesen von seinem guten Aussehen und seinem Charme, von dem nur sehr wenige Leute etwas wußten.

Natürlich

waren

sie

diskret

vorgegangen

sogar

äußerst zurückhaltend –, weil seine jüngeren Brüder noch bei ihm wohnten und weil er meinte, ihnen ein gutes Beispiel geben zu müssen. Einmal hatte er sogar versucht, ihre Affäre zu beenden, als einer seiner Brü-

der sie beinahe entdeckt hätte. Und ver versuchte sie noch einmal zu beenden, als er sich verpflichtet fühlte, zu heiraten. Eigentlich hätte er sie wegschicken müssen, aber das konnte er natürlich nicht, nicht nach den Ver-sprechungen, die er ihr gemacht hatte.

Es gelang ihm jedoch, sich beinahe ein Jahr lang von Molly fernzuhalten. Doch dann traf er sie eines Tages, als sie allein war, und in Sekunden flammte ihre Leidenschaft wieder auf, als habe sie nicht monatelang geschlafen, was natürlich auch nicht der Fall gewesen war. Es war fast ein physischer Schmerz für sie beide, sich nicht berühren zu können, wenn sie das Bedürfnis danach hatten. Sie litten beide zu sehr unter diesen Trennungen.

Und nach dem letzten Mal hatte er ihr geschworen, daß es nie wieder vorkommen würde.

Und er hatte sein Wort gehalten. Sie war seine Frau, abgesehen vom Eheversprechen, das sie erst wirklich zu seiner Frau gemacht hätte. Er besprach seine Entscheidungen und Sorgen mit ihr. Er war zärtlich zu ihr, wenn sie alleine waren. Und er verbrachte jede Nacht mit ihr, wenn er zu Hause war, ohne Angst vor Entdeckung, da er in ihrem Zimmer eine Geheimtür angebracht hatte, die durch einen Gang zu der Tür führte, die es in seinem Zimmer bereits gab.

Da Haverston ein altes Gebäude war, gab es zahlreiche Geheimausgänge, die in politisch und religiös unsiche-ren Zeiten nötig gewesen waren. Der verborgene Ausgang im Schlafzimmer des Herrn führte über Treppen und Gänge in den Keller, wo es zwei weitere verborgene Ausgänge gab, von denen einer nach draußen und ein weiterer in die Ställe führte. Der Gang in den Keller führte auch an den Dienstbotenkammern vorbei, und es war für Jason ein Leichtes gewesen, eine Tür durchbre-chen zu lassen, durch die man direkt in ihr Zimmer gelangte. Seitdem hatten beide diesen Weg benutzt.

Jason hatte wie immer eine Lampe mitgebracht, aber es dauerte doch noch einen Moment lang, bis Molly merkte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.

Sie fuhr ihm mit der Hand über die angespannten Wan-genmuskeln. »Was ist los?«

»Frances will die Scheidung.«

Molly begriff sofort die Schwierigkeiten, die das mit sich brachte. Scheidung mochte zwar in der Unter-schicht üblich sein, aber beim Adel galt sie als etwas Unerhörtes. Daß Lady Frances, die Tochter eines Earls, die Frau eines Marquis, so etwas auch nur in Betracht zog ...

»Hat sie den Verstand verloren?«

»Nein, sie hat eine Affäre mit so einem kleinen Kerl in Bath, und jetzt will sie ihn heiraten.«

Molly blinzelte. »Frances hat einen Liebhaber? Deine Frances?«

Er nickte brummig.

Molly konnte es immer noch nicht fassen. Frances Malory war so eine furchtsame kleine Frau. Molly kannte sie wahrscheinlich besser, als ihr Ehemann sie jemals gekannt hatte, weil sie viel Zeit mit ihr verbracht hatte, wenn Frances sich in Haverston aufhielt. Sie wußte, daß Frances Angst vor Jason hatte. Seine Wutanfälle brachten die arme Frau jedesmal an den Rand der Tränen, selbst wenn sie sich nicht gegen sie richteten. Sie wußte auch, daß Frances ihren Mann wegen seiner Statur ver-abscheute – er war schließlich ein großer, stattlicher Mann –, weil er ihr damit Angst einjagte.

Molly war immer in einer unangenehmen Lage gewesen, da Frances schließlich die Dame des Hauses war und sie ihren weiblichen Geständnissen zuhören muß-

te, obwohl sie als Jasons Geliebte keinen Wert darauf legte. Einerseits war sie Frances dankbar, daß sie Jason nicht liebte. Sie hätte nicht gewußt, wie sie sonst mit ihren Schuldgefühlen fertig geworden Wäre. Andererseits hatte es sie immer geärgert, wenn Frances ohne Grund Jason lächerlich machte oder abschätzig über ihn redete. Molly konnte keinen Fehler an ihm finden.

Frances fand nur Fehler an ihm.

»Ich finde das recht ... erstaunlich«, sagte Molly nachdenklich. »Du nicht?«

»Daß sie die Scheidung will?«

»Das auch, aber mehr noch, daß sie einen Liebhaber hat. Es ist so .. nun ja, es ist gar nicht ihre Art, wenn du weißt, was ich meine. Jeder merkt doch, daß sie Männer eigentlich gar nicht mag, zumindest macht sie den Eindruck, wenn sie mit ihnen zusammen ist. Wir haben auch schon früher darüber geredet, wenn du dich erin-nerst, und wir haben sogar den Schluß gezogen, daß ihre Abneigung aus Angst vor körperlicher Liebe resul-tiert. Aber offenbar hatten wir unrecht – oder sie hat ihre Angst überwunden.«

»Ja, die hat sie wohl überwunden«, knurrte er. »Und wer weiß wie lange das schon hinter meinem Rücken vor sich gegangen ist.«

»Jason Malory, du brauchst dich nicht aufzuplustern, nur weil sie eine Affäre mit einem anderen Mann hat.

Du hast sie schließlich nie angerührt, und außerdem hast du .. «

Er unterbrach sie: »Hier geht es ums Prinzip .. «

Ungerührt warf sie ein: »So?«

Er seufzte, und sein Ärger verflog. »Du hast natürlich recht. Wahrscheinlich sollte ich mich freuen, daß Frances jemand anderen gefunden hat, aber verdammt noch mal, sie muß ihn ja nicht gleich heiraten.«

Sie lächelte ihn an. »Ich nehme an, du hast wegen des Skandals nicht die Absicht, einer Scheidung zuzustimmen. Warum regst du dich also so auf?«

»Weil sie es weiß, Molly.«

Sie schwieg. Sie brauchte keine weitere Erklärung. An seinem Gesichtsausdruck sah sie, daß er nicht von ihrer Affäre redete.

Sie hatte immer vermutet, daß Frances Bescheid wußte und sogar erleichtert darüber war, weil sie Jason nicht in ihr Bett lassen mußte. Nein, hier ging es um ihr anderes Geheimnis.

»Sie kann es nicht wissen. Sie rät nur.«

»Das macht keinen Unterschied, Molly. Sie droht damit, es Derek und dem Rest der Familie zu verraten.

Und wenn der Junge mich fragt, dann kann ich ihn nicht anlügen. Wir dachten, nur Amy wisse über uns Bescheid, weil sie damals in mein Arbeitszimmer kam, als ich dich vor ein paar Jahren an Weihnachten geküßt habe. Dieser verfluchte Punsch, den Anthony gewürzt hat, hat mich so durcheinandergebracht, daß ich die Finger nicht von dir lassen konnte.«

»Aber du hast doch mit Amy geredet, und sie hat geschworen, es niemandem zu erzählen.«

»Ja, ich bin mir sicher, daß sie das auch nicht getan hat.«

Molly geriet langsam in Panik. Sie vor allem wollte, daß ihr Geheimnis bewahrt blieb, und Jason hatte ihrem Drängen nachgegeben, weil er sie liebte. Aber seit er beschlossen hatte, Derek zu seinem offiziellen Erben zu erklären, lebte sie in der ständigen Angst, daß es dem zukünftigen

Marquis

von

Haverston

peinlich

sein

würde, wenn er wüßte, daß seine Mutter ein einfaches Stubenmädchen gewesen war. Sie wollte nicht, daß er es erfuhr. Es war schon schlimm genug, daß er illegitim war, zumindest aber nahm er an, seine Mutter sei von Adel gewesen, wenn auch etwas leichtlebig, und sie sei kurz nach seiner Geburt gestorben.

Indem sie Derek nichts sagte, hatte sie das Recht aufgegeben, ihm eine Mutter zu sein. Das war nicht leicht gewesen, aber zumindest war sie immer in seiner Nähe gewesen, hatte ihn aufwachsen sehen und wußte, daß es immer so bleiben konnte. Jason hatte ihr geschworen, daß er sie nie fortschicken würde.

Jetzt war Derek erwachsen und nur noch selten zu Hause. Ihre Gefühle jedoch hatten sich nicht geändert.

Sie wollte immer noch nicht, daß ihr Sohn sich seiner Mutter schämte. Und das würde er tun, wie sollte es anders sein? Erst nach all diesen Jahren zu erfahren, daß seine Mutter gar nicht tot war, sondern sogar die ganze Zeit über die Geliebte seines Vaters gewesen war ...

»Du hast in die Scheidung eingewilligt.«

Für sie war das keine Frage. Da alles so in der Schwebe hing, hatte er natürlich einer Scheidung zugestimmt.

»Nein«, gestand er.

»Jason!«

»Molly, hör mir bitte zu. Derek ist ein erwachsener Mann. Ich bin überzeugt davon, daß er jetzt mit der Wahrheit umgehen könnte. Ich wollte es ihm nie verschweigen, aber du hast mich dazu überredet. Da es nun einmal so ablief, war es zu spät, noch etwas daran zu ändern, vor allem nicht, als er noch jung war.

Aber jetzt ist er nicht mehr so jung und beeindruckbar.

Glaubst du nicht, er wäre glücklich, wenn er jetzt er-führe, daß seine Mutter noch lebt?«

»Nein, und das sagst du auch selbst. Es war früher zu spät, es ihm zu erzählen, und das ist es jetzt auch noch.

Ich mag ihn vielleicht nicht so gut kennen wie du, Jason, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, daß er wütend sein wird, nicht nur auf mich, sondern auch auf dich, weil du ihn angelogen hast.«

»Unsinn.«

»Denk darüber nach, Jason. Er hat nie etwas entbehrt.

Er hatte immer eine große Familie um sich. Er hatte Dutzende von Schultern, an denen er sich ausweinen konnte, als er ein Kind war. Er hatte sogar seine Cousine Regina als Spielgefährtin, nachdem deine Schwester gestorben ist. Wenn er jedoch die Wahrheit erfährt, wird er sich vorkommen, als hätte er etwas entbehrt, verstehst du das nicht? Zumindest wird seine erste Reaktion wahrscheinlich so sein. Und dann wird er sich schämen ...«

»Hör auf! Dieser Unsinn hat vielleicht vor fünfundzwanzig Jahren gegolten, aber die Zeiten haben sich geändert, Molly. Der Bürgerliche hat seinen Platz in der Gesellschaft gefunden, in der Literatur, in den Künsten

– in der Politik. Du brauchst dich wegen gar nichts zu schämen ...«

»Ich schäme mich nicht wegen mir, Jason Malory. Aber ihr Adligen seht die Dinge anders. Das habt ihr schon immer getan, und werdet es wahrscheinlich auch in Zukunft tun. Adlige wollen nicht, daß ihr edles, aristo-kratisches Blut mit dem eines Bürgerlichen vermischt wird, zumindest nicht bei ihren Erben. Und du bist das beste Beispiel dafür. Bist du nicht hingegangen und hast die Tochter eines Earls geheiratet, eine Frau, die du kaum ertragen konntest, nur um Derek eine Mutter zu geben, während seine wirkliche Mutter in deinem Bett schlief?«

Sie hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als sie ihn schon bereute. Sie wußte, daß er sie nicht heiraten konnte. Es ging einfach nicht. Und sie hatte sich nie bei ihm darüber beklagt, sondern einfach akzeptiert, was er ihr geben konnte, ihren Platz in seinem Leben akzeptiert. Und als er Frances heiratete, hatte sie sich gelobt, daß er nie erfahren sollte, wie sehr sie davon verletzt worden war. Sie hatte gehofft, er wür-de nie erfahren, wie sehr sie es immer wieder bedauerte, daß sie nie wirklich seine Frau sein konnte.

Aber nach einer dummen, gedankenlosen Bemerkung wie dieser ...

Bevor er ihr antworten konnte, fuhr sie in dem Bestre-ben, ihn abzulenken, fort: »Frances ist offenbar entschlossen, so oder so einen Skandal zu verursachen, Jason, und da das eine nicht schlimmer ist als das andere, weck bitte keine schlafenden Hunde. Ihr habt die meiste Zeit eurer Ehe getrennt gelebt. Jeder weiß das.

Glaubst du denn wirklich, daß man sich dann besonders darüber aufregt, wenn ihr euch scheiden laßt? Ich könnte mir vorstellen, daß die meisten deiner Freunde lediglich sagen: ›Es überrascht mich, daß ihr das nicht eher getan habt.‹ Sag ihr, daß du deine Meinung geändert hast.«

»Ich habe ihr noch keine definitive Antwort gegeben«, entgegnete er mürrisch. »Schließlich muß ich über eine solche Entscheidung ja nachdenken.«

Molly seufzte erleichtert. Sie kannte ihren Liebsten nur zu gut. An seinem Tonfall merkte sie, daß er sich ihrer Argumentation

angeschlossen

hatte.

Sie

wußte

nicht

genau, welches Argument nun ausschlaggebend gewesen war, aber sie wollte es auch gar nicht wissen – solange ihr Geheimnis gewahrt blieb.