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Als es an Kelseys Tür zu ihrem Zimmer im Gasthaus klopfte, öffnete sie und erwartete, Derek zu sehen, nicht seinen Vater. Es war jedoch definitiv sein Vater; Jason Malory stellte sich sofort vor und ließ keinen Zweifel daran. Er marschierte auch gleich ohne Auffor-derung durchs Zimmer zu der kleinen Sitzgruppe. Mit seiner beachtlichen Größe und seinem finsteren Gesichtsausdruck schüchterte er Kelsey jedoch so ein, daß sie ihn nicht darauf hinwies.
Sie sagte rasch: »Derek ist nicht hier«, und hoffte, er würde wieder gehen.
Das tat er aber nicht. Und sie war so eingeschüchtert von seiner Gegenwart, daß ihr erst später auffiel, daß sie das nicht hätte sagen dürfen. Aber offensichtlich wußte er Bescheid.
»Ich weiß, er ist in Haverston«, entgegnete er. »Ich habe mir gedacht, daß Sie sich in der Nähe aufhalten, wo er so vernarrt in Sie ist, und das hier ist das nächste Gasthaus.«
Errötend fragte sie: »Dann wollten Sie also mit mir reden?«
»In der Tat«, erwiderte er. »Ich möchte von Ihnen hö-
ren, was Sie zu diesem Unsinn sagen.«
»Welchen Unsinn meinen Sie?«
»Daß Derek Sie heiraten will.«
Kelsey schnappte nach Luft. »Das hat er Ihnen gesagt? «
»Er hat es der ganzen Familie gesagt.«
Kelsey tastete nach dem nächsten Sessel und ließ sich hineinfallen. Konnte man vor Scham im Boden versin-ken? Es kam ihr so vor.
»Das hätte er nicht tun sollen«, flüsterte sie.
»Da stimme ich Ihnen zu – und warum denken Sie so?«
»Weil es, wie Sie sagten, Unsinn ist. Ich habe nicht die Absicht, ihn zu heiraten. Das habe ich ihm auch er-klärt.«
»Ja, das erwähnte er. Und ich möchte gerne wissen, wie ernst es Ihnen mit Ihrer Ablehnung ist. Er wird den Gedanken nämlich nicht fallenlassen.«
»Wenn das Ihre einzige Sorge ist, Lord Malory, dann kann ich Sie beruhigen. Mir ist klar, welchen Skandal eine solche Heirat auslösen würde, und ich möchte nicht nur Derek davor bewahren, sondern auch meine Familie.«
»Ihre Familie?« Er runzelte die Stirn. »Ich wußte nicht, daß Sie Familie haben. Um wen handelt es sich?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Kelsey. »Sie sollen lediglich wissen, daß meine Familie mir alles bedeutet. Ich bin in dieser Lage, weil ... nun ja, auch das spielt keine Rolle, aber als ich tat, was ich nun mal getan habe, wußte ich, daß ich niemals würde heiraten können. Es muß Ihnen genügen, wenn ich Ihnen sage, daß ein solcher Skandal meiner Familie genausoviel Schaden zufü-
gen würde wie Ihrer, und ich habe nicht die Absicht, das geschehen zu lassen.«
Jasons Gesichtszüge entspannten sich beträchtlich. Er sah sogar irgendwie verlegen aus.
»Ich beginne zu verstehen«, sagte er barsch. »Und es tut mir sehr leid, daß es keine andere Lösung gibt. Ich habe das Gefühl, sie würden eine hervorragende Frau für Derek abgeben, wenn es Ihnen möglich wäre, ihn zu heiraten.«
»Danke. Ich werde mich bemühen, ihn glücklich zu machen – ohne Heirat.«
Jason seufzte. »Ich hätte meinem Sohn nie gewünscht, daß er in die gleiche Lage gerät wie ich – aber ich freue mich, daß Sie ihm nahestehen.«
Das war das netteste Kompliment, das er ihr machen konnte. Damit verabschiedete er sich, um ihnen beiden weitere Peinlichkeiten zu ersparen, und eilte davon, wahrscheinlich, weil er Derek nicht begegnen wollte.
Sie dachte jedoch, daß Derek seinen Vater in der Halle gesehen haben mußte, als es nur ein paar Minuten spä-
ter wieder an die Tür klopfte.
Wieder stand jedoch nicht Derek davor, und auch Jason hatte nicht beschlossen, noch länger mit ihr zu reden.
Dieses Mal war es Dereks Mutter. Kelsey wußte das zunächst natürlich noch nicht, aber dann fiel ihr auf, wie ähnlich sie sich sahen, wie ähnlich sie lächelten, und wie besorgt die Frau war.
»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie zu dieser späten Stunde störe, Miss Langton«, begann die Frau.
»Kennen wir uns?«
»Nein, ich wüßte nicht.« Die Frau lächelte. Ich bin Molly Fletcher, die Haushälterin auf Haverston. Ich habe gerade erst von Ihnen erfahren, und Derek hat gerade erst von seinem Vater und mir erfahren – und, nun, ich möchte ihn sprechen.«
Kelsey war zornig errötet. Offenbar war Dereks verdammte Ankündigung bereits bis zu den Dienstboten vorgedrungen, aber ...«
»Sie und sein Vater?« Kelsey wußte die Antwort, noch bevor sie die Frage gestellt hatte. »Oh, es tut mir leid.
Sie brauchen mir nichts zu erklären. Aber Derek ist leider nicht hier.«
»Nicht? Ich sah, wie er Haverston verließ und dachte natürlich, er ginge zu Ihnen.«
»Und Sie nahmen an, ich sei in der Nähe?«
»Ja, sicher, warum?«
Kelsey schüttelte erstaunt den Kopf. Reisten alle Männer mit ihren Mätressen? Oder war das nur bei den Malorys so üblich?
»Nun, wenn er nicht auf Haverston ist, habe ich keine Ahnung, wo er sein könnte.«
»Vielleicht wollte er allein sein«, sagte Molly und rang die Hände. »Das habe ich befürchtet. Das hat er als Kind schon immer getan, wenn er sich aufgeregt hatte.
Er verschwand, um alleine zu grübeln.«
»Warum sollte er sich aufgeregt haben?« fragte Kelsey.
»Er war ganz verrückt vor Neugier und wollte unbedingt erfahren, wer Sie sind, das heißt, wer seines Vaters ... nun, ich könnte mir vorstellen, daß er jetzt erleichtert ist.«
»Er sollte es gar nicht erfahren, Miss Langton. Er hätte es nie erfahren dürfen. Aber da er es jetzt schon einmal weiß, möchte ich nicht, daß er schlecht von mir denkt.«
Kelsey runzelte die Stirn, sie verstand die Besorgnis der Frau nicht ganz. »Das wäre etwas übertrieben, meinen Sie nicht?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Molly. »Es gibt noch andere Faktoren ... aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich werde warten und an einem anderen Tag mit ihm sprechen.« Damit verabschiedete auch sie sich.
Als es das nächste Mal an die Tür klopfte, nahm Kelsey erst gar nicht mehr an, daß es Derek wäre. Er war es jedoch, und er hielt einen Arm hinter seinem Rücken versteckt. Als er ihn vorzog, hielt er ihr einen wunderschö-
nen Strauß Rosen entgegen.
Sie lächelte erfreut. »Du meine Güte, wo hast du die denn um diese Jahreszeit her?«
»Ich habe das Gewächshaus meines Vaters geplündert.«
»O Derek, das hättest du nicht tun sollen.«
Er grinste und nahm sie in die Arme. »Er wird sie nicht vermissen, er hat Hunderte der verschieden-sten Sorten. Ich dagegen habe dich heute ganz bestimmt vermißt.«
Kelsey runzelte die Stirn, weil ihr ihre anderen Besucher einfielen. »Es überrascht mich, daß du die Zeit dazu gefunden hast, wo doch der Tag so ereignisreich für dich war.«
Er blickte sie mißtrauisch an. »Woher weißt du, daß er ereignisreich war?«
»Dein Vater war hier.«
Er ließ sie los und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Verdammt! Er hat dich doch nicht aufgeregt, oder?«
»Nein. Warum sollte die Tatsache, daß du deiner ganzen Familie von uns erzählt hast, mich aufregen?
Dein Vater wollte sich nur versichern, daß ich dich bestimmt nicht heirate.«
»Verdammt«, sagte Derek noch einmal.
Und noch bevor er ihre Mitteilung ganz verdaut hatte, fügte
sie
hinzu: »Deine
Mutter
war
auch
hier.«
»Meine Mutter? «
»Ja, sie machte sich Sorgen, du könntest dich über das aufgeregt haben, was du heute abend herausgefunden hast.«
»Herausgefunden? Oh, du redest von Molly! Aber sie ist nicht ... meine ... Nein! Das kann nicht sein. Er hat mir erzählt, meine Mutter sei tot!«
Kelsey wurde blaß, als sie. das hörte. »O Derek, es tut mir so leid. Ich nahm an, du wüßtest, wer deine Mutter ist, und hättest nur nicht gewußt, daß sie immer noch die Mätresse deines Vaters ist. Bitte, es war ja auch nur eine Vermutung – und wahrscheinlich stimmt es ja auch nicht. Sie hat nicht gesagt, sie wäre deine Mutter.«
»Nein, das würde sie nie tun. Ich sollte es offenbar nicht erfahren. Aber jetzt sehe ich alles ganz klar. Sie ist meine Mutter – na gut. Und beide sollen sie verdammt sein, daß sie es mir verheimlicht haben!«