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Sie hielten vor einem Landgasthof in Newbury, um zu Mittag zu essen. Derek war schon oft hier gewesen, seit er den Besitz in Bridgewater übernommen hatte. Er wußte, daß das Haus sauberer war als die meisten anderen und daß vor allem das Essen ausgezeichnet war.
Und vor allem verfügte der Gasthof über ein privates Speisezimmer für die Gäste, die es vorzogen, sich nicht unter die Einheimischen zu mischen; der Raum war so teuer, daß sich nur der Adel leisten konnte, ihn zu mieten. Außerdem wollte Derek, da er Kelseys Manieren noch nicht kannte, lieber nicht in Gesellschaft anderer feststellen, ob sie wie ein Schwein aß.
Ihre Tischmanieren erwiesen sich jedoch als untadelig.
In diesem Punkt würde er sich nie Gedanken machen müssen, wenn sie mit seinen Bekannten zu Abend essen sollten. Und er sah keinen Grund, sie völlig im verbor-genen zu halten, wenn er ihr in London eine Wohnung eingerichtet hatte. Es gab viele Orte, an die man eine Mätresse mitnehmen konnte, ohne Angst davor haben zu müssen, Damen aus den eigenen Kreisen zu begegnen, die sich durch eine Frau aus Kelseys Schicht und von ihrem Gewerbe beleidigt fühlen würden.
In der Kutsche hatte er sie eine Zeitlang gemustert, während sie so tat, als merke sie es nicht. Sie hätte die Tochter eines Herzogs sein können, so aufrecht, wie sie dasaß. Ihre Kleider waren zwar nicht teuer, wären aber für die Reise bei jeder Dame passend gewesen.
Ihre Kleidung hatte ihn überrascht, als sie die Treppe heruntergekommen war. Er hatte nicht erwartet, daß sie so wenig Ähnlichkeit mit einer Mätresse haben würde, noch dazu so früh am Morgen. Er würde ihr geeigne-tere Kleider kaufen müssen, wenn sie sonst nichts im Koffer hatte.
Auch ihre tadellose Ausdrucksweise machte ihn fas-sungslos. Sie redete gewählter als die meisten Mitglieder der Gesellschaft, die häufig, wie auch er, halbe Sätze verschluckten.
Dazu kam noch, daß Kelsey im Tageslicht eine Offen-barung war. Sie kam ihm viel hübscher vor als am Abend zuvor, wo sie vor lauter Nervosität so steif und verschreckt gewirkt hatte. Ihre Haut war makellos milchweiß, wodurch ihr Erröten nur noch deutlicher auffiel. Sie hatte schmale, geschwungene Augenbrauen über leicht mandelförmigen Augen, die durch dichte, schwarze
Wimpern
noch,
ausdrucksstärker
wurden.
Hohe
Wangenknochen
betonten
eine
schmale
Nase
und ein zartes Kinn.
Ihre schwarzen Haare waren von Natur aus gelockt, so daß sie nur wenig Mühe hatte, sie elegant zu frisie-ren. Heute trug sie sie hochgesteckt um den Kopf, der von schmeichelnden Strähnen und kleinen Löckchen umgeben war. Und diese sanften grauen Augen, die so sprechend dreinschauen konnten – voller Unschuld, zornig oder verwirrt. Er fragte sich unwillkürlich, wieviel von dem, was er in ihnen sah, wohl wahren Empfindungen entsprach, und was kunstvolle Verstellung war.
Tatsächlich, er fand sie faszinierend, daran bestand kein Zweifel. Es war ihm schrecklich schwergefallen, in der vergangenen Nacht
einzuschlafen,
während
er
daran
dachte, daß sie unter dem gleichen Dach wie er lag und schlief wie ein Baby. Das hatte ihn auch geärgert. Dabei hatte sie nicht einmal wach gelegen und auf seinen Besuch gewartet, weil sie nicht gewußt hatte, daß sie in dem Haus des Mannes war, der sie gekauft hatte. Sie hatte gedacht, es sei Jeremy gewesen.
Derek war sich noch nicht ganz im klaren darüber, was er mit seiner Reaktion auf diese Eröffnung anfangen sollte. Er kannte das Mädchen doch kaum. Daß sie ihm gehörte, war kein Grund, Eifersucht zu spüren –
zumindest nicht jetzt schon. Und auch noch wegen Jeremy.
Sicher, sein Vetter hatte kein Hehl daraus gemacht, daß er sie gerne für sich gehabt hätte. Und sie hatte offen zugegeben, daß sie ihn äußerst gutaussehend fand. Na-türlich hätte er sofort gewußt, daß sie log, wenn sie etwas anderes gesagt hätte. Alle Frauen fanden, daß Jeremy
äußerst
gut
aussah.
Und
es
hatte
schon
geschmerzt, als sie versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß sie ihn vorziehen würde, weil er wußte, daß das eine Lüge war.
Nun, er würde schon damit fertigwerden. Schließlich wollte er gar nicht, daß sie sich in ihn verliebte und anfing, über einen Hausstand und Kinder nachzudenken. Das entsprach wohl kaum den Dingen, die ein Mann von seiner Geliebten wollte. Und er konnte nicht leugnen, daß er sie begehrte, nach dem, was in der Kutsche passiert war.
Ihr Mangel an Raffinesse, gerade in dieser seltsamen Mischung mit ihrer Leidenschaftlichkeit, hatte dazu ge-führt, daß sein Begehren fast außer Kontrolle geriet. Er konnte es immer noch kaum glauben, wie sehr er sie in der Kutsche begehrt hatte, und wie lange er gebraucht hatte, um das Verlangen, sie auf der Stelle zu nehmen, unter Kontrolle zu bringen.
Lust. Das richtige Gefühl einer Mätresse gegenüber, wie er zugeben mußte, und so war er auch nicht allzu mißvergnügt. Sie mochte Jeremy vorziehen und wünschen, er hätte sie gekauft, aber was Derek anging, so war ihre körperliche Reaktion mehr als zufriedenstellend gewesen.
Noch ganz mit diesen Gedanken beschäftigt, während sie ihr Mahl beendeten, bemerkte Derek mehr zu sich selbst: »Ich bin wirklich versucht, hier ein Zimmer zu mieten. Aber ich habe das Gefühl, wir brauchen beim erstenmal mehrere Stunden, um uns zu lieben, und dann kämen wir zu spät in Bridgewater an, um dich unterzubringen ... Warum wirst du rot?«
»Ich bin an solche Gespräche nicht gewöhnt.«
Er schmunzelte. Daß sie ständig Unschuld heuchelte, amüsierte ihn. Er war gespannt darauf, zu erfahren, wie sie es anstellen wollte, den Schein zu wahren, wenn sie das erste Mal miteinander schliefen. Aber das würde er ja heute Nacht herausfinden. Und das war ein äußerst angenehmer Gedanke.
»Mach dir darüber keine Gedanken, meine Liebe. Du wirst dich noch früh genug daran gewöhnen.«
»Hoffentlich«, erwiderte sie. »Sonst brauche ich nämlich leichtere Kleidung – bei dem ständigen Erröten wird mir ziemlich warm.«
Er brach in Lachen aus. »Und ich dachte, das läge an mir.«
»Hier, sehen Sie«, sagte sie, errötete schon wieder und fächelte sich mit der Hand Kühlung zu. »Es könnte fast Sommer sein, so warm ist mir.«
»Ich vermute, im Sommer wird es uns schwerfallen, dir noch ein Erröten abzuringen«, erwiderte er trocken, obwohl ihm klar war, daß das nicht der Fall sein würde, wenn sie, so wie jetzt, auf Befehl erröten konnte. Er verspürte jedoch kein Verlangen, ihre Verstellung zu entlarven, da sie ihn so erheiterte. »Sollen wir jetzt aufbrechen, bevor ich meine Meinung ändere und doch ein Zimmer miete?«
Sie schoß zwar nicht gerade ihrem Stuhl empor und rannte zur Tür, aber sie war nahe daran, und es war auch nur zu offensichtlich, daß sie genau das am liebsten getan hätte. Derek schüttelte den Kopf, während er ihr folgte. Seltsames Mädchen. Hätte er es ernstgenom-men, wäre er wirklich verwirrt gewesen. Aber er war schon mit zu vielen raffinierten Frauen zusammenge-wesen, um zu wissen, daß dies alles zum Spiel gehörte, diese kleinen Kunstgriffe, die dazu dienten, die Männer zu amüsieren – ohne sie zu täuschen oder ihnen einen falschen Eindruck vermitteln zu wollen.
Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie endlich das kleine Pächterhaus, das auf Dereks Besitz lag. Es bestand aus einem großen Zimmer mit einer Küche daneben, einem Eßtisch in der Mitte und einem kleinen Bereich auf der anderen Seite, der als Salon gelten konnte, weil ein großer Sessel darin stand. Hinten gab es ein Schlafzimmer mit einem winzigen Badezimmer, in dem ein Bottich als Badewanne stand. Das Haus war nie mo-dernisiert worden.
Das Cottage war spärlich möbliert und im Moment ziemlich schmutzig, da es lange leergestanden hatte.
An der Wand über dem Ausguß hingen einige ver-rostete Kochtöpfe, es gab einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, über den großen Sessel war ein ver-staubtes Laken gebreitet, und im Schlafzimmer stand lediglich ein unbezogenes Bett. Ein Schrank war nicht vorhanden. Aber das Haus war solide gebaut und in gutem Zustand. Es mußte nur einmal gründlich gereinigt werden und würde dann mit ein paar notwendigen
Einrichtungsgegenständen
ganz
gemütlich
wirken.
Derek seufzte wegen des unwohnlichen Zustands, und ging dann nach draußen, um Holz aus einem kleinen Schuppen zu holen. Er entzündete ein Feuer, klopfte sich den Staub von den Händen und wandte sich dann erwartungsvoll an Kelsey.
»Ich muß rasch ins Gutshaus hinüber«, sagte er zu ihr,
»um Bescheid zu gehen, daß ich da bin. Mir wäre es lieber, daß man nicht weiß, wer du bist und warum du hier bist, deshalb sollten dich so wenig Leute wie möglich sehen. Ich habe noch nie zuvor eine Frau hierhergebracht, weißt du, und wenn das Personal es erfährt, wird es hochgezogene Augenbrauen geben – auch mein Vater wird es erfahren, was ich lieber vermeiden möchte.
Aber ich lasse dir Bettzeug und andere Sachen hinüber-bringen und ich werde selbst auch so schnell wie möglich zurückkommen. Kannst du eine Weile alleine hierbleiben?«
»Natürlich«, erwiderte Kelsey.
Er lächelte sie strahlend an, offensichtlich erfreut darü-
ber, daß sie sich nicht über die Umgebung beklagte.
»Großartig. Vielleicht sollten wir im Ort zu Abend essen, wenn ich zurück bin? Es gibt einige hervorragende Restaurants hier, soweit ich mich erinnere, und er ist nur eine Meile entfernt.« Dann trat er zu ihr, während sie am Tisch saß, beugte sich über sie und gab ihr einen kurzen Kuß. »Ich freue mich auf heute abend, meine Liebe. Ich hoffe, du auch.«
Prompt errötete sie, aber er war schon weg. Kelsey seufzte, als sich die Tür hinter ihm schloß. Heute abend? Nein, sie freute sich nicht im mindesten darauf.
Um sich abzulenken, erkundete sie den Schuppen und entdeckte zwei Körbe, den einen voll mit zerbroche-nem Geschirr und den anderen voller Lumpen.
Sie nahm die Lumpen, entstaubte die wenigen Möbelstücke und wischte über die Fenster und die leeren Küchenschränke. Viel mehr allerdings konnte sie ohne Seife und Besen nicht machen. Bald schon war sie fertig und wartete auf Dereks Rückkehr und die Ankunft der Dinge, die sie brauchte, um das Cottage wohnlich zu machen.
Die Dämmerung brach jedoch rasch herein, und das letzte Tageslicht schwand. Kelsey hatte die kurze Zeit auf Dereks Schoß in der Kutsche wesentlich bequemer gesessen als den Rest des Tages auf dem Platz ihm gegenüber. Sie hatte gewußt, daß er sie beobachtete, und sich gefragt, was er wohl dachte. Das war ziemlich anstrengend gewesen. Deshalb schlief sie bei der Wärme des Feuers im Sessel ein, nur mit dem Laken zugedeckt.
Niemand kam vorbei.