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Das Stadthaus war reizend, aber Kelsey nahm lieber nicht an, daß es ihr neues Zuhause sein sollte. Sie nahm lieber gar nichts mehr an. Und wenn es wirklich ihr neues Zuhause werden würde, dann besänftigte sie die Tatsache, daß es so hübsch und geschmackvoll eingerichtet war, auch nicht. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch etwas besänftigen konnte nach den fünf schrecklichen Tagen, die hinter ihr lagen.

Dereks Kutscher war heute morgen, als Kelsey gerade zu ihrem täglichen Marsch in die Stadt aufbrechen wollte, in aller Frühe aufgetaucht. Sie dachte, er brächte ihr Nachricht von Derek, aber nein, der Mann sagte nur, er sei gekommen, um sie nach London zu bringen.

Keine Nachricht von Derek. Keine Erklärung, warum er sie fünf Tage lang einfach im Stich gelassen hatte. Der Kutscher konnte ihr nichts anderes mitteilen. Ihm war nur aufgetragen worden, wo er sie abholen und wohin er sie bringen sollte.

Sie packte rasch ihre Sachen zusammen, und zwar alles, einschließlich

der

wenigen

lebensnotwendigen

Dinge,

die sie sich selbst hatte kaufen müssen, nur für den Fall, daß die neue Unterkunft sich als genauso spartanisch wie das Cottage herausstellen sollte. Zuerst aber bat sie den Kutscher, sie nach Bridgewater zu fahren, damit sie die letzten Kleider, deren Fertigstellung sie übernommen

hatte,

vertragsgemäß

abliefern

konnte.

Glückli-

cherweise war sie in der Nacht zuvor mit der Arbeit daran fertig geworden. Die ersten fünf Kleider hatte sie in nur drei Tagen genäht, obwohl sie furchtbar erkältet gewesen war. Sie wußte, daß sie erst wieder Geld bekommen würde, wenn die Kleider fertig waren. Die Schneiderin war jedoch mit ihrer Arbeit so zufrieden gewesen, daß sie ihr auch die restliche Bestellung der Dame in Auftrag gegeben hatte, weitere drei Kleider für weitere zwei Pfund.

Jetzt besaß sie also zumindest etwas Geld. Sie bezahlte sogar ihr Mittagessen selbst, als der Kutscher gegen Mittag vor einem Gasthaus hielt – und noch etwas zusätzliches Essen zum Mitnehmen, schließlich konnte man nie wissen. Nachdem sie am ersten Tag, als sie allein gewesen war, eine solche Panik empfunden hatte, würde es einige Zeit dauern, bis sie sich keine Sorgen mehr darü-

ber machte, wo ihre nächste Mahlzeit herkommen würde.

Derek Malory hatte ihr auf jeden Fall viel zu erklären, und Kelsey hoffte nur, ihr Temperament so lange zügeln zu können, bis er ihr alles gesagt hatte. Den ganzen Weg nach London hatte sie darüber nachgegrü-

belt, und als sie am späten Nachmittag endlich angekommen waren, schmerzte ihr ganzer Körper von der Anspannung. Hinzu kamen die Erkältung und das Fieber, das sie immer noch hatte, und die Tatsache, daß weder Derek noch sonst jemand zu ihrer Begrüßung anwesend war. Alles zusammen machte sie noch reizbarer als vorher.

Es war ungefähr noch eine Stunde lang hell, so daß sie das Stadthaus erkunden konnte. Der Kutscher hatte ihr lediglich den Kamin angezündet und war dann wieder weggefahren. Für den Abend gab es große Lampen und Kerzen.

Nach gesellschaftlichen Maßstäben war es kein großes Stadthaus, aber jedes der sieben gemütlichen Zimmer bot genügend Raum, und es lag in einer hübschen Gegend mit einem kleinen Park in der Nähe. Es gab eine separate Küche mit einem Schlafzimmer für ein oder zwei Dienstboten direkt daneben – es enthielt zwei schmale Betten –, ein Eßzimmer mit einem Tisch, der groß genug war für sechs Personen, einen Salon, ein kleines

Arbeitszimmer

und

im

Obergeschoß

zwei

Schlafzimmer.

Die Tatsache, daß es so vollständig eingerichtet war, sogar mit einer Bücherwand im Arbeitszimmer, Schnick-schnack auf den Tischen, ausreichend Bett– und Tisch-wäsche und Vorräten in der Küche führte sie zu der Annahme, daß das Haus jemandem gehörte. Viele Herren

vermieteten

ihre

Stadthäuser

für

lange

Zeit,

während sie auf dem Kontinent waren oder auf ihren Landsitzen gebraucht wurden. Aber sie stellte schon wieder Vermutungen an, was sie doch eigentlich nicht mehr hatte tun wollen.

Von dem größeren Schlafzimmer kam man in ein modernes, voll ausgestattetes Badezimmer, und Kelsey beschloß sofort, daß es ihres sei – falls sie hierbleiben würde. Nachdem sie mit ihrem Erkundungsgang fertig war, nahm sie ein Bad. Die unbequeme Badewanne im Cottage war alles andere als zufriedenstellend gewesen

– sie hatte das Wasser selbst erhitzen und hinschleppen müssen. Dieses Badevergnügen jedoch war wunderbar, allerdings dehnte sie es nicht unnötig aus, da sie nicht wußte, wann Derek kommen würde.

In der Küche gab es keine frischen Nahrungsmittel, deshalb aß sie das, was sie aus dem Gasthaus mitgenommen hatte. Sie hätte auch etwas von den Vorräten nehmen können, aber sie hatte keine richtige Lust zum Kochen, zumal ihr Fieber wieder, wie jeden Abend, etwas gestiegen war. Hoffentlich wurde sie die Erkältung jetzt, wo sie wieder in London war, endlich los. Die langen Märsche nach Bridgewater jeden Tag in der eisigen Luft, einmal sogar im Regen, hatten es nicht zugelassen, daß es ihr besserging.

Das Fieber schließlich ließ sie auf der Couch im Salon einschlafen – das Fieber, das reichliche Essen, das heiße Bad und das warme, gemütliche Feuer. Als jedoch die Haustür geöffnet wurde, wachte sie auf und fand noch genug Zeit, sich aufzusetzen, bevor Derek auf der Schwelle stand. Allerdings hatte sie nicht mehr genug Zeit, wach auszusehen.

Sie konnte kaum die Augen offenhalten; ihre Haarna-deln hatten sich gelöst, und die Haare fielen ihr über die Schultern; ihre Nase lief, wie gewöhnlich, und sie schneuzte sich gerade mit Nachdruck in das Taschen-tuch, das sie ständig in der Hand hielt, als er auch schon da war. Du lieber Himmel, sie hatte ganz vergessen, wie gut er aussah, vor allem, wenn er so offizielle Kleidung trug wie jetzt. Das Fest, von dem er gerade kam oder zu dem er später gehen wollte, mußte etwas ganz Besonderes sein, da er so elegant war.

»Hallo, Kelsey, meine Liebe«, sagte er mit zärtlichem Lächeln. »Es ist noch ein bißchen früh zum Schlafen.

War die Reise so anstrengend?«

Sie nickte, dann schüttelte sie den Kopf. Du meine Güte, sie sollte jetzt besser nicht so verschlafen sein.

»Ich wäre schon eher hier gewesen«, fuhr er fort und kam auf sie zu. »Aber meine ganze Familie war auf dem Hochzeitsempfang, von dem ich gerade komme, und es war ziemlich schwierig, unauffällig zu verschwinden.

Was ist übrigens mit deiner Nase los?«

Sie blinzelte. Automatisch fuhr sie sich mit der Hand an die Nase, und als sie spürte, wie rauh sie war, konnte sie sich denken, was er meinte. Sie hatte sich so daran ge-wöhnt, im Cottage keinen Spiegel zu haben, daß sie hier noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen war, in einen hineinzublicken, aber sie konnte sich vorstellen, wie ihre Nase aussah.

»Ich habe eine Erkältung«, begann sie, wobei bei der bloßen Erwähnung dieser Tatsache ihre Benom-menheit wachsendem Ärger wich. »Stellen Sie sich nur vor! Eine Erkältung, die ich mir geholt habe, weil ich jeden Tag nach Bridgewater wandern mußte. Sie fragen jetzt vielleicht, warum ich so etwas Dummes getan habe, wo es doch so kalt ist? Nun, ich war am Verhungern, wissen Sie, und da es im Cottage nichts zu essen gab, und auch von nirgendwoher wundersamerweise etwas aufgetaucht ist, war ich gezwungen, auf das einzige Transportmittel zurückzugreifen, über das ich verfügte, nämlich meine Füße, um mir etwas zu essen zu besorgen. Natürlich hatte ich auch kein Geld, also mußte ich mir eine Arbeit suchen, damit ich nicht verhungerte.«

Er erstarrte bei dem bitteren Sarkasmus ihrer Worte, aber lediglich ihre Bemerkung über Arbeit blieb ihm im Gedächtnis haften. Arbeiten bei jemanden ihres Schlages hieß für ihn, daß sie ihre Gunst verkauft hatte.

Und dieser Gedankengang wurde offenkundig, als er scharf fragte: »Und was für eine Arbeit hast du in Bridgewater gefunden?«

Es machte sie wütend, daß ihn nur das interessierte, nach allem, was sie gesagt hatte, und so zischte sie ihn an: »Nicht, was Sie denken! Und wenn schon? Hätten Sie es vorgezogen, daß ich verhungere?«

Da sie ihn offenbar irgendeines Versäumnisses beschul-digte, verteidigte er sich. »Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, wovon du redest«, schnarrte er. »Wie kannst du dem Verhungern nahe gewesen sein, wenn ich dir Nahrungsmittel für mehrere Wochen habe schicken lassen? Und mein Kutscher stand auch zu deiner Verfü-

gung, also war es absolut unnötig, jeden Tag zu Fuß irgendwo hinzugehen, es sei denn, du tatest es freiwillig.«

Sie starrte ihn ungläubig an. Entweder litt er an Gedächtnisschwund oder er log. Und was wußte sie eigentlich über ihn, um sicher zu sein, daß er kein Lügner war? Er hatte recht nett gewirkt. Er hatte sich freundlich

benommen.

Aber

das

konnte

natürlich

auch nur Verstellung gewesen sein, damit sie keinen Verdacht schöpfte, und in Wirklichkeit genoß er es, Menschen zu demütigen, und sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Und wenn das stimmte, war sie in einer viel gräßlicheren Lage, als sie angenommen hatte, denn wegen der Versteigerung war sie an ihn gebunden, bis er beschloß, ihre Beziehung zu beenden.

Die Möglichkeit, daß er so grausam sein könnte, machte sie so wütend, daß sie aufsprang und alles nach ihm warf, was ihr in die Finger geriet, wobei sie bei jedem Wurf schrie: »Mir ist kein Essen geschickt worden! Ihr Kutscher ist nicht aufgetaucht bis auf heute! Und wenn Sie denken, Sie könnten mich täuschen und verwirren, indem Sie das Gegenteil behaupten, dann ...«

Weiter kam sie nicht, da er nicht stehenblieb und sich weiter mit Gegenständen bewerfen ließ. Dem ersten wich er geschickt aus, der zweite flog über seinen Kopf, weil er sich bückte und auf sie zusprang, sie auf die Couch warf und sich selbst auf sie fallen ließ.

Als sie wieder zu Atem gekommen war, kreischte sie:

»Lassen Sie mich los, Sie ungeschickter Klotz!«

»Mein liebes Kind, die Lage, in der du dich jetzt be-findest, hat nichts mit Ungeschicklichkeit zu tun. Ich kann dir versichern, ich habe sie absichtlich herbei-geführt.«

»Stehen Sie trotzdem auf!«

»Damit du deinen Wutanfall zu Ende führen kannst?

Nein, nein. Gewalt wird kein fester Bestandteil unserer Beziehung werden. Ich könnte schwören, daß ich das schon einmal erwähnt habe.«

»Und wie nennen Sie es, mich so zu zerquetschen?«

»Vorsicht.« Er schwieg, und seine Augen wurden grü-

ner, als er auf sie hinabblickte. »Andererseits würde ich es auch ganz nett nennen.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Falls Sie daran denken sollten, mich zu küssen, würde ich Ihnen das nicht raten«, warnte sie ihn.

»Nein?«

»Nein.«

Er seufzte. »Ach, nun ja. »Dann fügte er mit halbem Grinsen hinzu: »Ich höre nicht immer auf gute Ratschläge.«

In ihrer Lage konnte sie ihn nicht davon abhalten, sie zu küssen, zumal er sie mit der Hand daran hinderte, ihren Kopf wegzudrehen.

Aber seine Lippen streiften die ihren nur sekundenlang, dann zuckte er zurück, als habe er sich ver-brannt. Und tatsächlich hatte er die Hitze ihres Fiebers gespürt.

»Du lieber Himmel, du bist ja wirklich krank. Du glühst ja förmlich. Bist du beim Arzt gewesen?«

»Womit in Gottesnamen hätte ich einen Arzt bezahlen sollen?« fragte sie erschöpft. »Ich habe mit meiner Näherei gerade genug Geld verdient, um mir etwas zu essen zu kaufen.«

Bei ihren Worten wurde er rot vor Ärger, sprang auf die Füße und herrschte sie an: »Ich verlange eine Erklärung! Bist du ausgeraubt worden? Ist das Cottage mit allem, was darin war, niedergebrannt? Warum hattest du nichts zu essen, wo ich dir doch genug habe schicken lassen?«

»Das behaupten Sie, aber da nichts gekommen ist, würde ich sagen, Sie haben mir nichts geschickt.«

Er richtete sich auf. »Bezichtige mich nicht der Lüge, Kelsey. Ich weiß nicht, was mit den Vorräten geschehen ist, die zum Cottage gebracht werden sollten, aber ich werde es herausfinden. Und ich habe tatsächlich

diese

Vorkehrungen

getroffen.

Ich

habe

auch

die Kutsche und den Kutscher zu deiner Verfügung dagelassen.«

Er klang aufrichtig, wirklich. Sie wünschte, sie könnte sich ganz sicher sein, hielt es jedoch für klug, ihn wenigstens an ihren Zweifeln teilhaben zu lassen, bis sie vom Gegenteil überzeugt war.

»Wenn das so war«, sagte sie und setzte sich langsam auf, »dann habe ich keine Spur von ihm gesehen, nicht bis heute morgen.«

»Er sollte täglich nachfragen, ob du ihn brauchst. Sag-test du, er war nie da?«

»Wie soll ich das wissen, wenn ich nie da war? Oder haben Sie vielleicht nicht gehört, was ich gesagt habe? Daß ich jeden Tag zur Stadt laufen mußte, um mir etwas zu essen zu besorgen?«

Endlich dämmerte ihm, in welcher Lage sie gewesen war – ganz allein auf sich gestellt. »Um Himmelswillen, kein Wunder, daß du .. ich will sagen ... oh, Kelsey, es tut mir so leid. Glaub mir, wenn ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, daß du im Cottage nicht bequem untergebracht bist, wäre ich sofort zurückgekommen.«

Er sah so entsetzt aus, daß sie sich bemüßigt fühlte, ihn zu beruhigen. Eigentlich wäre es ja abgesehen von der Angst und der Sorge gar nicht so schlimm gewesen, wenn nicht Winter gewesen wäre und sie diese Erkältung bekommen hätte. Und nun, da ihr Zorn schwand, wurden die Symptome dieser Erkältung auf einmal wieder übermächtig deutlich.

Sie lehnte sich zurück und fühlte sich plötzlich ganz schwach, nach all dem Ärger. »Ich glaube, ein wenig Ruhe würde mir gut ...«

»Und ein Arzt«, unterbrach er sie, hob sie hoch und wollte sie aus dem Zimmer tragen.

»Ich kann laufen«, protestierte sie. »Und wahrscheinlich brauche ich wirklich nur ein bißchen Ruhe hier in der Wärme.«

Er zuckte zusammen, aber sie merkte es gar nicht. Ihr wurde schwindlig, und die Wände schienen mit einer atemberaubenden

Geschwindigkeit

auf

sie

zuzukom-

men. Rannte er die Treppe hinauf? Nein, sie fiel nur in Ohnmacht.