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Die Frauen waren nach oben gegangen, um noch ein wenig Zeit mit den Kindern zu verbringen. Judith war vollkommen erschöpft friedlich in einer Wiege in der Ecke eingeschlafen, aber Jacqueline saß noch auf dem Schoß ihrer Mutter und schwang unermüdlich ihre Arme hin und her; der kleine Thomas krabbelte zwischen den Frauen durch das Zimmer und zeigte ihnen stolz seine kostbaren Spielsachen.

Kelsey fühlte sich bei den Malory-Frauen so wohl, daß sie eine Zeitlang vergaß, was aus ihr geworden war, und einfach nur die Gesellschaft genoß. Die Kinder liebten sie, und sie brachte ihnen ebensoviel Zuneigung entgegen. Schon immer hatte sie sich auf den Tag gefreut, an dem sie selbst Kinder haben würde. Mittlerweile allerdings blieb ihr das wohl verwehrt, das war etwas, was sie sehr traurig stimmte.

Auch die Gespräche waren nett. Sie drehten sich entweder um ihre Kinder, oder um ihre Ehemänner, oder manchmal auch um beides, als Reggie zum Beispiel grinsend bemerkte: »Ich habe gehört, daß Onkel Tony Judith und Jack schon verheiratet hat, noch bevor sie auf der Welt waren.«

»Nun, Roslynn hat ihre Tochter ja nur bekommen, um Tony zu ärgern, das kann ich euch versichern«, erwiderte George und fügte mit einem verschwörerischen Lächeln hinzu: »Obwohl, das ist eine interessante Idee.

Ich könnte es ja beim nächsten Mal auch versuchen, zumal ich sicher bin, daß es James gefallen würde.«

»Meinen Tony zu ärgern?« warf Roslynn ein. »Oh, ich bezweifle nicht, daß James Malory jede Gelegenheit dazu ergreifen würde.«

»Aber sie sind doch Brüder«, sagte Kelsey verwirrt.

»O ja, meine Liebe, und alle vier tun nichts lieber, als sich zu zanken und zu streiten, vor allem Tony und James«, erwiderte Roslynn. »Schon die beiden älteren sind große Streithähne, aber die beiden jüngeren lassen sich

keine

Gelegenheit

entgehen,

aufeinander

einzu-

schlagen — mit Worten natürlich – und genießen jede Minute dabei. Man könnte meinen, sie seien die größten Feinde, aber in Wahrheit stehen sie sich sehr nahe.«

»Und sie verbünden sich gegen jeden anderen, vor allem gegen meinen Nicholas«, fügte Reggie seufzend hinzu. »Ich hoffe, falls Blut fließen sollte, daß es sich leicht aus dem Speisezimmer entfernen läßt, wo wir sie jetzt allein gelassen haben.«

Kelsey blinzelte, aber Georgina und Roslynn lachten.

»Darüber würde ich mir keine Gedanken machen, Reggie, schließlich ist ja Derek dabei«, sagte Roslynn. »Für gewöhnlich hat er einen mäßigenden Einfluß auf die beiden.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, bemerkte Georgina. »Vielleicht, weil er sie ein wenig an Jason erinnert, und wenn Jason in der Nähe ist, betragen sie sich für gewöhnlich besser – außer, wenn sie gerade mit ihm streiten.«

»Vorhin kamen sie anscheinend ganz gut miteinander aus«,

meinte

Kelsey,

immer

noch

verwirrt.

»Und

stimmt es wirklich, daß die beiden Ihren Mann nicht mögen, Reggie?«

»Natürlich mögen sie ihn«, sagten alle drei Frauen gleichzeitig.

Reggie erklärte lächelnd: »Wissen Sie, Onkel James und Nicholas waren sozusagen Feinde, zumindest waren sie ganz ernsthaft wütend aufeinander. Aber dann habe ich Nicholas kennengelernt und ihn geheiratet, und damit war ihre Privatfehde beendet. Onkel James konnte ja nicht gut seinen angeheirateten Neffen mit seiner Rache verfolgen, schließlich sind wir eine Familie, in der sich alle sehr nahestehen. Onkel Tony dagegen war ziemlich aufgebracht, weil Nicholas mich kompromittiert hatte.

Er hätte ihn lieber erschossen, als ihn mit mir verheiratet zu sehen. Er meinte auch, er sei nicht gut genug für mich, da Nicholas damals ein ziemlicher Frauenheld war.«

»Als wenn Anthony das nicht auch gewesen wäre«, warf Roslynn erheitert ein.

»Und James war der Schlimmste von allen«, fügte Georgina hinzu. »Aber das ist ja so typisch für Männer.

Was für sie gut war, kam natürlich nicht in Frage beim Mann ihrer Lieblingsnichte.«

»Na ja, und jetzt ist es nur noch eine ... nun, eine freundliche Fehde«, sagte Reggie. »Allerdings übertref-fen meine Onkel meinen armen Nicholas in ihren Wortgefechten immer noch.«

»Du kannst dich doch freuen, Reggie«, bemerkte Roslynn. »Du hast vergessen, daß sie jetzt Warren auf kleiner Flamme rösten können. Ich bin sicher, das macht es für Nick etwas leichter.«

»Wer ist Warren?« fragte Kelsey.

»Mein Bruder«, erwiderte Georgina. »Er hat letzte Woche gerade in den Malory-Clan eingeheiratet. Früher hat er einmal versucht, James hängen zu lassen, und James hat ihn beinahe mit bloßen Händen umgebracht.

Aber das ist eine andere Geschichte. Für den Moment reicht es, daß auch sie ernsthafte Feinde waren. Als Warren nur sein Schwager war, hat das James nicht davon abgehalten, ihn verprügeln zu wollen. Aber jetzt, wo Warren in die Familie eingeheiratet hat und sein angeheirateter Neffe ist, haben sie einen Waffenstillstand geschlossen, obwohl das heftige Streitereien nicht ausschließt.«

»Warren hat sich aber durch Amy auch sehr geändert«, warf Reggie ein. »Er war schrecklich aufbrausend, ist aber mittlerweile viel zu glücklich, um ihre Sticheleien ernstzunehmen. Ist dir nicht auch aufgefallen, daß er, wenn sie anfangen ihn zu ärgern, einfach lächelt und darüber hinweggeht?«

Georgina lachte. »Ja, das habe ich auch bemerkt. Es macht James ganz verrückt, wenn Warren sich so verhält.«

»Ich bezweifle nicht, daß Warren das weiß.«

»Da kannst du sicher sein.« Georgina grinste.

Kelsey

bekam

langsam

eine

Vorstellung

von

dem

Ganzen – wenn ihr auch manches noch etwas unklar war. Sie hatte vorhin gefragt, warum James seine Tochter Jack nannte. Einmütig hatten alle geantwortet: »Weil er wußte, daß seine Schwäger das nicht mögen würden.«

Sie fand, das sagte schon viel über James Malory aus.

»Da fällt mir gerade ein«, wandte sich Reggie an Kelsey,

»wenn Sie sich noch nicht endgültig für Derek entschieden haben, dann wäre einer von Georges Brüdern eine gute Partie. Sie hat fünf Brüder, wissen Sie, und die anderen vier sind nicht verheiratet.«

»Passen Sie auf, Kelsey«, warnte Roslynn sie lachend,

»Reggie arrangiert gerne Ehen.«

»Sie sind also an unserem Derek interessiert?« fragte Georgina. »Ich hatte jedenfalls das Gefühl – so wie Sie beide sich heute abend angesehen haben.«

Kelsey errötete heftig. Sie wäre besser nicht hierhergekommen, obwohl Derek gesagt hatte, es ginge nicht anders, nachdem Reggie sie beim Rennen so in die Enge getrieben hatte. Diese Frauen waren so nett, so freundlich, aber sie wären entsetzt, wenn sie erführen, daß sie Dereks Mätresse war. Wie konnte sie nur aus dieser Klemme herauskommen?

Offenbar dachten alle drei, daß sie auf der Suche nach einem Ehemann wäre, und warum sollten sie das auch nicht denken? Schließlich war sie in dem Alter, in dem die meisten jungen Frauen nach einem Gatten Ausschau hielten. Sie aber hatte alle Brücken hinter sich abgerissen und konnte nie mehr heiraten. Von Percys Cousine erwartete man das jedoch. Percys Cousine war rein, süß, und vor allem noch Jungfrau, würden sie denken.

»Derek ist sehr nett«, begann Kelsey unbehaglich. Sie wußte noch nicht genau, wie sie sich aus der Affäre ziehen sollte. »Aber ...«

»Und er sieht sehr gut aus«, warf Roslynn ein.

»Und er hat zahlreiche Titel, sofern das eine Rolle spielt«, fügte Georgina hinzu.

Roslynn

kicherte.

»Sie

müssen

meine

amerikanische

Schwägerin

entschuldigen,

Kelsey.

Sie

versteht

nicht

viel von Titeln und war ganz entgeistert, als sie fest-stellte, daß James einen in ihre Ehe mitbrachte.«

»Titel sind in Ordnung, solange man sie mag. Ich kann sie eben einfach nicht ausstehen«, erläuterte Georgina.

»Derek ist eine gute Partie«, fuhr Reggie fort. »Ich glaube jedoch nicht, daß er schon dazu bereit ist, sich ernsthaft zu binden. Und außerdem hat sie deine Brü-

der noch nicht kennengelernt, Tante George. Drew ist absolut charmant, und ...«

»Wie kommst du denn darauf, daß meine Brüder schon bereit wären, zu heiraten?« fragte Georgina grinsend.

Reggie kicherte. »Eigentlich glaube ich, daß kein Mann wirklich dazu bereit ist, sie brauchen einfach alle einen Schubs in die richtige Richtung. In meinem Fall war Nicholas der ganze Malory-Clan auf den Fersen, und Onkel Tony drohte damit, ihn zu kastrieren, wenn er mich nicht heiratete.«

»Das war zu erwarten, nachdem er dich kompromittiert hat, mein Liebes«, sagte Roslynn.

Reggie lachte. »Das hat er doch gar nicht. Es haben nur alle geglaubt.«

»Das ist das gleiche, wie du sehr wohl weißt. Wenn es einen Skandal gibt, ändert die Wahrheit auch nicht mehr viel daran. Es ist eben leider so – die Dinge werden so gesehen, wie jeder es annimmt.«

»Na ja, ich beklage mich ja auch gar nicht«, erwiderte Reggie. »Es war wirklich die einzige Methode, ihn zu bekommen. Und er jammert auch nicht mehr als James, daß er zum Altar geschleift worden ist.«

»Oh,

James

hat

sich

durchaus

beklagt.«

Georgina

lachte. »James wäre nicht James, wenn er nicht bei jedem Thema anderer Meinung wäre.«

»Nun, ich bin noch gar nicht auf der Suche nach einem Ehemann«, warf Kelsey ein und hoffte, daß das Thema damit abgeschlossen wäre. »Ich bin nur wegen einer neuen Garderobe nach London gekommen, wie Percy Ihnen ja erzählt hat, nicht um zu heiraten«, fügte sie hinzu. Sie haßte es, immer weiter lügen zu müssen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. »In ein paar Tagen fahre ich sowieso wieder nach Hause.«

»Ja, das ist richtig schade«, erwiderte Reggie. »Ich werde mit Percy reden müssen, damit er Ihren Aufent-halt hier verlängert. Sie sind ja noch nicht einmal auf einem Ball gewesen. Wissen Sie was? Ich bleibe selbst länger hier und kann Sie dann begleiten. Wir werden soviel Spaß haben, Kelsey, also denken Sie bitte darüber nach.«

Darüber nachdenken? Warum konnte die Lüge nur nicht die Wahrheit sein? Das war das einzige, woran Kelsey zur Zeit denken konnte. Reggies Vorschlag klang tatsächlich nach Spaß. Und Kelsey war noch nie auf einem offiziellen Ball gewesen. Sie hatte sich immer vorgestellt, wie sie eines Tages einen besuchen würde, aber jetzt . . jetzt mußte sie sich immer wieder vor Augen halten, wer sie war, und daß solche Dinge in den Bereich des Unmöglichen gehörten.