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Kelsey hatte alles Erdenkliche versucht, immer im Hinblick darauf, daß Ashford wahnsinnig war. Sie nahm die Rolle seiner Mutter an, ermahnte ihn, fand Entschuldigungen und plausible Erklärungen für das, was er ihr vorwarf, aber es hatte sich ihm so tief eingeprägt, daß seine Mutter böse war, daß nichts half. Er würde niemals zugeben, daß sein Vater unrecht gehandelt hatte.

Aus dem, was er sagte, konnte sie sich zusammenrei-men, daß seine Mutter ihren Sohn und ihren Ehemann verlassen hatte. Möglicherweise wollte sie nur ihr eigenes Leben retten, indem sie vor ihrem rachsüchtigen Ehemann floh – zumindest bis ihr wahnsinniger Sohn sie Jahre später wiederfand.

Und da hatte er seine eigene Mutter getötet. Er hatte sie zum Tod verurteilt, weil sein Vater sie verurteilt hatte.

Er hatte sie umgebracht, weil sein Vater das hatte tun wollen. Jetzt redete er von seiner Mutter, als sei sie seine Frau gewesen. Seine Gedanken waren die seines Vaters.

Kelsey fragte sich, ob er sich wohl wie sein Vater ge-fühlt hatte, als er sie tötete. Erst die Bestrafung, dann die Vergewaltigung. Sein Vater hätte dasselbe getan.

Und Ashford durchlebte es immer wieder, mit jeder Frau hier unten, mit jeder Prostituierten, die er dafür bezahlte, daß er sie benutzen konnte.

Er war wirklich ein kranker Mann. Aber sie hatte kein Mitleid mit ihm. Er hatte Menschen umgebracht. Bisher hatte er erst zwei Morde durch seine Hand erwähnt, aber es waren sicher mehr gewesen. Zu viele Menschen hatten unter seinem Wahnsinn gelitten – und sie würde auch eine von ihnen sein.

Als sie in der Rolle seiner Mutter mit ihm redete, hatte sie ihre Bestrafung nur hinausgezögert. Voller Panik versuchte sie einen weiteren Aufschub zu erreichen. Sie erwartete sich jedoch kein Wunder. Aufhalten würde sie ihn letztendlich nicht.

Sie hatte so entsetzliche Angst davor, ausgepeitscht zu werden, daß sie den Gedanken daran kaum ertragen konnte. Nie zuvor war sie geschlagen worden und wußte nicht, ob sie es aushalten würde. Und was kam danach? Der Tod, wenn er immer noch glaubte, sie sei seine Mutter? Oder, falls er wieder halbwegs bei Verstand

war,

Vergewaltigung,

während

sie noch vor

Schmerz schrie? Oder beides? Sie konnte nicht sagen, was sie vorgezogen hätte.

Im Augenblick war er wieder er selbst, nicht sein Vater.

Aber er sah immer noch seine Mutter vor sich, wenn er sie anblickte. Und sie überlegte immer noch verzweifelt, wie sie Angst oder Schuldgefühle in ihm auslösen konnte, damit er sie gehen ließe.

»Es wird deinen Vater nicht freuen, wenn du mich um-bringst«, sagte sie zu ihm. »Er möchte es selbst tun. Er wird dich möglicherweise wieder verprügeln – wenn er es herausfindet.«

Ein Ausdruck von Entsetzen zeichnete sich in seiner Miene ab. In Kelsey stieg neue Hoffnung auf.

»Glaubst du?« fragte er verwirrt.

»Ich weiß es. Du nimmst ihm seine Rache. Er wird wü-

tend auf dich sein.«

Ein Geräusch von oben lenkte ihn ab. Er blickte auf den letzten Fetzen Stoff, der noch an Kelsey hing, und fuhr mit dem Messer darunter. Ihre zerschnittene Kleidung fiel zu beiden Seiten des Bettes zu Boden. Nichts blieb ihr nun, um sich zu bedecken.

»Hast du mich gehört?« fragte sie, und Panik stieg von neuem in ihr auf.

Er sah sie noch nicht einmal an, sondern warf das Messer zu Boden. Er brauchte es nicht mehr – wenigstens im Augenblick. Dann schaute er sich nach seinen Peitschen um und zischte mißbilligend, als er sie nicht sofort finden konnte. Er mußte sich bücken, um den Stoff des Kleides beiseite zu schieben. Endlich fand er eine darunter und erhob sich wieder mit der Peitsche in der Hand. Sie hatte einen kurzen Griff, an dem viele dünne Lederriemen baumelten. Liebevoll strich er mit dem Griff über seine Wange.

»Antworte mir, verdammt noch mal!«

Bei ihrem Ton heulte er auf. »Dir antworten?«

»Dein Vater wird wütend auf dich sein. Bist du dir dar-

über im klaren?«

Er kicherte. »Das glaube ich kaum, meine Hübsche.

Der alte Mann ist vor einigen Jahren gestorben. Sein Herz versagte, als er – sich vergnügte. Keine unangenehme Art zu krepieren.«

O Gott, er war wieder bei Sinnen, und das bedeutete, daß es für sie zu spät war. Ob bitten half? Sie bezweifelte es.

Er legte die Peitsche über ihre nackten Beine, um seine Jacke auszuziehen. Sie konnte die Beine nicht genügend anwinkeln, um sie herunterzustoßen, und allein das Ge-fühl des Leders auf der bloßen Haut brachte sie zum Zittern.

Er legte auch seine Jacke über ihre Beine, während er sich daranmachte, sein Hemd aufzuknöpfen. Nur ihre Waden waren jetzt bedeckt. Sie hatte nicht erwartet, daß er sich ausziehen würde. Wollte er sie zuerst vergewaltigen?

»Was tun Sie da?«

»Du glaubst doch nicht etwa, daß ich mir meinen guten Anzug ruiniere, oder?« fragte er. »Blutflecken lassen sich nur schwer aus Kleidern entfernen.«

Kelsey erbleichte. Er erwartete also so viel Blut, daß es auf ihn spritzte? Dann standen die Wassereimer wahrscheinlich da, damit er sich hinterher das Blut abwa-schen konnte, nicht sie. Der verwöhnte Bastard dachte aber auch wirklich an alles. Allerdings hatte er dies hier auch schon so oft gemacht, daß er mittlerweile wohl wußte, wie es am einfachsten ging.

Sie konnte ihn nicht mehr aufhalten. Sie konnte gar nichts mehr tun – ihn nur noch ihre Wut spüren lassen.

»Ich hoffe, wenn Derek Sie findet, reißt er Ihnen das Herz heraus – langsam. Sie sind ein jämmerlicher Mann, Ashford, genauso verkrüppelt wie ihr Verwalter.

Sie können noch nicht einmal ...«

Sie zog scharf den Atem ein. Er hatte die Peitsche er-griffen und ihr damit über die Schenkel geschlagen. Sie hinterließ rote Striemen, aber die Haut platzte nicht auf. Dann legte er die Peitsche wieder weg, um sich weiter auszuziehen.

Er hatte das getan, um sie zum Schweigen zu bringen, und sie war aufs äußerste empört, daß sie noch nicht einmal ihren Gefühlen Luft machen durfte.

»Feigling!« spuckte sie. »Sie haben ja Angst, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.«

»Halt den Mund. Du weißt nichts über mich.«

»Ach nein? Ich weiß, daß Sie mit einer Frau nichts anfangen können, wenn man sie nicht für Sie festgebun-den hat. Sie sind ein kranker kleiner Junge, der nie erwachsen geworden ist.«

Wieder griff er zur Peitsche. Sie erstarrte und wartete auf den Schlag. Aber er kam nicht. Statt dessen blickte er zur Tür und runzelte die Stirn. Sie folgte seinem Blick, wußte aber nicht, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie hatte nichts gehört. Er dagegen schon.

»John, hör auf, solchen Lärm zu machen!« schrie er.

»Du weißt doch, daß ich nicht gestört werden möchte, wenn ich .. Was zum Teufel wollen Sie hier? Das darf doch nicht wahr sein!«

Kelsey brach in Tränen aus, als auf einmal James Malory in der Tür stand. Ihre Erleichterung war grenzen-los. Sie konnte nur noch schluchzen. Vielleicht, weil sie es gar nicht glauben konnte ... vielleicht spielte ihre Phantasie ihr nur einen Streich . .

Aber dann erschien auch Derek hinter James und schob sich an ihm vorbei. Daß James da war, empörte Ashford nur, aber vor Derek hatte er Angst, weil er mit ihm bereits zweimal aneinandergeraten war, und beide Male hatte er verloren.

Derek warf einen Blick auf Kelsey, dann blickte er Ashford an, der mit der Peitsche in der Hand hinter ihr stand, und flog auf ihn zu. Er sprang über das Bett und riß Ashford im Fallen mit sich zu Boden. Kelsey konnte die beiden nicht sehen, sie konnte nur hören ...

James zog seine Jacke aus und bedeckte sie damit.

»Schsch, meine Liebe, jetzt ist es vorbei«, sagte er sanft.

»Ich – ich – ich weiß! Aber ich kann nicht anders!«

schluchzte sie.

Er lächelte sie an, wobei er den Blick taktvoll von ihren nackten Beinen abwandte, und begann, ihre Fesseln zu lösen. Auch Anthony Malory war da, bemerkte sie schließlich. Er stand am Fußende des Bettes und sah zu, wie sein Neffe auf Ashford einschlug.

»Zum Teufel, er will nichts für uns übriglassen, was?«

beklagte er sich bei seinem Bruder.

James grinste. »Er könnte jetzt genausogut aufhören, Tony. Ich glaube nicht, daß der Bastard noch einen von den Schlägen spürt, und ich hasse es, Strafe zu vergeu-den, vor allem, wo er so viel davon verdient. Außerdem sollte der Junge jetzt besser Kelsey hier herausbringen.«

Kelsey setzte sich auf und schlüpfte rasch in James’

Jacke. Sie sah nun selbst, daß Ashford bewußtlos war.

Aber das hielt Derek nicht davon ab, weiter auf ihn ein-zuschlagen.

Tony mußte Derek buchstäblich von ihm wegziehen. Es dauerte einige Zeit, bis er nicht mehr rot sah, dann jedoch, als er Kelsey anblickte, kam er zu ihr und nahm sie fest in die Arme .. und sie brach wieder in Tränen aus.

James verdrehte die Augen. »Frauen! Sie hat ihn ange-schrien, als wir durch den Flur kamen, und jetzt, wo sie in Sicherheit ist, weint sie. Ich werde das nie verstehen, verdammt noch mal.«

Anthony schmunzelte. »Das ist eben bei Frauen so, alter Junge. Wir sind nicht dazu da, das zu kapieren.«

James schnaubte, dann blickte er wieder seinen Neffen an und nickte schließlich in Kelseys Richtung. »Derek, bring sie hier weg – zurück in die Stadt, wenn du willst.

Tony und ich kümmern uns um diesen Abschaum.«

Derek zögerte und sah hinunter auf Ashford. »Er hat noch nicht genug gelitten.«

»Genug? Glaub mir, mein Junge, er hat noch nicht einmal angefangen zu leiden.«

Derek starrte seinen Onkel eine Weile an, dann nickte er befriedigt. Was auch immer sich James für den Mann ausgedacht hatte, es würde nicht im geringsten angenehm sein.

Sanft hob er Kelsey hoch und trug sie aus dem Zimmer den Gang entlang. Sie hatte die Arme so fest um seinen Hals geschlungen, daß es ihm fast die Luft abschnürte.

»Ich kann immer noch nicht glauben, daß du gekommen bist – daß du mich gefunden hast«, flüsterte sie.

»Wie?«

»Die Männer meines Onkels sind ihm gefolgt.«

»Die beiden haben Spaziergänger erwähnt«, sagte sie, als sie die Treppe hochstiegen. »Der Verwalter hat sie im Stall eingesperrt. Einer könnte tot sein. Waren das die Männer deines Onkels?«

»Einer von ihnen, ja. Der andere war dein Kutscher.

Aber sie leben beide. Der Bedienstete von James kam, um Bescheid zu sagen, daß Ashford dich entführt hat.

Und sie waren Ashford schon früher einmal bis hierher gefolgt, deshalb wußten wir, daß wir hier nach ihm suchen mußten.«

Er erwähnte nicht, daß er Angst gehabt hatte, sie kämen zu spät. Und sie erwähnte nicht, daß sie durch die Hölle gegangen war, um ihre »Bestrafung« hinauszuzögern.

Sie umschlang seinen Hals fester. »Da unten sind noch andere Frauen eingesperrt. Er hält sie hier gefangen.

Wir müssen sie befreien.«

»Das werden wir.«

»Er ist wirklich krank, Derek. Er hat den Besitzer von diesem Haus umgebracht, den, der mich versteigert hat.«

»Hat er es zugegeben?«

»Ja. Er hat auch seine eigene Mutter getötet, und Gott weiß, wen sonst noch.« Sie zitterte wieder.

»Denk nicht mehr darüber nach. Du wirst ihn nie mehr wiedersehen, das verspreche ich dir.«

Viel später kamen auch Anthony und James nach oben.

Sie waren immer noch entsetzt von dem, was sie unten im Keller gesehen hatten. James hatte von Anfang an gehofft, eins von Ashfords Opfern zu finden und hatte deshalb Männer losgeschickt, die schon die ganze Woche über alle Hafenkneipen und Bordelle durchkämmt hatten. Auf ein solches Ergebnis der Suche hatte er allerdings nicht gehofft – vier Frauen, die so zu Tode erschreckt

und

gequält

waren,

daß

man

bezweifeln

mußte, ob sie sich jemals wieder erholen würden.

Erstaunlicherweise waren sie jedoch in besserer Verfas-sung, als zu erwarten war – abgesehen von ihren Narben. Offene Wunden waren behandelt worden, bevor er sie erneut ausgepeitscht hatte. Man hatte ihnen genug zu essen gegeben. Ihre Zellen waren zwar nicht warm, aber sie waren auch nicht übermäßig kalt, und deshalb hatten sie wahrscheinlich auch keine Krankheiten bekommen. Der Gestank, in dem sie gelebt hatten und an den sie gewöhnt waren, kam von dem Blut, das einfach unter die Bodendielen gespült worden war, und von den Eimern für ihre Exkremente, die nur selten geleert wurden.

Nur eine der Frauen, eine hübsche junge Blondine, hatte noch frische Wunden, und sie war auch am ver-

ängstigsten. Die anderen waren zwar von der Taille ab-wärts mit Striemen bedeckt, aber die waren ausgeheilt, und sie hatten auch weniger Angst, da Ashford sie schon lange nicht mehr besucht hatte. Und was der Verwalter mit ihnen machte, war nichts, was sie nicht schon früher erfahren hatten.

Es hätte sehr viel schlimmer sein können, ihr Verstand hätte genauso gelitten haben können wie ihre Körper, wenn sie nicht schon an die Brutalität von Männern ge-wöhnt gewesen wären, bevor Ashford sie gefunden –

und sich ihre Einwilligungen erkauft hatte. Voll beklei-det würde von ihren Qualen hier nichts mehr zu sehen sein. Gegenwärtig bliebe es nur in ihrer Erinnerung.

Nie mehr würden sie es vergessen können.

Doch James gab ihnen Gelegenheit, Vergeltung zu üben.

Anthony hatte aus dem Zimmer im Obergeschoß Kleider für die Frauen geholt, alte zwar, aber für jetzt er-füllten sie ihren Zweck. Doch hatten sie es abgelehnt, sie zu tragen – vorläufig.

Die älteste von ihnen erklärte es ihm. »Er hat sich immer ausgezogen, bevor er zu peitschen anfing. Das Blut ... wissen Sie.«

Eine ausgezeichnete Überlegung, da James und Anthony Lord Ashford auf demselben Bett festgeschnallt hatten, auf dem Kelsey vorhin gelegen hatte. Dann brachten sie ihn zu Besinnung. Und ließen die Frauen allein mit ihm.

»Sie bringen ihn vielleicht um«, meinte Anthony, als sie die Kellertür hinter sich schlossen, damit man seine Schreie nicht hören konnte.

James nickte. »Dann geben wir ihm ein schönes Be-gräbnis.«

Anthony kicherte. »Glaubst du nicht, daß sie es tun?«

»Ich glaube, sie möchten ihm gerne zurückzahlen, was er ihnen angetan hat, und das, mein lieber Junge, hat der Kerl verdient. Er wird wahrscheinlich reif für Bedlam sein, wenn sie mit ihm fertig sind. Wenn nicht, werde ich mich selbst noch einmal seiner annehmen müssen, schon um Derek von einem Mord abzuhalten.«

»Hmmm, ich stimme dir zu, der Bursche ist zu jung, um jemanden umzubringen. Ich möchte nicht, daß jemand sagt, er schlüge seinem Onkel nach.«

»Du sagst es, Bruder.«