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Das große, modrig riechende alte Haus wirkte unbewohnt. Die wenigen Möbel, die sie vom Flur aus sehen konnte, waren mit Laken abgedeckt. Überall waren die Vorhänge zugezogen, und man brauchte eine Lampe, um den Weg zu finden. In den Ecken hingen Spinn-weben.

Aber ein alter Mann hatte sie eingelassen, also mußte hier jemand wohnen. Bei näherer Betrachtung war er allerdings gar nicht so alt, nur entstellt und sehr, sehr häßlich. Ein Arm war länger als der andere, oder vielleicht sah es auch nur so aus, weil sein Körper so verkrümmt war. Auch sein Gesicht war grotesk verzerrt; man hatte ihm tatsächlich die Nase abgeschnitten, und mit seinen dicken Wangen sah er mehr aus wie ein Schwein. Seine grauen Haare ließen ihn so alt wirken, aber er war es eigentlich nicht.

Kelsey dachte zunächst entsetzt, daß Ashford ihn so entstellt habe, aber dann lauschte sie aufmerksam auf das Gespräch zwischen den beiden, während sie den Flur entlanggeschleppt wurde.

Der Verwalter, John war sein Name, verehrte Ashford anscheinend, weil dieser ihm offenbar eine Stelle gegeben hatte, als niemand anderer ihn haben wollte. Sie überlegte, was für eine Stelle das wohl war. John schien überhaupt nicht überrascht zu sein, daß Ashford eine gefesselte und geknebelte Frau mitgebracht hatte.

Aber dann fragte er: »Eine neue Hübsche für Ihre Sammlung, Mylord?«

»In der Tat, John, und sehr schwer zu bekommen.«

Sie gelangten zu einer Treppe, die in ein dunkles Keller-loch hinabführte. John ging ihnen mit einer Lampe voraus. Kelsey mußte hinuntergeschleift werden, weil sie freiwillig nie dort hinuntergegangen wäre.

Sammlung? Mein Gott, hoffentlich bedeutete es nicht das, wonach es geklungen hatte. Sie tappten durch einen langen Kellergang und kamen zu einer weiteren Treppe, die noch tiefer hinunterführte ... und dann konnte sie Stöhnen hören.

Es war wie ein Gefängnis. Es war ein Gefängnis, stellte sie fest, als sie an zahlreichen Türen mit schweren Riegeln und mit Brettern vernagelten Öffnungen vorbeika-men – aus jedem Raum drang ein Gestank, der einem den Atem verschlug. Licht spendete lediglich eine Fackel am Ende des Gangs an der Treppe. Durch die Holzlatten der Türen drang kein Licht.

Am Ende des langen Ganges gab es Anzeichen dafür, daß noch mehr Zellen gebaut werden sollten. Sie hatte vier veriegelte Türen gezählt. Vier besetzte Zellen? Sie wurde jedoch in die fünfte Tür hineingeschoben.

John war schon da; er hatte seine Lampe neben sich auf den Boden gestellt. In der Mitte des kleinen Zimmers stand ein Bett, nur mit einem Laken bedeckt. Der Raum war neu und sauber. Er roch nach frischem Holz. An einer Wand standen vier Eimer mit Wasser – um ihr danach das Blut abzuwaschen?

»Sehr schön, John«, bemerkte Ashford und sah sich um. »Und du bist gerade rechtzeitig fertig geworden.«

»Danke auch, Mylord. Ich wär’ schon früher fertig gewesen, wenn mir jemand geholfen hätte, aber ich kann verstehen, warum außer mir keiner hier herunter darf.«

»Du machst das sehr gut alleine hier, John. Hilfe würde bedeuten, daß du mit jemandem teilen mußt.«

»Nein, ich will nicht teilen. Der nächste Raum wird Ende des Monats fertig sein.«

»Hervorragend.«

Kelsey hörte ihnen kaum zu. Sie starrte wie hypnotisiert vor Entsetzen auf das schmale Bett in der Mitte des Zimmers; am Fuß– und am Kopfende waren Ledermanschet-ten befestigt. Als sie die Lederriemen sah, wurde sie vor Angst fast ohnmächtig. Wenn sie dort erst einmal festge-bunden war, und sie bezweifelte nicht, daß das Ashfords Absicht war, konnte sie nicht mehr entkommen.

Sie hatte versucht, die Kutschentür aufzutreten, mit dem Resultat, daß ihr Fuß weh tat. Ashford hatte amü-

siert zugesehen, wie sie sich anstrengte. Und auch jetzt hielt er ihren Arm noch genauso fest wie zu Beginn, und es gelang ihr nicht, sich loszuwinden. Aber irgend etwas mußte sie tun. Während sich die beiden unterhielten und ihr keine Aufmerksamkeit schenkten, war vielleicht der geeignete Moment ...

Sie sank gegen Ashford, als sei sie zufällig gestolpert. Es hätte vielleicht den gleichen Zweck erfüllt, wenn sie eine Ohnmacht vorgetäuscht hätte, aber dann wäre es ihr nicht möglich gewesen, schnell genug wieder aufzu-springen, da ihr immer noch die Hände auf dem Rücken gefesselt waren.

Er ließ tatsächlich ihren Arm los, um sie wegzustoßen.

Das geschah so schnell, daß er ganz offensichtlich die direkte Berührung mit ihrem Körper nicht ertrug.

Hätte sie Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wäre es ihr seltsam vorgekommen.

Aber die Zeit hatte sie nicht. Sie nutzte den kurzen kostbaren Moment und stürzte aus dem Raum. Hinter ihr ließ Ashford eine Art Kichern hören und sagte etwas, das sie nicht verstand.

Sie konnte seine Erheiterung nicht einordnen, vielleicht hatte sie sich auch verhört, denn das ergab doch keinen Sinn. Er nahm jedoch nicht sofort ihre Verfolgung auf, auch der Verwalter nicht. Und den Grund dafür fand sie heraus, als sie die Treppe erreicht hatte und hart auf die erste Stufe fiel.

Ihr Rock! Sie konnte ihn nicht hochheben, weil ihre Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren.

Deshalb kicherte der Bastard. Er wußte, daß ihr langes Kleid sie behindern würde.

Aber sie würde nicht aufgeben! Sie würde die Treppe hochsteigen, nur eben nicht so schnell, wie sie gerne gewollt hätte. Bei jeder Stufe hob sie die Beine so hoch sie konnte, erreichte so den oberen Keller und schließlich das Erdgeschoß.

Als sie zur Haustür kam, fand sie diese verriegelt vor.

Zwar konnte sie den Türknauf drehen, obwohl ihre Finger so gefühllos waren, daß sie sie kaum bewegen konnte, aber den Riegel konnte sie nicht erreichen. Er saß zu hoch oben an der Tür.

Sie war so enttäuscht, daß sie fast zusammengebrochen wäre. Aber es mußte doch noch mehr Türen nach draußen geben! Sie konnten ja schließlich nicht alle verriegelt sein. Ihr blieb nur keine Zeit mehr, und die Schmerzen in ihren Händen, durch die jetzt das Blut wieder zirkulierte, waren fast unerträglich.

Sie hätte sich besser auf die Suche nach der Küche gemacht. Vielleicht hätte sie dort ein Messer gefunden, um ihre Fesseln durchschneiden zu können, während sie sich versteckte ... und verstecken mußte sie sich. Doch jetzt war es zu spät, die Küche zu suchen, die sich bestimmt auf der Rückseite des Hauses befand, wo der Kellereingang gewesen war – und wo bald schon Ashford auftauchen würde.

Die Dunkelheit im Haus war ein Segen. Zumindest betete Kelsey darum. Würde sie sich in den Zimmern im Erdgeschoß überhaupt verstecken können? Es gab nur so wenige Möbelstücke dort. Sie hatte jetzt keine Zeit, nachzusehen.

In der Dunkelheit konnte sie die Treppe erkennen, die nach oben führte, und rannte darauf zu. Schon wieder Treppenstufen, aber hatte sie eine andere Wahl? Der Weg in den hinteren Teil des Hauses zu einer anderen Tür, die vielleicht offen war, konnte schon abgeschnitten sein.

Es war die richtige Wahl. Sie hörte Ashford bereits, noch bevor sie die oberste Treppenstufe erreicht hatte.

Aber selbst wenn er nach oben blickte, würde er sie wahrscheinlich nicht sehen können. Die Lampe, die er in der Hand hielt, gab nicht viel Licht, weil er sie so nahe vor sich hielt, und erzeugte ebenso viele Schatten, wie sie auflöste.

»Die Zeit für deine Bestrafung ist gekommen, meine Hübsche. Du kannst nicht entkommen. Du mußt für ihre Sünden bezahlen, genau wie die anderen.«

Ihre Sünden? Gab es eine Ursache für seinen Wahnsinn? Wen zum Teufel meinte er damit?

Die Türen im Obergeschoß waren alle geschlossen. Sie versuchte, die erste zu öffnen, und stellte fest, daß ihre Hände wieder eingeschlafen waren. Als das grauenhafte Prickeln wieder anfing, zuckte sie zusammen. Und als sie endlich die Tür aufbekommen hatte, sah sie, daß in dem verdammten Zimmer nicht ein einziges Möbelstück stand.

Das zweite Zimmer, in das sie kam, stand voller Gerümpel, offensichtlich wurde es benutzt. Von diesem gräßlichen Verwalter?

Die zerschlissenen Vorhänge ließen jedoch so viel Licht herein, daß es einfach gewesen wäre, sie zu finden, wenn sie versucht hätte, sich irgendwo zu verstecken. Und unter das Bett zu kriechen kam nicht in Frage, das war der erste Ort, an dem Ashford nachsehen würde.

Das dritte Zimmer war so dunkel, daß sie sich fragte, ob es überhaupt Fenster hatte. Sie tastete sich rasch an der Wand entlang, bis sie auf Vorhänge stieß, die sie beiseite schob. Nichts. Das Zimmer war genauso leer wie das erste.

Sie vergeudete Zeit. Bestimmt sah er zuerst unten nach, da er annehmen würde, daß sie vor Treppenstufen Angst hatte. Aber sobald er unten alles durchsucht hätte, würde er nach oben kommen.

»Du wirst für deine Dummheit sogar noch strenger bestraft werden, das verspreche ich dir. Es wird besser sein, wenn du dich zu erkennen gibst.«

Seine Stimme drang von unten herauf und zeigte ihr an, daß er eins der Zimmer im Erdgeschoß betreten hatte.

Noch blieb ihr ein wenig Zeit.

Kelsey eilte zur nächsten Tür – ein leerer Wandschrank.

Die nächste ... wieder eine Treppe! Vielleicht zum Speicher? Ein Speicher wäre gut. Normalerweise stand dort eine ganze Menge Gerümpel und alte Möbel.

Aber eigentlich hatte sie gehofft und gebetet, sie würde eine Treppe finden, die wieder nach unten führte, in den hinteren Teil des Hauses. Sie konnte das Ende des Flurs nicht erkennen und war sich daher im unklaren, wie viele andere Türen sie noch würde öffnen müssen. Ein gutes Versteck oder Treppen, die vielleicht zu einer Außentür führten, die nicht verriegelt war? O Gott, sie konnte sich nicht entscheiden!

Wenn sie nach draußen gelangen könnte, dann hätte sie wirklich die Möglichkeit zu fliehen. Um das Haus herum war Wald, und im Wald würde er sie nicht finden.

Sie tappte weiter. Wieder eine Tür – und überhaupt keine Vorhänge. Helles Tageslicht drang durch die schmutzigen Fenster und blendete sie beinahe. Es dauerte einen Augenblick, bis sie das zerbrochene Bett, die große Truhe und den Kleiderschrank, dem die Türen fehlten, sehen konnte. Die Truhe? Nein, zu einfach, fast wie eine Falle.

Das Licht, das aus dem Zimmer in den Gang fiel, zeigte ihr jedoch, daß es nur noch eine weitere Tür am Ende des Flurs gab.

Die jedoch war verschlossen. Sie vergeudete zuviel Zeit damit, an ihr zu rütteln. Schon konnte sie die Schritte auf der Treppe hören . .

Sie rannte zurück in das helle Zimmer und zog die Tür so weit hinter sich zu, daß das Licht nicht mehr in den Flur fiel. Wenn sie die Tür ganz offenließ, würde das Ashford wahrscheinlich direkt zu ihr führen – falls er wußte, daß die Tür normalerweise geschlossen war. Sie hielt den Atem an, lauschte angestrengt und hoffte darauf, daß er noch einmal etwas sagen würde. Dann hätte sie gewußt, wo er war, doch leider schwieg er. Sie hörte nur seine Schritte, die stehenblieben, weitergingen, stehenblieben . .

Lauschte er auch? Wahrscheinlich. Als er oben an der Treppe angekommen war, wurden seine Schritte viel lauter. Er trat kräftig auf. Absichtlich? Damit sie ihn auf jeden Fall hörte und wußte, daß er näher kam?

Sie konnte genau hören, wie er stehenblieb, um in das erste Zimmer zu blicken und es mit seiner Lampe aus-zuleuchten. Und ihr fiel ein, daß sie alle Türen offenge-lassen hatte, außer den beiden letzten. Er brauchte nur hineinzublicken. Seine Schritte, die wieder näher kamen, bestätigten das.

Er mußte jedoch immer noch in das benutzte Zimmer.

Dort würde er unter dem Bett nachsehen und den Schrank öffnen, und während er dort nachsah, hatte sie noch ein paar Sekunden, um an diesem Zimmer vorbei wieder auf die Treppe nach unten zu gelangen. Dort lief sie vielleicht dem Verwalter in die Arme, aber hier oben saß sie auf jeden Fall in der Falle.

Sie verlor Zeit, weil die Tür zufiel, als sie versuchte, sie zu öffnen. Und da sie sich umdrehen mußte, um sie wieder aufzumachen, war sie, endlich draußen, noch nicht einmal halbwegs auf der Höhe des bewohnten Zimmers, in dem Ashford nach ihr suchte, als sie hörte, wie er zur Tür zurückkam.

Rasch wandte sie sich statt dessen zum Speicher und betete, daß sie trotz der Panik, die sie überfiel, die Treppe hinaufkäme. Es gab immer noch die Hoffnung, daß der Speicher groß genug und so voller Gerümpel war, daß er sehr lange brauchen würde, um ihn zu durchsuchen.

Und dann hätte sie vielleicht eine Chance, an ihm vor-beizuschlüpfen und wieder hinunterzulaufen.

Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie die Tür oben an der Treppe geöffnet hatte. Der Speicher war riesen-groß, er erstreckte sich über die gesamte Länge des Hauses – und er war völlig leer. Sie hätte wissen müssen, daß er leer war, schon allein wegen der spärlichen Möblierung in den Untergeschossen. Wem auch immer dieses Haus gehört haben mochte, er hatte alles mitgenommen. Und wem auch immer es jetzt gehörte – und das war wahrscheinlich Ashford –, er hatte kaum etwas Neues hierhergebracht; weil er nicht die Absicht hatte, hier zu wohnen. Er gebrauchte es wegen seiner einsamen Lage nur als Versteck für seine Grausamkeiten.

Niemand würde hier die Schreie der Gequälten hören.

Es war ein Gefängnis ...

Und sie konnte jetzt nicht mehr entkommen. Er war schon auf der Treppe.

Die Tür würde jeden Moment aufgehen. Und sie konnte sich nirgendwo verstecken. Sie saß in der Falle, und sie war immer noch gefesselt. Hätte sie wenigstens die Hände frei gehabt, dann hätte sie kämpfen können ...

Die Tür ging auf – und sie starrte ihn an. Er lächelte und stellte seine Lampe ab. Durch die Dachfenster fiel genug Licht, hier brauchte er keine Lampe.

Bei seinem Lächeln stockte ihr das Blut in den Adern.

Er hätte eigentlich ärgerlich sein müssen, daß er wegen ihr das ganze Haus hatte durchsuchen müssen. Er hätte vor Wut schäumen müssen. Aber er wirkte überhaupt nicht ärgerlich, eher erfreut und erheitert.

Plötzlich merkte sie, daß dies zu seinem Spiel gehörte.

Er ließ ihr die kurze Hoffnung, ihm entkommen zu können – bevor er sie zerschlug. Deshalb war er ihr nicht gleich gefolgt. Der Bastard hatte gewollt, daß sie weglief, hatte gewollt, daß sie dachte, sie hätte eine Chance, und dabei hatte sie die ganze Zeit über nicht die geringste Chance gehabt. Sie hatte nur das Unver-meidliche hinausgezögert.

»Komm schon, meine Hübsche.« Er winkte ihr, als erwartete er wirklich, sie käme zu ihm. »Du hattest deine kleine Chance.«

Seine Worte bestätigten nur ihre Gedanken, und Kelsey sah rot. Sie konnte nicht kämpfen? Und ob sie das konnte!

Ohne nachzudenken, stürzte sie sich mit ihrem vollen Gewicht auf ihn. Es war ihr gleichgültig, ob sie die Treppe hinunterstürzte, solange nur er ebenfalls hinun-terfiel. Und das tat er. Ihr Angriff hatte ihn völlig überraschend getroffen, sie jedoch fand das Gleichgewicht wieder.

Verblüfft starrte sie ihm nach. Er lag mit gespreizten Armen und Beinen unten an der Treppe, sicherlich nicht tot, aber offensichtlich betäubt. Sie flog die Stufen hinunter, sprang über seine Füße und rannte zu der anderen Treppe.

Endlich hatte sie wieder Hoffnung. Der Verwalter war vielleicht noch im Keller und wartete darauf, daß sein Herr sie zurückbrachte. Ashford hatte sie schließlich gar nicht so schnell finden wollen. Das hätte ihm den Spaß verdorben.

Aber sie irrte sich und rannte dem Verwalter direkt in die Arme, als sie um die Ecke bog, um zur Treppe zu gelangen. Und er fiel durch den Zusammenprall nicht die Treppe hinunter wie Ashford von der Speicher-treppe. Ihr blieb die Luft weg, er jedoch stand da wie ein Klotz und rührte sich nicht von der Stelle.