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Es war Tradition, daß sich der Malory-Clan an Weihnachten auf Haverston traf. Derek blieb für gewöhnlich ein oder zwei Wochen lang, wie die meisten aus seiner Familie. Er hatte auch dieses Jahr nichts anderes vor, aber weil er so lange wegbleiben würde, nahm er Kelsey mit. Nicht nach Haverston natürlich, obwohl er das am liebsten getan hätte.

Wie gern hätte er ihr den Besitz gezeigt, auf dem er aufgewachsen war, sie dem Rest der Familie vorgestellt und sie unter dem Mistelzweig über dem Eingang zum Salon geküßt. Aber all das war nicht möglich – zumindest nicht, bevor sie einwilligte, ihn zu heiraten, und er hatte

dieses

Vorhaben

keineswegs

aufgegeben.

Er

hoffte, daß die Zeit für ihn arbeitete, und wartete auf eine ideale Gelegenheit, um das Thema wieder anzu-schneiden. Eine Gelegenheit, bei der sie hoffentlich nicht sofort wieder ablehnen würde.

Also brachte er sie in einem netten Gasthaus in der Nähe unter, wo er sie jeden Tag besuchen konnte. Aber eigentlich gefiel ihm das nicht, und deshalb war er auch in gedrückter Stimmung. Er fragte sich, ob Reggie ihm deswegen gleich bei der Begrüßung ans Schienbein getreten hatte. Nein, sie hatte ja noch gar keine Zeit gehabt, um zu bemerken, daß er grübelte. Außerdem sah es ihr ähnlich, ihn ohne Grund zu treten, dieser kleinen Hexe – und ihm nicht zu sagen, warum.

Amy und Warren waren von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt. Das frischverheiratete Paar sah strahlend glücklich aus, was nur noch zu Dereks Elend beitrug.

Um auf andere Gedanken zu kommen, versuchte Derek zu ergründen, wer wohl die langjährige Mätresse seines Vaters sein mochte. Aber er konnte es nicht erraten. Haverston war einfach zu groß, und es waren zu viele Leute dort beschäftigt, die schon da waren, solange er denken konnte. Das einzige, was ihm zu tun blieb, war, seinen Vater einfach zu fragen. Aber da die ganze Familie sich im Haus aufhielt, war es schwer, ihn allein anzutreffen.

Am dritten Tag jedoch gelang es ihm. Jason war früh aufgestanden,

und

Derek

kam

gerade

von

seinem

Nachtbesuch bei Kelsey nach Hause. Sie trafen sich auf der Treppe. Derek war müde – die Zeit, die er mit Kelsey verbrachte, verging nicht im Schlaf – und hätte fast seine Frage einfach hervorgesprudelt, aber das wäre ein wenig taktlos gewesen. Statt dessen bat er um ein Gespräch unter vier Augen und folgte seinem Vater in dessen Arbeitszimmer.

Es war so früh am Morgen, daß die Vorhänge noch nicht aufgezogen waren. Jason besorgte das, während Derek sich in einen der Sessel am Schreibtisch fallen ließ.

Und dann brach es doch aus ihm heraus: »Wer ist die Mätresse, mit der du hier die ganzen Jahre über zusam-mengelebt hast?«

Jason blieb stehen. »Wie bitte?«

Derek grinste. »Du kannst es ruhig zugeben. Ich habe aus erster Hand erfahren, daß deine Mätresse hier mit dir auf Haverston lebt. Wer ist es?«

»Das geht dich nichts an«, erwiderte Jason steif. »Und was heißt aus erster Hand?«

»Von Frances.«

»Dieses verdammte Weib«, explodierte Jason. »Sie hat geschworen, daß sie dir nichts sagt.«

Derek war zu müde, um die Bedeutung der Worte seines Vaters zu erfassen. »Ich glaube, sie wollte es auch gar nicht«, gestand er. »Ich habe sie und ihren Liebhaber getroffen, weißt du. Und ich hätte ihn fast verprügelt.«

Jason blinzelte und brach dann in lautes Lachen aus.

Nach einer Weile hustete er jedoch und fragte mit aus-drucksloser Miene: »Ist er davongekommen?«

»O ja. Es wäre nicht besonders sportlich gewesen, einen so winzigen Kerl zu verprügeln. Obwohl mir das gar nicht so bewußt war. Aber Frances hielt mich davon ab, indem sie mich anschrie und von deiner Mätresse redete. Ich glaube, sie wollte eher sich verteidigen und dir die Schuld für ihre Untreue zuschieben. Sie hat behauptet, du hättest nie mit ihr die Ehe vollzogen. Gott, das war eine ziemliche Überraschung.«

Jason lief rot an. »Ich dachte, ich hätte mich klar dazu geäußert, als ich der Familie mitteilte, daß ich mich scheiden ließe.«

»Du hast gesagt, ihr hättet nie eine richtige Ehe geführt, aber ich habe nicht gedacht, daß sie so ungewöhnlich war. Ich meine, all die Jahre – und nicht ein einziges Mal ...? Aber Frances behauptete, du hättest von Anfang an nie alleine geschlafen. Und das hat mich vor Neugier fast umgebracht: Du hattest die ganze Zeit über eine Mätresse, und ganz offensichtlich immer die gleiche. Das ist eine unglaublich lange Zeit für eine Beziehung mit einer einzigen Frau, zumindest mit einer, mit der man nicht verheiratet ist. Wer ist es denn?«

»Ich wiederhole, das geht dich nichts an.«

Derek seufzte. Jason hatte natürlich recht, es ging wirklich nur ihn selbst etwas an. Allerdings wünschte Derek, daß sein Vater genauso über das Privatleben seines Sohnes denken würde, aber leider kümmerte sich Jason um dessen Privatangelegenheiten sehr viel – zumindest, wenn Derek sie nicht geheimhielt. Und auch jetzt tat er das.

»Da wir schon einmal von Mätressen sprechen — was hast du dir eigentlich dabei gedacht, deine zum Abendessen in das Haus deiner Cousine mitzubringen?«

fragte Jason.

Derek fuhr wütend aus seinem Sessel hoch. Verdammt, er hatte nicht damit gerechnet, daß das Blatt sich wenden würde. Jetzt kam er sich hintergangen vor.

»Wer hat dir das gesagt? Onkel James? Onkel Tony?«

»Beruhige dich. Du solltest wissen, daß meine Brüder mir nie etwas erzählen, das mich interessiert. Ich habe jedoch mit James gesprochen. Er machte sich Sorgen, daß du zu sehr an dem Mädchen hängst, aber mehr wollte er mir nicht sagen. Und das Abendessen hat er gar nicht erwähnt.«

»Woher weißt du .. «

»Ich habe es von meinem Kammerdiener erfahren, der hinter Georginas Mädchen her ist, und sie hat gehört, wie James und seine Frau darüber redeten. Und James hat noch nicht einmal seiner Frau gesagt, daß sie mit deiner Mätresse zu Abend essen würde. Sie weiß es immer noch nicht, soviel mir bekannt ist. Aber der Name des Mädchens wurde erwähnt, und wenn du dich erin-nerst, hast du selbst ihn mir gesagt. Also – ist sie nun Percy Aldens Cousine oder nicht?«

Derek zuckte zusammen. Sein Vater hatte offenbar angenommen, sie sei Percys Cousine, und daher rührte zumindest zum Teil seine Mißbilligung.

»Sie ist nicht seine Cousine«, versicherte Derek ihm.

»Jeremy hatte diese Idee, als Reggie uns mit Kelsey beim Rennen traf. Reggie hatte sie schon früher kennengelernt und war ganz wild darauf, sich mit ihr anzufreunden. Jeremy wollte Reggie – oder eigentlich uns allen – nur eine Peinlichkeit ersparen.«

»Warum, um Himmelswillen, möchte Reggie sich mit einer solchen Frau anfreunden?«

»Vielleicht, weil sie gar nicht eine solche Frau ist«, entgegnete Derek verteidigend.

Jason seufzte und setzte sich an seinen Schreibtisch.

»Ist schon gut, du weißt, wie ich es gemeint habe«, murmelte er.

Auch Derek seufzte. Natürlich wußte er es. Aber er war ein bißchen empfindlich, wenn es um Kelsey ging. Liebe und die Gefühle, die sie in ihm weckte, waren ihm neu.

Und bis jetzt fand er es überhaupt nicht erfreulich.

Am liebsten hätte er darüber mit seinem Vater geredet.

Aber er wollte Jason nicht noch mehr aufschrecken, indem er ihm sagte, daß er die Frau gefunden hatte, die er heiraten wollte. Das hätte im Augenblick zu nichts geführt.

Also versuchte er zu erklären und sagte: »Das Problem ist, Kelsey sieht aus wie eine Lady, sie benimmt sich wie eine Lady, sie klingt sogar wie eine Lady. Die meiste Zeit ist es verteufelt schwer, sich klarzumachen, daß sie nicht von Adel ist.«

»Bist du da denn sicher?«

Diese Frage wurde ihm nicht zum ersten Mal gestellt.

Und wieder mußte er darüber nachdenken. Was wußte er eigentlich wirklich über Kelsey außer dem, was sie ihm selbst erzählt hatte? Aber sie würde ihn doch nicht anlügen, oder? Nein, das würde sie nicht. Da war er sich ganz sicher – nun ja, fast sicher.

Ein winziger Zweifel ließ ihn jedoch zugeben: »Ich weiß von ihr nur, was sie mir selbst erzählt hat, und das ist nicht viel, aber sie hat keinen Grund, mich anzulügen. Und wenn ich bedenke, wie ich sie erworben habe ...«

»Ja, ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber du hast mir immer noch nicht erklärt, warum du sie zum Abendessen bei deiner Cousine mitgenommen hast. Das war zuviel des Guten, mein Junge.«

»Ich weiß, aber Reggie bestand darauf, und solange sie glaubte, Kelsey sei Percys Cousine, dachte ich, es könne nicht schaden. Außerdem haben wir Reggie erzählt, Kelsey ginge wieder aufs Land zurück, damit es ihr nicht

einfiele,

die

Freundschaft

weiter

fortzusetzen.

Das hat dem Ganzen ein Ende bereitet, und es ist niemandem Schaden entstanden. Reggie hat sie seitdem nicht mehr wiedergesehen, und sie wird sie auch nicht mehr wiedersehen.« Zumindest nicht, bis ich sie heirate.

Das sagte er jedoch nicht laut. Sein Vater war noch nicht ganz besänftigt, und Derek mußte nicht lange warten, bis er den Grund erfuhr.

»Bindest du dich nicht zu sehr an das Mädchen?«

Derek wäre fast in Lachen ausgebrochen. »Das fragst gerade du mich, wo du deine Mätresse seit mehr als zwanzig Jahren um dich hast?«

Jason stieg wieder das Blut zu Kopf. »Ein Punkt für dich. Tu nur nichts Dummes in Hinsicht auf das Mädchen.«

Etwas Dummes? Wie etwa sich in sie zu verlieben und sie heiraten zu wollen? Zu spät.