My Generation - die Jungs von früher

Als ich mit einem leicht schnaufenden Jens,
den ich nicht erwähnt habe, weil er so schrecklich war mit seinem
dünnen Pferdeschwanz, dem Ohrring und dem ausgelaugten
Hippiegequatsche, in einem Biergarten sitze, fällt mir siedend heiß
etwas auf und ein, was ich entweder verdrängt habe oder mir nicht
bewusst gewesen ist.
Er, der über Arthritis und schmerzhafte
Zahnimplantate schimpft, irgendwas von Bandscheibenschaden murmelt
und täglich zwei Pillen gegen zu hohen Blutdruck und was sonst
nicht alles nimmt, gehört zu meiner eigenen Generation! Genauso wie
ein großer Teil der Männer, die ich inzwischen getroffen
habe.
Ich schlucke und denke: Das ist aus ihnen geworden?
(Mich selbst nehme ich natürlich aus, typisch!)
Was für ein Schock!
Es ist nicht der körperliche Verfall, es ist das
Gesamtbild, die Persönlichkeiten. Die meisten meiner wichtigsten
Beziehungen der letzten fünfundvierzig Jahre haben mit sehr viel
jüngeren Männern bestanden. Und jetzt werde ich plötzlich in das
Universum der Männer meiner eigenen Generation gezogen, der Kriegs-
und Nachkriegskinder - ein Universum, in dem ich mich lange nicht
mehr bewegt habe. All die Haralds, Klaus-Dieters, Peters,
Christians, Klause, Bernds, Heinos, Sigis, Werners, Horsts,
Manfreds,
Hermanns werden vor meinem geistigen Auge lebendig.
Ich sehe sie als freche Jungs, die uns Mädchen
ärgerten, mit Krampen beschossen, an den Zöpfen zogen, uns die
Bälle klauten und wegen der blöden Puppen auslachten. Sie trugen
Sandalen, Lederhosen, Meckifrisuren, verrutschte Söckchen, Anoraks,
Hemden mit Reißverschluss, schoben verbeulte Fahrräder vor sich her
und sammelten Fußballbilder aus Zigarettenschachteln.
Wir Mädchen der Fünfzigerjahre waren wirklich
niedlich mit unseren Zöpfen oder neumodischen Bubiköpfen, den
bunten Baumwollkleidern und Hula-Hoop-Reifen, Springseilen und
bunten Nylonbällen. Brav und frech zugleich, lernten wir uns gegen
die Rüpel zu wehren, aber wir spielten Versteck und Völkerball mit
ihnen und teilten gern Brausepulver und Salmis, Wundertüten und
Prickel-Pit.
Wir gehörten zusammen, denn wir teilten etwas noch
viel Wichtigeres: den Krieg. Egal ob wir vor, in oder nach dem
Krieg geboren waren, er hatte den Menschen einen unverwechselbaren
Stempel aufgedrückt und für ein paar Jahre alle
Bevölkerungsschichten gleich gemacht. Vom Generaldirektor bis zum
Arbeiter.
Auch wenn ich die meisten der Männer, die ich beim
Dating getroffen habe, nicht besonders mochte - bis auf Philipp -,
erkannte ich trotzdem, dass sie mir vertraut waren. Wir teilten
eine sehr wichtige, ereignisreiche und uns für alle Ewigkeiten
formende Kindheit in den Trümmern und der gloriosen Freiheit der
Straße, wie sie nur Kinder haben, die den ständigen Einmischungen
der Erwachsenen entfliehen konnten.
Als ich mich dann in die wunderbar
enthusiastischen, idealistischen Wirren der Sechzigerjahre stürzte,
waren aus
ihnen die neuen Männer geworden, die süßesten von allen. Das
androgyne Männerbild hatte endlich die erstarrten,
kriegsgeschädigten, unsexy Typen der Vätergeneration, aber auch die
unsicheren und eckigen Jungs aus der Konfirmationszeit
verscheucht.
Jetzt hatten viele lange Locken, waren dünn, schön
angezogen, mit oft hübschen, unschuldigen Gesichtern, die gut zu
den idealistischen Gedanken von Peace und Love
passten.
Ich habe immer gedacht, dass ich mich ganz speziell
dieser Generation nahe fühlte, ganz automatisch. Man guckte sich
an, lächelte sich zu wie alte Kameraden, die zusammen im
Schützengraben waren, und musste gar nichts erklären.
Manchmal gilt das noch heute. Man weiß zumindest,
was damals die großen Themen waren. Aufruhr. Demos. Rockkonzerte.
Bauchfreie Jeans. Radikalenerlass. Benzinfreier Sonntag.
Natürlich war diese Zeit nicht für alle so wichtig
wie für mich, aber fürchterliche Koteletten, ein bisschen längere
Haare, ausgestellte Hosen und breite Popkrawatten hatten selbst die
bravsten jungen Männer aus Itzehoe und Bad Reichenhall.
Nun wieder mit ihnen zusammenzutreffen hätte ja
theoretisch sein können, als sei ich von einer Irrfahrt heimgekehrt
und dort gelandet, wo ich hingehöre.
Aber nichts passiert automatisch. Auch das ist
wichtig, das Differenzieren. Ich gehöre »dort« nicht hin. Denn
eigentlich sind sie mir fremd, meine Zeitgenossen, weil ich mich
ziemlich konsequent von bestimmten traditionellen Zielen entfernt
habe.
Es ist sehr verführerisch, von interessanten
Zeiten zu schwärmen, besonders wenn sie in die Jugend fallen und in
diesem
Fall tatsächlich aufregend und so wegweisend waren wie die
Sechzigerjahre. Doch gerade dann soll man dieser Zeit mit großer
Freude nachwinken, nachdem man sich die besten Elemente
herausgepickt hat.
Es ist ein bisschen wie mit Kindern, die das
Elternhaus verlassen. Man liebt sie, man hat mit ihnen gelebt, hat
sie beeinflusst und ist auch von ihnen geprägt worden, und dann
lässt man sie gern ziehen, bereichert und glücklich. Alle sind
erwachsen geworden, sollten es zumindest geworden sein. Sind sie
aber nicht.
Leider ist der unvermeidbare Rainer Langhans, der
sich heute immer noch in alle möglichen Magazine, Bücher und
TV-Shows drängt, kein gutes Beispiel. Einst ein wirklich schlauer,
niedlicher Lockenkopf mit runder Nickelbrille, ist aus ihm ein
säuerlich wirkender graulockiger Apo-Opa geworden, der sich an den
alten revolutionären Zeiten und Zellen festbeißt wie ein Terrier an
einem Dachs. Und das sieht irgendwie nicht erfolgversprechend
aus.
Und ich? Ich halte auch noch an einigen Idealen und
Werten fest, die in den Sechzigerjahren gelebt und vertreten
wurden, weil sie für mich aktuell sind.
Woran ich allerdings nicht mehr festhalte, ist die
Vorstellung, dass ich eine alte Version der jungen Frau aus der WG
bin.
Heute, nachdem ich mit vielen Gleichaltrigen
Kontakt hatte, besonders nach den Treffen mit Heino, Günther und
Dirk, erscheint es mir, als hätte ich in einen schrecklichen
Zukunfts-Horror-Spiegel geschaut. Er zeigt mir, was mit einem
passiert, wenn man mit über sechzig stehen geblieben ist, immer
noch nicht loslassen kann oder nicht erwachsen geworden ist so wie
Heino - oder aber bereits losgelassen
hat, und zwar so, dass man zum schlaffen Abbild seines
alten Selbsts geworden ist.
Allerdings, ich muss zugeben, erwachsen zu werden
oder gar zu sein, richtig erwachsen - das ist das Schwerste der
Welt, weil es Angst einflößt. Angst vor Verlust der frischen
kindlichen Naivität und jugendlichen Energie, die man stets als
Entschuldigung für Unerfahrenheit ins Feld führen kann, wenn man
etwas besonders Dummes und Verantwortungsloses getan oder gesagt
hat.
Ich überlege mir deshalb auch: Ist das eigentlich
wirklich eine gute Kombination in diesem Alter, wenn beide
gleichaltrig sind? Stellt sich da Harmonie ein, nachdem die
Schlachten des jungen Erwachsenenlebens wie Ausbildung, Ehe,
Familie, Karriere geschlagen sind und die Belohnungen des mittleren
Alters wie Souveränität und Genussfähigkeit ausgelebt werden
können?
Theoretisch ja, aber oft erscheinen mir solche
Paarbeziehungen wie zwei Teile eines komplizierten Apparates, bei
dem die Schnittflächen dauernd verrutscht sind.
Männer werden im Alter meist konservativer als
Frauen. Wenn man jung ist, fällt das natürlich nicht so auf. Man
ist einen Moment lang auf gleicher Höhe, das Liebesleben ist
aufregend, viele Diskrepanzen werden verdeckt, man rudert ganz
einfach in einem Boot und glaubt an das gemeinsame Ziel, das
Zukunft heißt.
Aber mit zweiundsechzig merke ich, dass ich nicht
mehr formbar bin. Meine Willigkeit lässt nach, Ansichten, Benehmen,
Stile, Werte und Interessen zu tolerieren, die mir nicht
passen.
Ja, ich bin eigen-willig, weil ich irgendwie
endgültig bei mir selbst gelandet bin und keine männliche
Vervollkommnung suche, nie gesucht habe.
Bei Männern ist es oft genau umgekehrt. Meist stark
verunsichert, wenn eine Frau sie verlässt, und auch, wenn sie sie
selber verlassen, treiben sie wie ein Blatt im Wind rat- und
rastlos von einer Möglichkeit der Bindung zur nächsten.
Eine Umkehrung findet statt: Die einst
bindungsunwilligen Männer wollen kuscheln (und klammern) und einen
Hafen haben. Die einst nach Intimität lechzenden Frauen wollen
endlich frei atmen.
Das ist sicher schon vielen älteren Frauen
aufgefallen: Egal wo man hingeht, in Galerien, zu Lesungen, Kursen
aller Art, ins Kino und so weiter, sind fast immer zwei Drittel der
Besucher Frauen. Frauen sind neugierig, Männern fällt im Alter
nicht mehr so viel ein - da helfen auch keine blutjungen Blondinen
am Arm oder eine neue Harley unterm faltigen Hintern.
Die erfahrenen und gestandenen Frauen dagegen
erfreuen sich an ihren neuen Entdeckungen. Sehr viele von uns
erleben noch einmal eine ziemlich rebellische Phase, weil wir
nichts mehr zu beweisen und nichts zu verlieren haben. Als ob die
ganze Furchtlosigkeit, Frische und Unbestechlichkeit, die einem mit
der Pubertät gewaltsam entwendet wurden, mit voller Kraft
zurückkommen und diesen Verlust endlich wettmachen können.