Ich lieb dich, ich lieb dich nicht

Das Witzige ist, seit ich mit dem
Online-Blödsinn angefangen habe, schießt so etwas wie eine
romantische Parallelwelt aus dem Boden wie frühreife Pilze. Und die
findet außerhalb des Netzes statt. Als ob ich mich versteckt
gehalten oder ein Flirtbazillus die fünfundvierzig bis
sechzigjährigen Männer befallen hätte und ich das perfekte Opfer
bin, werde ich neuerdings angeguckt und angemacht wie in New York.
Vielleicht ist es wirklich ein Naturgesetz, dass immer alles auf
einmal kommt oder, wie es im Englischen heißt: »When it rains, it
pours!« (Wenn es regnet, dann gießt es!)
Ich hatte mich mit einem Peter bei einer
Foto-GalerieEröffnung verabredet. Der ideale Ort, finde ich, denn
sollte das Date langweilig sein, dann gibt es immer noch Kunst, und
wenn die langweilig ist, wie leider oft der Fall, dann gibt es
immer noch Leute, mit denen man quatschen kann.
Peter und ich waren uns über das Thema Schokolade
nähergekommen.
Erst hatte er mir gemailt: »Du siehst interessant
aus.«
Ich daraufhin: »Ja, und?«
Und dann entwickelte sich eine recht witzige
Unterhaltung, bei der irgendwie herauskam, dass sein Großvater der
Direktor einer Schokoladenfabrik gewesen war, an der ich bis zur
vierten Klasse auf meinem Schulweg vorbeigehen musste. Es roch
immer herrlich, und wir Kinder blieben
stehen und schnupperten. Wohl in der Hoffnung, dass ein
freundlicher Gönner mit einer Schubkarre aus der Fabrik rollen und
uns vernaschten Gören stapelweise Schokoladentafeln zustecken
würde. Das passierte aber nie.
Ich mochte Peter sofort noch lieber, denn alles,
was uns aus der Kindheit vertraut ist, ruft scheinbar sehr positive
Gefühle hervor. Er war sechsundfünfzig Jahre alt und hatte immer
noch mit Schokolade zu tun, allerdings als Exporteur.
Wir telefonierten, und er war lustig und wollte
mich gern mit Schokolade überziehen (und wahrscheinlich ablecken).
Es hörte sich überhaupt nicht pervers, sondern verspielt an, und
ich hatte auch etwas auf die Bemerkung hingearbeitet. Er sah auf
dem Foto ein bisschen aus wie ein Bürokrat mit einer blühenden
Fantasie. Vielleicht würde es ein vergnügter Abend werden.
Der Peter, der kommt, ist kleiner (schon wieder!)
als angegeben, hat Haare mit echtem rötlichem Stich und trägt ein
Tweedjackett, eine gelbe Wollweste und eine Fliege! Irgendwie passt
er in einen Harry-Potter-Film. Er ist tatsächlich recht lebendig
und wir unterhalten uns über die Fotos (Amerika in den frühen
Sechzigerjahren).
Aus den Augenwinkeln bemerke ich einen Mann, der
mich schon zweimal angeguckt hat. Graue Haare, interessantes, etwas
verlebtes Gesicht, sehr nettes Lachen, prüfende Augen. Als Peter
schon wieder einen Wein holt, gucke ich wie zufällig in seine
Richtung, und er kommt wie zufällig näher - ein nettes Spiel.
Nach zwei Sätzen über das klassische
Kennedy-Attentat-Foto und darüber, wo wir waren, als es passierte,
fragt er: »Bist du allein hier?«
Ich nicke, sage aber: »Ich bin mit einem Bekannten
gekommen.«
Nie im Leben würde ich zugeben, dass ich mit einem
Blind-Online-Date da bin. Also immer noch die kleine
Spießerin.
Ich hatte mir gerade eingeredet, dass Peter soo
schlecht ja nicht sei, er könnte ja reich sein und mein
persönlicher Förderer werden. Aber das mit der Anziehungskraft geht
blitzschnell, und nun stehe ich da mit diesem Philipp, so heißt er,
und bin kurz davor, mir neckisch durchs Haar zu fahren und das noch
nicht aufgebrauchte Potenzial für ein erotisches Lächeln
zusammenzukratzen.
So ein Benehmen passiert wie auf Knopfdruck, wenn
man an einem Mann interessiert ist. Kennen wir nicht alle
Situationen, in denen ansonsten vernünftige Frauen nicht
wiederzuerkennen sind, nur weil ein Mann die Szene betritt? Ihre
Stimme ist lauter und Oktaven höher, ihre Körperhaltung straffer.
Und wir als Freundinnen wollen sie dann immer gern kicken oder auf
den Mond schießen.
Philipp ist sehr, sehr nett, ein bisschen kompakt,
das ist dezent ausgedrückt, mit keineswegs zartgliedrigen Händen,
die zupacken können, einem entwaffnenden Lachen, etwas dröhnend
vielleicht, aber irgendwie sitzt der Schalk in den mit vielen
Fältchen gesäumten dunkelblauen Augen. Das einzige Problem ist die
Cordjacke in olivgrün, die altmodischen hellbraunen Halbschuhe
lassen wir mal durchgehen …
Wenn man jemanden spontan mag, dann ist es, als
wenn eine Tür aufgeht, finde ich. Und man möchte gern durchgehen,
bis zur nächsten Tür und wieder der nächsten und immer weiter, bis
man ans Herz oder die Seele kommt oder wie man das nennen mag, das
sich wie ein Zuhause anfühlt, in das man dann eintreten darf.
Ich würde wirklich gern das Gesetz der Attraktion
erklären und auch ergründen, aber wie alles zwischen Männern und
Frauen ist und bleibt rätselhaft, warum es der sein muss und
nicht der andere. Das ändert sich auch im Alter nicht.
Natürlich haben Soziologen und Hirnforscher das
Phänomen der Liebe und Sexualität längst geklärt. Wir haben weniger
Einfluss darauf, als wir uns oft einbilden. Während wir sehr wohl
die Kraft und die Intelligenz haben, aus verhängnisvollen
Beziehungen auszubrechen, die uns einmal als der Himmel auf Erden
erschienen, so können wir die geheimnisvolle Chemie, die dazu
führt, dass wir stottern, rot werden, mit unseren Haaren spielen,
dieses überdrehte Gelache haben (auch mit sechzig!), das nur Frauen
haben, die an einem Mann interessiert sind, weder ergründen noch
steuern. Wir können nur schnell wegrennen, wenn der Falsche
kommt.
Nur, wer zum Teufel ist der Falsche? Klar, ein
ungehobelter, intoleranter, saufender Rassist ist nicht schwer
auszumachen, aber was ist mit den Grenzfällen? Der herzliche Mann
mit Charme und guten Manieren, witzig, wohlhabend und
charakterfest, warum darf er nicht der Richtige sein und wird
weggeschickt? Und warum darf der rücksichtslose, unzuverlässige
aber teuflisch sexy bad boy unter unsere Haut und ins Bett
kriechen und dort Chaos anrichten?
Philipp wirkt zwar nicht wie ein bad boy,
bei dem die Alarmlampen angehen sollten, aber er hat eine sexuell
verschlingende Aura, die erotisierend ist. Er ist ein Jahr jünger,
geschieden (wer nicht?), hat zwei fast erwachsene Kinder und
arbeitet in der Kunstszene als Organisator.
Unsere Augen klicken ineinander ein wie Schlüssel
und Schloss, und wir vertiefen uns in eine Unterhaltung, bei der
wir scheinbar die anderen vergessen.
Auch Peter, der kommt und mich abholen will.
Mir ist alles egal.
»Ich habe einen alten Freund getroffen und möchte
jetzt hier nicht weg«, lüge ich und zwinkere Philipp zu wie jemand
in einem neckischen Werbespot.
Peter gefällt das nicht, aber er trollt sich.
Philipp legt den Arm um meine Taille, zieht mich zu
sich und raunt: »Bei dir muss man ja aufpassen.«
Ich nicke. Mir gefällt das alles sehr. Wir flirten
weiter, und ich denke: »Was mache ich jetzt bloß mit ihm?«
Wir haben zwei Gläser Wein getrunken, es ist noch
nicht mal neun. Plötzlich beugt er sich vor und küsst mich auf den
Mund. Vor allen Leuten. Nicht lange, so wie im Film, aber fest
genug, um zu merken, dass er sehr gern küsst und wirklich weiß, wie
man es macht.
Ich bin verblüfft und geschmeichelt und sage nur
»Hey!« und schiebe ihn weg.
Wir müssen ins Kino, finde ich plötzlich, das ist
der ideale Platz für eine altmodische Annäherung, obwohl ich ja
gerade das im Moment abzuwenden scheine. Ich will wissen, was mit
uns im Dunkeln passiert, wenn wir nebeneinandersitzen. Es ist
einige Jahre her, dass ich mit einem aufregenden Typen im Kino war.
Es gibt sicherlich einen alten Film irgendwo zur
Spätvorstellung.
Ach, Kino, Jungs und erste Annäherungsversuche,
was war das für ein komplexes Unterfangen, und die offizielle
Vorstufe zum Knutschen im Auto. Jedes Mädchen wusste, wenn ein
Junge mit ihr ins Kino gehen wollte, hieß das: letzte Reihe,
Grabbeln, Kichern und, wenn er Glück hatte, Knutschen, während auf
der Leinwand Krimi, Lustspiel oder Western abspulte. Was wirklich
egal war, denn auch nur
seine Hand sachte auf dem Schenkel zu fühlen oder seinen Arm auf
der Rückenlehne zu wissen war spannender. Gut für Schüchterne war
daran, dass man tun konnte, als würde man es nicht merken - ganze
zwei Stunden lang (mit Vorfilm, den es früher immer gab). Ganz,
ganz forsche und erwachsene Mädchen wagten dann den vorsichtigen
Griff ans Glied; man konnte das im flackernden Licht sehen, denn
die ganze letzte Reihe war scheinbar exklusiv für Pärchen
reserviert. Natürlich ist der romantische Bedarf an letzten Reihen
im Kino stark zurückgegangen, schon allein deshalb, weil
öffentliche Liebesbeweise weder geheim gehalten werden müssen noch
Empörung provozieren. Heute kann man Sex in der U-Bahn haben und
keiner guckt.
Philipp gefällt die Idee, und wir machen uns auf
den Weg ins Kino. Es gibt leider nur Der Pate 2, zu lang, zu
laut, zu brutal.
Wir gehen trotzdem rein, setzen uns natürlich nicht
in die letzte Reihe, aber kaum wird es dunkel, nimmt er meine Hand.
Dann streichelt er sie, dann gleiten seine Fingerspitzen über die
Handfläche, weiter über den Puls bis zur Armbeuge. Wie schön, dass
meine Arme unbedeckt sind. Ein göttliches Gefühl, der Mann ist
sinnlich. Endlich ein Volltreffer, Cordjacke hin oder her.
Unsere Finger verhaken sich und spielen
miteinander, und ich finde es ziemlich aufregend, rutsche tiefer in
den Sitz und habe schmutzige Gedanken. Schade, dass ich keinen Rock
anhabe … Mein Hirn arbeitet fieberhaft, während Marlon Brando vorne
nuschelt. Soll ich Philipp mit nach Hause nehmen? (Er wohnt viel zu
weit weg.)
Er drückt meinen Arm, küsst mich aufs Ohr und
flüstert, als könne er Gedanken lesen: »Wollen wir gehen?«
Ich nicke, die Corleones sind zu blutrünstig für
meine sexualisierten Gedanken.
Im Auto sagt er sofort: »Fahren wir zu dir? Hast du
Lust? Natürlich nur auf einen Kaffee!« Er lächelt gespielt arglos
in die aufgeladene Spannung hinein.
»Natürlich«, sage ich, »nichts liebe ich mehr, als
nachts Kaffee zu trinken. Am liebsten nackt.«
Er lacht. Ich habe ein dumpfes Gefühl der Angst,
das ich mit dem albernen Geplänkel überspiele.
Was wird passieren? Werde ich es mögen? Bitte, lass
es mich mögen!
Geht es denn je um irgendetwas anderes? Es geht
nicht nur um Befriedigung, es geht um das Prinzip Hoffnung und die
Chance zum Glück. Wir sind süchtig nach Glück und möchten es am
Leben erhalten. Für immer. Bis wir tot sind.
Wie sieht die Wohnung aus? Habe ich mein Bett
gemacht, ist das blöde Gleitgel, das auch schon Jahre alt ist,
greifbar? Gut, dass ich keine Sexmagazine am Bett liegen habe, die
meinen sexuellen Notstand verraten, wie es sicherlich bei einigen
Herren der Fall ist. Die Gedanken sind sofort aus meinem Kopf
verschwunden.
Sobald wir bei mir sind, geht alles ganz schnell,
genau so, wie ich es mag, denn verrückt wie ich bin, neige ich
immer dazu, alles zu verkomplizieren, wenn ich zu viel Zeit
habe.
Erst kommt das Küssen. Er fängt damit an, sehr
leidenschaftlich. Wir küssen uns viel. Und wir lachen. Lippe auf
Lippe, während die Lust steigt. Ich bin begeistert, endlich mal
einer, der Küssen kann und vor allem will.
Ich bin ja ein großer Kussfan, aber leider haben
nur wenige diese so subtil erregende Kunst gelernt, genauso wenig
wie das Flirten. Zwei Drittel aller Frauen gaben in einer
Umfrage an, dass ein Mann gut küssen muss. Und oft. Und eben an
Qualität sowie auch Quantität hapert es scheinbar, denn jeder
Dritte (inklusive Männer) kann sich nicht mehr an seinen letzten
Kuss erinnern, behauptet Partnerbörse Elite.
Was im starken Gegensatz zur Tatsache steht, dass
sich praktisch jeder an seinen ersten Kuss erinnert. Ich bin
in den letzten fünf Monaten ein paarmal geküsst worden - von
Fremden und Freunden - und erinnere mich daran. Nicht
schlecht für eine ältere Dame, oder?
Meine Wohnung ist klein, und das ist sehr günstig,
denn ohne große Umschweife liegen wir schnell flach auf dem Bett,
und unsere Körper arrangieren sich von selbst in harmonische
Positionen. Die störende Klippe von Cremes und Kondom wird kaum
wahrnehmbar umschifft.
Das Gewicht von einem kräftigen männlichen Mann
bringt Urgefühle von natürlicher Hingabe hoch, finde ich, kein
Kampf ist nötig, fließende Bewegungen entstehen.
Sex ist, als ob man tanzend Barrieren einreißt, man
besinnt sich auf Austausch, Auflösung und Transzendenz - ein
schöner Moment.
Wir liegen danach atemlos und sicherlich etwas
überrascht da, sichtlich zufrieden. Doch dann steht er vom Bett auf
und geht kurz raus, ich blicke ihm nach und denke, dass er noch
einen ziemlich flotten Arsch hat. Besonders in dem gedimmten Licht.
Der absolute Wahnsinn ist aber, und das fällt mir erst jetzt auf,
er ist der erste Mann über fünfzig, mit dem ich im Bett bin!
Ich kuschele mich tiefer in die Kissen und ziehe
die Bettdecke unter meine Nase, schnuppere und lächle, während ich
mich recke. Ich weiß nicht, warum man das macht, denn
ich glaube nicht, dass ich die Einzige bin, die dazu neigt. Es ist
sicherlich dieser Geruch von Haut, Schweiß, Sperma, Parfum, anderen
Duftnoten und allem, was dazugehört.
Wie wenig sich Bettszenen ändern, wie wenig wir uns
ändern! Ich glaube, Bewegungen bleiben stets gleich. Wir umarmen
auf eine gewisse Art, wir küssen auf eine bestimmte Art, die halb
erlernt ist und halb aus unseren ganz persönlichen Tiefen kommt -
unser intuitiver körperlicher Weg, um mit der Welt zu kommunizieren
und sich mit den Menschen zu verbinden. Dazu kommt natürlich, wie
wir aufgewachsen und erzogen worden sind, wie zärtlich und offen
unsere Eltern waren und der Grad unseres individuellen
Temperaments.
Philipp kommt zurück. Mein Lächeln erstarrt, er
hat eine Schachtel Zigaretten in der Hand! Es gibt sicherlich
wenige passionierte Nichtraucherinnen unter der Sonne, die sich
mehr über Raucher aufregen als ich, sie kaum in die Wohnung und
schon gar nicht dort rauchen lassen. Dort, wo wir uns getroffen
hatten, durfte nicht geraucht werden, und er hat es wohl ohne
Zigaretten ausgehalten.
Obwohl, ich hatte schon ein klein bisschen Rauch an
ihm gerochen, wollte aber nichts sagen, um mich nicht um ein
erotisches Abenteuer zu bringen.
»Sorry, hier wird nicht geraucht, tut mir leid«,
erkläre ich ihm, und sofort verändert sich die Stimmung. Ein
feindlicher Luftzug weht durchs Zimmer.
Raucher sind irrationale Süchtige mit
narzisstischen Störungen, die absurde Rechtfertigungen für ihre
Sucht haben, wovon »Ich rauche gern« die aberwitzigste ist.
Ich hoffe, dass ich mich jetzt nicht mit Philipp in
einer Raucherdebatte verheddere.
Er zieht seine Hose an und verlässt das
Schlafzimmer mit der Frage: »Kann ich auf dem Balkon
rauchen?«
Ich nicke nur und weiß, dass die Nacht gelaufen
ist, wenn nicht ein Wunder in Form von Gutwilligkeit und Diplomatie
passiert. Mir kommt das alles sehr bekannt vor.
Das ist wohl so: Wenn man sechzig ist, dann
erinnert jeder Mann einen unweigerlich an einen anderen, den man
irgendwo und irgendwann in seinem Leben gekannt, geliebt oder
vielleicht gehasst hat. Durch Gesten, Stimmlagen, Gesichtsausdruck
und vor allem durch all die Storys, Ausreden, ihren netten und auch
weniger netten Ticks.
Keiner hat die Chance, frisch angesehen und ohne
Vorurteile akzeptiert zu werden und völlig unbelastet in dein
unschuldiges Leben zu spazieren. Und natürlich umgekehrt genauso.
Der Ballast, der nach so vielen Jahren der einstigen Naivität den
Schuss Zynismus verpasst hat, ist nicht so leicht
wegzuschieben.
Es ist nicht einfach, einen fremden Menschen
vollkommen zu mögen und zu akzeptieren. Es gibt viele Hindernisse
auf diesem Weg zur Toleranz, der eigentlich weniger dornig und
hindernisreich sein sollte.
Ich kann nicht mit einem Raucher zusammen sein, so
viel weiß ich. Ich liebe meine Gesundheit und finde Menschen mit
schädlichen Angewohnheiten - ja, eigentlich charakterschwach. Man
raucht und säuft einfach mit sechzig nicht mehr, genauso wie man
keine Karottenhosen trägt oder sich groteske schwarze Tätowierungen
auf die Arme machen lässt.
Als ich sechsunddreißig war und mich Hals über Kopf
verliebte, sah ich zwei Monate darüber hinweg, dass der Traummann
den Morgen mit einer Zigarette in der Hand begann, die er aus dem
Fenster hielt. (Bei mir in der Wohnung!) Das Gute war, dass es ihn
selbst nervte.
Ich sagte zwar nicht, Nikotin oder Sex, entscheide
dich, aber meinte so was in der Richtung.
Er hörte von heute auf morgen auf. Cold
turkey. Und sagte mir immer, dass er mir ewig dafür dankbar
war, auch wenn er sonst unter mir gelitten habe.
Ich glaube, Philipp ist weder dankbar noch denkt
er daran, das Rauchen aufzugeben. Nikotin, du Feind meines
Sexlebens! Verdammte Zigarettenindustrie!
Er kommt aber noch mal ins Bett, nimmt mich in den
Arm, guckt mir in die Augen und sagt: »Du wirst dich daran gewöhnen
müssen, dass Menschen Sachen tun, die du nicht magst.«
Stimmt.
Aber ist das möglich? Die Obsession, sich absolut
und unter keinen Umständen mit einem weniger als perfekten
Traummann zufriedenzugeben, ist relativ neu. Philipp und ich sind
beide Zeitgenossen der Emanzipation, und die hat uns Wichtiges und
Großes beschert und ermöglicht, aber auch das konventionelle
Glücksstreben erschwert und einen kräftigen Riss in romantischen
Bildern hinterlassen. Auf beiden Seiten.
Nichts war mehr eingegrenzt, die bekannten
Richtlinien, ja auch eine Stütze, wurden zum Hindernis, weil nicht
nur die Gehälter, sondern auch die Ansprüche der Frauen irrsinnig
gestiegen waren. Aber noch wichtiger war die Erkenntnis, dass nicht
irgendein Mann, nur weil er Mann und daher eine natürliche
Kostbarkeit war, eine Hauptrolle übernehmen konnte. Dadurch ist
auch das Konzept Mann ein anderes geworden. Er ist ein bisschen
entmythologisiert worden, längst nicht mehr das Sonnensystem, um
das die kleinen
Frauenplaneten kreisen. Ich glaube, jeder Mann, der mit einer
selbstbewussten Frau zusammen ist, spürt das.
Tja, Philipp, so ist das. Was machen wir
nun?
Er muss nach Hause, sammelt seine Klamotten vom
Boden auf, zieht sich an, nimmt die Cordjacke und verabschiedet
sich mit einem festen Kuss.
Ich bleibe allein zurück. Ein bisschen traurig und
ein bisschen einsam.
Und nun?
So kurz, so schön, so vorbei? Nicht schon wieder!
Ich hätte mich gern noch mit ihm im Bett unterhalten, ineinander
verschlungen, mein Kopf an seiner Brust - und all die intimen
kleinen Geschichten ausgetauscht, die man nur im Bett erzählt, wenn
glücklicher Sex all die Ängste und Barrieren etwas aufgelöst hat
und die Gesichter endlich so natürlich und schön aussehen, wie sie
vorgesehen sind.