Das Alter ist nur eine Zahl

Ich gehöre zu den Frauen, die sehr viel
jünger aussehen, als sie sind, und deshalb machte ich mich immer
zwei Jahre älter, bis ich sechsundzwanzig wurde. Mein dreißigster
Geburtstag erschien mir wie eine Teenagerparty. Albern und
idealistisch, lachend und tanzend wollte an dem Tag kein bisschen
»Erwachsenheit« in mir aufkeimen. Und noch als
Zweiunddreißigjährige auf einer Reise durch Amerika musste ich im
Supermarkt meinen deutschen Pass zeigen, weil ich mit meinem Freund
Wein kaufen wollte.
»Are you over eighteen?«, fragte die Kaugummi
kauende Kassiererin, und ich prustete los. Halb geschmeichelt, halb
empört. Ich trug Zöpfe und Latzhosen im Hippie-Stil, daran muss es
gelegen haben.
Gleichzeitig wollte ich unbedingt »reif« aussehen,
weil ich das mit »interessant« verband, und sehnte mich nach diesem
gewissen Gesicht, zu dem einem nicht unbedingt Worte wie niedlich,
hübsch oder bezaubernd einfielen.
Das Gesicht habe ich heute wohl mehr oder
weniger.
Was mir in den Internet-Singlebörsen ziemlich
schnell auffiel, war die Tatsache, dass über die Hälfte der
Anfragen von jüngeren Männern kamen. Drei Jahre jünger ist ja
ziemlich normal, aber zehn, zwanzig und dreißig Jahre jünger?
Was ist los? Ist Knappheit unter den jungen Frauen
ausgebrochen? Bin ich so heiß und unwiderstehlich, oder hat
sich das Sex- und Partnerschaftsmuster tatsächlich gelockert und
gewandelt und den Realitäten der sich stark geänderten Frauenrollen
angeglichen?
»Ach, Alter ist doch nur eine Zahl«, wurde ich
belehrt, wenn ich auf Anfragen von Männern Anfang vierzig so Sätze
schrieb wie: »Bisschen jung, oder?«
Zugegeben, nicht irrsinnig originell.
»Können Sie sich auch vorstellen«, plötzlich wurde
ich gesiezt, sehr interessant, »mit einem jungen Mann etwas
anzufangen?« Das fragten mich zweimal Dreißig-Plus-Männer.
Logisch kann ich das. Und habe es auch getan.
Die Sache ist nämlich die, ich gehöre zu den
älteren Frauen, die immer schon auf jüngere Männer gewirkt haben,
und zwar ohne dass ich es je darauf angelegt hätte.
Als ich fünfundzwanzig war, verliebte sich ein
Zwanzigjähriger unsterblich in mich und ich mich in ihn. In dem
Alter ist daran natürlich nichts wirklich Sonderbares. Man ist
jung, frisch, sexy, gierig nach Lust, Liebe, Berührung. Die Körper
sind makellos, die Gesichter faltenfrei, die Seele noch relativ
unversehrt und das Herz höchstens ein-, zweimal gebrochen.
Man taucht ineinander ein wie in einen See, jappst
und schüttelt sich hinterher wohlig wie ein Hund am Strand. Als wir
uns einmal lachend im Bett herumrollten, sagte er nur halb im
Scherz, und seine stahlblauen Augen hatten einen schwärmerischen
Glanz: »Ich liebe ältere Frauen.« Das hörte sich für meine
fünfundzwanzig so komisch an, dass ich noch mehr lachte.
Ich hatte im Alter zwischen fünfunddreißig und
fünfzig Jahren mehrere Liebschaften mit drei bis zehn Jahre
jüngeren Männern, aber richtig interessant wurde es erst
später.
Als ich zweiundfünfzig Jahre alt war, verliebte ich
mich in einen vierzehn Jahre jüngeren Mann, der mich mit so viel
Witz und flammendem Begehren verfolgte, dass ich nicht Nein sagen
konnte und wollte. Wir waren ein dynamisches Paar, Seelenkameraden
und doch Feinde; es gab viel Sex, viel Wut, viel Zank und Streit -
und eben auch irre viel Spaß und viele Momente von echtem Glück.
Doch oft waren wir ein bisschen wie böse Kinder, die sich grausam
verletzen, ohne zu wissen warum und ohne sich die Konsequenzen
auszumalen. Trotz der Differenzen hatten wir eine fünf Jahre
andauernde Beziehung, die zu den wichtigsten in meinem Leben
gehört.
Das Alter spielte tatsächlich keine Rolle, was die
Äußerlichkeiten anbetraf, aber ich wusste, dass es meine
Lebenserfahrung und meine Überlegenheit waren, die mich davor
schützten, ihm mit Haut und Haaren ausgeliefert zu sein. Er war
wirklich gefährlich, aber das war es wohl, was ich wollte und
brauchte.
Und nun sind sie wieder da, die jungen
Männer.
Es wird in letzter Zeit sehr viel von den sexy
reifen Frauen von fünfzig aufwärts geschwärmt, als hätte es sie
vorher nie gegeben. Hat es auch sehr selten in dieser Form.
Vor nicht allzu langer Zeit nannte man uns »Frauen
in einem gewissen Alter«. Das gewisse Alter schien unaussprechlich
- es besagte, dass eine Frau nicht mehr begehrenswert war, also
ihre wichtigste Rolle verloren hatte und jetzt wie ein reduziertes
Halbwesen durch eine asexuelle Schattenwelt geisterte. Heimlich
bemitleidet, oft auch belacht, aber nie ernst genommen. Die nächste
Stufe war das Dasein als Matrone oder ältliches Fräulein, wobei
dreißig und unverheiratet als absolut alarmierender Zustand
erschien
und das Eintreten in ein Kloster als gute Alternative zu einer
traurigen Existenz ohne Mann galt.
Natürlich setzten zu allen Zeiten auch Frauen über
vierzig die Fantasien der Männer in Brand, weil sie ohne Frage auch
sinnlich und erotisch, also überaus gefährlich zu sein schienen.
Mit ihren wissenden Augen und einem geheimnisvollen Lächeln um die
Lippen projizierten sie eine erlebte Sexualität, die errötende
Jungfrauen nicht liefern konnten - und sollten.
Die heutige »Frau in den besten Jahren« - hier
scheint der Ausdruck zu passen - ist um vieles selbstbewusster,
finanziell unabhängiger und besser aussehend denn je. Dazu
erotisch, sinnlich, gelassen, souverän, humorvoll und großzügig auf
ganzer Linie, was die logische Folge eines reichen, voll
ausgeschöpften Lebens ist - im Idealfall.
Man stößt natürlich auf die immer wieder neuen
Versuche, ältere Frauen zu glamourisieren, indem man Celebrities
herausstellt, die hot und alt sind: Helen Mirren und Diane
Keaton, Goldie Hawn, Meryl Streep und Catherine Deneuve, alle über
sechzig, oder die jungen Hühner wie Madonna (einundfünfzig) und
Demi Moore (sechsundvierzig).
Aber nicht alle haben blutjunge Jungs, die sie
neckisch greifen, küssen und aushalten können wie die letzteren
beiden, die reich und berühmt sind. Vergessen wir nicht die vielen
Millionen älterer Frauen, die weder Geld noch Glamour noch einen
tollen Job oder schicke Klamotten haben - noch sonst irgendetwas,
was in Lifestyle-Magazine passen würde. Die müde und
desillusioniert sind, kämpfen müssen und weniger an Verabredungen
denken als an ihre bescheidenen Renten, die sie dahinschwinden
sehen.
Eine Gisela Timm, vierundfünfzig und ehemalige
Kassiererin aus Worms, Kettenraucherin und Hartz-IV-Empfängerin
mit Übergewicht, empfindet bestimmt nichts an sich als supersexy,
und Eddie, ihr Freund und LKW-Fahrer, eigentlich auch nicht.
In Amerika, wo aus jeder noch so kleinen Entdeckung
sofort ein großartiger Trend gemacht wird, hat man längst ein neues
tolles Tier entdeckt. Haben Sie schon mal von Cougars, also
Pumas, gehört? Das sind eigentlich Raubkatzen mit vier Pfoten. Aber
seit einiger Zeit gibt es eine zweibeinige Cougar-Bewegung
in Amerika, zu der ältere Frauen gezählt werden, die sich mit einem
gezielten Tatzenhieb jüngere Männer in ihre samtgepolsterten
Raubhöhlen holen und dort genüsslich - zur Begeisterung der
Jungmänner - vernaschen.
Das ist natürlich alles Blödsinn und reine
Marketingstrategie. Die Idee des wehrlosen Opfers und der Jägerin
spielt eben mit den Urbildern von Unterwerfung und Dominanz.
Auch Deutschland tritt inzwischen in die Tatzen
dieses Trends. Die Partnerbörse Friendscout24 stellte fest, dass
das Interesse an Juniorpartnern bei Frauen mit wachsendem Alter
sogar steigt.
Das glaubt man gern, dass gestandene ältere Frauen
sich stressfreien Sex leisten möchten. Sie brauchen keinen Mann,
der sie erfüllt und aufwertet und dem sie die undankbare Rolle des
Ehemanns und Versorgers aufbürden möchten. Obendrein ist erwiesen,
dass sie langsamer altern als Männer, länger geistig frisch bleiben
und oft im Alter unerschrockener und neugieriger werden.