Das Leben als Fotoalbum

»Ein Mann muss nicht immer schön sein«,
heißt ein alter deutscher Schlager. Er ist es auch nicht, keine
Bange. Lügen haben bekanntlich kurze Beine, und im Internet findet
man den Beweis. Wortwörtlich.
Nichts regt das Schummeln mehr an als eine
Selbstbeschreibung. Männer sind selten so groß, wie sie sein
wollen, sondern im Schnitt einen Meter vierundsiebzig, aber
ungemein eitel. Das weiß ich jetzt.
Da werden Jahre abgesäbelt, Figuren verdünnt - und
Haare gefärbt wie verrückt, damit in der Rubrik Haarfarbe »schwarz«
stehen kann.
Also, Nüchternheit bei der Betrachtung der
Situation ist sehr zu empfehlen. Vielleicht hilft der Vergleich mit
einer erfahrenen Köchin. Wie sieht es auf dem Markt aus? Welche
Ware wird angeboten? Wie groß ist der Hunger? Am besten man ist
flexibel, kreativ und nimmt, was man kriegen kann - auch leicht
lädierte Ware -, und lässt sich dann für ein trotzdem schmackhaftes
Gericht etwas aus seiner kulinarischen Trickkiste einfallen.
Denn es ist ja so: Frische niedliche Küken und
junges Gemüse wird es nicht geben. (»Bist du ja auch nicht,
Mensch«, höre ich Karen ausrufen.)
Ein schneller Überblick zeigt, dass es eher
Trauriges aus dem Vorruhestand zu berichten gibt. Das Leben als
Fotoalbum
- »mein Leben in schlechten Fotos« - könnte man ganze Fotoserien
überschreiben, die ich entdeckt habe.
Joviale Herren sitzen bei einem Glas Wein auf ihrer
efeuumrankten Eigenheimterrasse oder lecken beim Ballermann 6 an
einer Eistüte. Hotte26 ist im Unterhemd und steht vor einem
Duschvorhang. Wirklich! Und das ist nur einer der Schnappschüsse
des Lebens. Sie stehen vor Spitzengardinen, Garagentüren und
Aquarien, in weißen Strumpfsocken neben dem Fitnessgerät, oder
sitzen auf der Vespa (nicht Harley!), auf dem Rennrad und am
gemütlichen Kaffeetisch mit Topfkuchen.
Da gibt es die künstlerisch wertvollen
Avantgardewerke mit dem halben Hundekopf unterm Kinn oder dem
Telefonhörer, gern auch ein Pferdeohr an der Wange. Auch sehr schön
und nicht einmal selten: Der abgeschnittene Frauenarm, der sich um
die Schulter von sunshineman legt - wohl der seiner
Ex-Ehefrau.
Gepflegtes Ambiente verleiht eine Gitarre an der
Wand, ungezwungene Fröhlichkeit ein Sektglas zum Anprosten, auf dem
Tisch Papierhütchen und Pappteller. Einer isst gerade Pizza an der
Adria und hat die Sonnenbrille im gestuften und gesträhnten Haar,
ein anderer sitzt mit Kapitänsmütze im holzgetäfelten Wohnzimmer.
Einer versucht es mit Rastalocken und Perlen darin, wieder ein
anderer kann sich nicht vom Piratenlook und dem kleinen Kopftuch
trennen. Da sitzt ein kleiner Pudel auf dem Schoss eines gebräunten
Glatzkopfes, und ein Cockerspaniel zieht an der Leine, die ein
fröhlich winkender Gemütsmensch hält.
Alles in allem gibt es starke Ähnlichkeiten mit
Horst Schlämmer oder Dieter Bohlen, sehr, sehr viele sehen aus wie
Frank-Walter Steinmeier und Joschka Fischer, manche wie Biolek,
viele wie Kerner oder Hannes Jaenicke, noch
mehr wie Plasberg und ganz, ganz viele wie der nette Pensionär von
nebenan, der mit dem gleichaltrigen Hund (in Hundejahren
natürlich!) und der hellen Weste mit den tausend Taschen.
Auch das Haar gibt Auskunft. Da gibt es viele graue
Haare, keine Haare, braun oder schwarz gefärbte Haare,
Rod-Stewart-Frisuren, weißgraue lange Haare mit und ohne
Pferdeschwanz, den punkigen Jungslook mit abstehenden Gelspitzen,
eine modische Form der alten Meckifrisur, die verzweifelte fransige
Cäsarfrisur, und ja, den Star, den Klassiker - den »Überkämmer« für
die Halbglatze.
Ich lasse mit einer kleinen Fotoshow meine
Freundinnen wissen, dass nicht nur reine Lust und Entertainment auf
mich warten, sondern harte Arbeit. Sarah antwortet auf ihre
typische Art.
»Der tollertyp67, den du mir geschickt hast,
der mit dem blitzenden Goldzahn, erinnert mich an meinen Onkel
Rudi, Gott hab ihn selig. Nicht gerade der optische Knüller, aber
vielleicht nimmt er ja Viagra!«
Danke, so weit sind wir noch nicht, liebe
Ehefrau!
Unbestechliche Linse
Es gibt einfach Menschen, die nicht fotogen sind
und auch nicht wissen, wie man geschickt posiert, sei fair, dachte
ich, als ich wieder ein Gruselfoto von einem fürchterlich
aussehenden wolfie kriegte, der auch noch mit mir chatten
wollte.
Das Wort »chatten« allein ging mir inzwischen
extrem auf die Nerven - und ich liebe die englische Sprache! Aber
»reden« tut man ja nicht in dem Sinne, wenn man online
ist, eher ist es ein »Tipp-Plappern«, und zwar ein ziemlich
anstrengendes. Wobei ganz offensichtlich jegliche Art des
Nachdenkens wegfallen muss, sonst ergeben sich diese seltsam
versetzten Dialoge, bei denen die falschen Fragen mit den falschen
Antworten auf dem Computer stehen und man sich kopfschüttelnd
fragt, ob denn Flinkheit immer nur gut ist.
Normales Reden wäre da einfacher.
Allerdings, auch wenn ich den alten Zeiten des
Papiers und der Liebesbriefe mit Lippenabdrücken nachtrauere, finde
ich interessant, wie sich unsere Wortwahl und die Persönlichkeit
ändern, wenn wir im schnellen Dialog stehen. Allerdings kann man
unverblümter und ironisch sein.
Ein Taucher aus Österreich ohne Foto fragte zum
Beispiel, ob ich an einer Affäre interessiert sei.
Ich antwortete: »Ohne Foto bestimmt nicht.«
Dann mailte er mir: »Ich sehe gut aus, natürlich,
oder findest du etwa nicht?«
Er schickte mir ein Bild von einem Klops am Pool,
und ich antwortete: »Nein danke, du bist nicht schön genug. Ich
hoffe, du hast bisher nicht zu viele Fische verscheucht.«
Das hätte ich nicht unbedingt jemandem ins Gesicht
gesagt.
Was mir einen sehr großen Schock versetzte, war
dann mein Experiment mit dem Chatten mit Kamera. Ich hatte bisher
keine Webcam an meinem Computer und fand eine solche Einrichtung
auch zu dicht dran, ohne wirklich intim zu sein.
Mir gefällt es besser, Kontrolle über mein Foto zu
haben und nur die besten, eigens von mir ausgewählten Bilder unter
die Menschenheit zu verteilen.
Ja, und dann kriegte ich mein neues Notebook, das
eine integrierte kleine Kamera hat, mit der auch ich mein
chattendes Selbst auf den großen Unbekannten loslassen
konnte.
Ich saß frühmorgens im Bett und wollte die Kamera
erst einmal ausprobieren, eine ausgezeichnete Idee, wie ich
ziemlich schnell feststellte. Denn da war ich, ein mit Lippenstift,
ohne den ich mich nackt fühle, und Wimperntusche verziert sehr
vorzeigbares Wesen, als Schreckgespenst mit faltigem Hals und
irgendwie nicht so frischen Zügen, was allerdings auch an der
Kopfstellung liegt, wenn man einen Laptop auf den Schenkeln
hat.
Nun gut, warum nicht brutal ehrlich sein: Ich fand
mich erschreckend hässlich.
Ich schaltete die Kamera sofort aus, als hätte mir
der schwatzhafte Spiegel aus Schneewittchen ungefragt mein
ungeschminktes Bild um die Ohren geschlagen, und schwor mir, sie
nie wieder auch nur zum Spaß anzustellen - es sei denn, ich war
nett zurechtgemacht und hatte vorher den Raum ein wenig
schmeichelnd ausgeleuchtet.
Mich hatte die exhibitionistische Welt des Chattens
mit Kamera jedenfalls verloren.