Großes Gähnen mit dem Bildungsbürgertum
036
Ich habe neuen Mut gefasst und maile Sarah recht enthusiastisch: »Ich habe einen sehr smarten Literaturwissenschaftler an der Leine. Treffe mich übermorgen mit ihm. Gleiches Alter. Interessantes Gesicht.«
Sie antwortet mit einer kritischen Betrachtung: »An der Uni sahen die Geistes- und Literaturwissenschaftler immer ein bisschen zerzaust aus, die Juristen und Betriebswirte waren attraktiver.«
Das mag ja sein, aber Günther und ich hatten wirklich einen sehr spritzigen und intelligenten Mail-Wechsel bisher, der richtig Spaß bringt. Literatur, Geschichten aus Boston, wo er studierte, das Leben selbst - er weiß die Worte zu setzen. Das gefällt mir, denn irgendwann hatte ich auch einmal die Fantasie, dass sich jemand nur in meine Worte verliebt, also auch in mein wirkliches Wesen, dem ich durch meine seelenvollen, wunderschönen Gedanken Leben einhauche. So wie der großnasige Cyrano de Bergerac und all die romantischen, häufig eher hässlichen Helden, die die Frauen mit der puren Schönheit ihres Geistes blenden und so das Herz der Geliebten gewinnen konnten.
Aber wenn es einen Ort gibt, wo es Leuten ziemlich wurscht ist, wie kunstvoll man die Worte zu setzen weiß, dann sicherlich das Internet.
Günther hat jedenfalls einen riesigen Bonus, und ich bin erpicht darauf, ihn zu treffen. Zwar fällt der Stimmtest nur mittelmäßig aus - er hat ein etwas japsiges Lachen -, aber die Hoffnung stirbt zuletzt, wie mir Karen zum hundertsten Mal bestätigt.
 
Oh, wie recht hat Sarah. Der Mann, der ins Restaurant geschlurft kommt, ist ein knitteriger, freundlicher und schlecht angezogener Herr mit Brille und Platte, der im Halbprofil eine unglückselige Ähnlichkeit mit dem ältlichen Adolf Eichmann bei seinem Prozess hat.
Günther sah auf dem Foto ziemlich gut aus. Vielleicht lag es an der Baseballmütze, die - so albern solche Mützen oft wirken - tatsächlich eine gewisse Jugendlichkeit vermittelte. Und sie verdeckte fehlendes Haar.
Ich glaube, Günther sieht sich als recht flotten, überlegenen Intellektuellen, weil er auf der körperlich-sinnlichen Ebene nichts offensichtlich Markantes zu bieten hat.
Eigentlich mag ich Intellektuelle sehr, obwohl sie ja sonst bei Frauen zu den weniger begehrten Exemplaren gehören. Geist wird mit Kompensation und Asexualität assoziiert (bei Männern und Frauen). Nach dem Motto, wenn der Körper und die sexuelle Ausstrahlung nicht reichen, dann müssen die guten alten Gehirnzellen aktiviert werden, um den vermeintlichen Makel zu überbrücken. Damit zumindest irgendein Körperteil beschäftigt ist. Sehr ungerecht, denn es gibt nichts Feineres als supersmarte Frauen und Männer. Keiner wird Einstein für ein sinnliches Sexsymbol halten, aber er war ein Frauenheld, denn Schlauheit und Charme sind eine sehr attraktive Kombination.
Ich selber mochte witzige Schlauberger und Brillenträger immer sehr gern. Als ich Teenager war, gab es einige Jungs mit schwarzen Rollkragenpullies und schwarz umrandeten Brillen, die Jazz hörten, philosophische Bücher unterm Arm trugen und existenzialistisch daherredeten. Ich war sehr beeindruckt. Später machte dann John Lennon nicht nur Rockmusik, sondern Intelligenz und runde Brillen aufregend.
Die Goldrandbrille über dem älteren Auge, das etwas an Strahlkraft eingebüßt hat, wirkt natürlich nicht mehr besonders stimulierend. Und so wie Günther mich jetzt bei einem Glas »anständigem« Wein anguckt, während er die zehn Finger zu der klassischen Pyramide der Denker formt, ist er mehr Professor Pieselstein als Hans Herzensbrecher.
Er schmeichelt mir geschickt: »Eine Frau wie du wird sicherlich bestürmt …«
Oh ja, denke ich, von morgens bis abends. Von werner und jochen, nordmann und superheld, hajo56 und bierbauch101, von geilen Siebenundzwanzigjährigen und verheirateten Schreibtischtätern, von redlichen Schreinern und großkotzigen Baulöwen, biederen Pensionären und Lehrern, Managern und Kapitänen.
Wir reden über Bücher, er ist wirklich sehr belesen, und zwischen den Zeilen erfahre ich, dass er seit zwanzig Jahren (seit der Scheidung) allein lebt und wirklich sehr, sehr gern wieder heiraten möchte. Sein gepflegter Weinkeller und die Federballorgien, die sich im Garten seines Häuschens in Ahrensburg abspielen, werden sicherlich helfen, eine sympathische Mittfünfzigerin anzulocken.
Wieder fühle ich mich wie auf einem anderen Planeten. Ist es Arroganz oder bin ich nie erwachsen geworden, dass ich so an einer adoleszenten Trotz- und Traumhaltung festhalte? Ich komme mir die ganze Zeit wie eine missratene, aufmüpfige Nichte von achtzehn vor, die gerade mit dem Onkel Eis essen gegangen ist, weil die Mutti es ihm aufgetragen hat, damit er mal mit ihr redet.
Und nun muss ich brav, aber tödlich gelangweilt still sitzen und eine gepflegte Unterhaltung führen, während mein Hirn rattert, vibriert und meine Doppelleben-Teenagerstimme in meinem Inneren nachäffend sagt: »Ach wirklich, hätte ich nie gedacht.« So wie früher in der Schule, als freche Bemerkungen zum Lehrer nur in der Fantasie gewagt wurden.
 
Wir leben anscheinend in der Illusion, dass nur andere Leute älter werden, nur nicht wir selbst. Wer kennt nicht diese fast surreale Erfahrung, im Kaufhaus oder in einem Restaurant an einem Spiegel vorbeizugehen und rein zufällig einen schnellen Blick auf diese grauhaarige alte Person zu werfen, die seltsamerweise dort reflektiert wird, wo man gerade selbst steht? Ist es schwarze Magie, hat jemand verrückte Zauberspiegel hingestellt, sitzt man einer gemeinen Täuschung auf?
Das bin doch nicht ich! Oh doch, das bist du!
Doch es gibt Unterschiede, darauf bestehe ich. Ich habe fürchterlich gealterte Personen meiner Generation gesehen, und es waren nicht die Falten oder grauen Haare, die mich erschauern ließen.
Es waren ihre erloschenen Gesichter, ihre immer vollen Weingläser in der Hand, ihr gieriges Ziehen an Zigaretten, ihre weichen, nach Trägheit und Selbstaufgabe riechenden Körper, die nach Konsum hungern und nie satt werden, und letztendlich ihre fehlende Neugier und Vitalität.

Endstation Sehnsucht

Auch dieses Treffen nähert sich seinem berechtigten Ende. Ich frage mich allerdings: Wieso habe ich mich so getäuscht in ihm? Die Antwort ist vielleicht: Weil wir den Blick auf den anderen nicht von dem auf uns selbst trennen können und nach Wunscherfüllung suchen.
Die Sehnsucht nach Romantik ist zweifellos zeit-, altersund geschlechtslos und treibt uns dazu, immer wieder zu glauben, zu hoffen und, vor allem, zu interpretieren.
Hat er mich nicht mit diesem ganz besonderen Blick angeguckt? War da nicht große Erregung in seiner Stimme? Und diese Sehnsucht ist auch eine große Triebfeder für allen möglichen Unsinn, auf den man reinfällt und dem man immer wieder hinterherjagt wie einem Phantom. Man will es greifen und behalten, das große Gefühl, den Mythos Liebe, endlich in den Händen halten, für immer.
Ich bin offensichtlich auch manchmal ein Opfer dieser Sehnsucht. Es gibt wohl tief drinnen ein Element, das von altmodischen Wünschen und einem traditionellen Glücksbild besetzt ist: Er muss mich nun nicht mit einem eleganten Schwung auf sein Ross hieven und in den Sonnenuntergang hineintraben, es würde schon ein Spaziergang am Ozean reichen.
Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich dieser Stimme, die an den weisen, inzwischen ergrauten, gütigen Prinzen glaubt, nicht wirklich zu viel Bedeutung beimesse, sondern ihr mit einem gütigen Lächeln mental über den kleinen Scheitel streichle.
Wie intelligent Günther ist, beweist er mit seinen launigen Abschiedsworten: »Wir sind wohl nicht füreinander bestimmt, oder?«
Guter Humor. Spricht für ihn.
Nach so einem knautschigen Kauz überfallen mich geradezu schwärmerische Fantasien. Ich will sofort so einen wie Cary Grant oder den Draufgänger Rhett Butler aus Vom Winde verweht, egal, nur irgendeinen eleganten großen Charmeur alter Schule.
Woher kommt meine Sehnsucht nach dem Altmodischen, nach Galanterie und Stil, nach Vertrautem, nach etwas, das ganz weit zurückliegt, aber nicht weit genug, als dass ich es nicht noch spüren könnte? Mein Vati.
Er sah sehr gut aus, küsste den Frauen die Hand, was sie liebten, und sagte: »Gnä’ Frau.« Sie zerflossen vor Geschmeicheltsein. Er roch nach Old Spice, hatte immer einen tadellosen Anzug und ein gestärktes weißes Hemd an und sah aus wie aus dem Ei gepellt, wenn er von der Arbeit als Werbechef nach Hause kam. Seine Töchter himmelten lange Jahre dieses Exemplar klassischer Männlichkeit an, das nach achtzehn Uhr leider nur wenige Minuten zu bestaunen war. Endlich zu Hause, legte er sofort den smarten Geschäftsmann ab und schlüpfte in Schlappen, Wolljacke und einfache Flanellhosen. Dass er trotzdem eine gewisse Eleganz behielt, war einfach Glück.
Ich bin sonst Männern in Wolljacken und Schlappen gegenüber in meinem Dunstkreis ziemlich intolerant.

Kompromisslos allein

Nach einem frustrierend ausfallenden Update mit den Freundinnen über die neuesten Männergeschichten kriege ich etwas zu hören.
»Du musst willens sein, Kompromisse zu machen«, raten sie mir streng. Und das ist nicht das erste Mal.
Oh ja, ich und Kompromisse, ein schmutziges, fürchterliches Wort für kriechende Underdogs, das um jeden Preis zu vermeiden ist, damit man seine Identität retten kann. Die habe ich mir mit allen Schattierungen erkämpft und hüte sie nun wie einst meine Oma das Rezept für Dresdner Stollen. Deshalb lebe ich auch seit zehn Jahren allein.
»Du bist sehr, sehr eigen«, erklärt mir auch meine Mutter, die mich gut kennt, sehr, sehr diplomatisch.
Die Wahrheit ist, dass sie mich manchmal hoffnungslos schwierig findet. Nicht im Leben, nicht als Mensch und Tochter - vielmehr sei mein Anspruch an Liebe und Männer überhöht. Und mein scheinbar nicht vorhandener Wille, mich ein klein wenig anzupassen, lege mir Steine in den Weg, die ich da sicherlich unbewusst gern haben will, damit Männer darüber stolpern.
Aber es kommt ja immer so, wie es nach den logischen Lebensregeln kommen muss. Ich bin letztendlich am häufigsten darüber gestolpert.
Doch man gewöhnt sich ganz gut an die Stehaufmännchen-Philosophie (wieso eigentlich »Männchen«?), und nach Jahrzehnten tapferer und durchaus erfolgreicher Wiederaufstehversuche ist einem die Kämpfernatur so vertraut wie tägliches Zähneputzen.
Sexy Sixty - Liebe kennt kein Alter -
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