Großes Gähnen mit dem
Bildungsbürgertum
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Ich habe neuen Mut gefasst und maile Sarah
recht enthusiastisch: »Ich habe einen sehr smarten
Literaturwissenschaftler an der Leine. Treffe mich übermorgen mit
ihm. Gleiches Alter. Interessantes Gesicht.«
Sie antwortet mit einer kritischen Betrachtung: »An
der Uni sahen die Geistes- und Literaturwissenschaftler immer ein
bisschen zerzaust aus, die Juristen und Betriebswirte waren
attraktiver.«
Das mag ja sein, aber Günther und ich hatten
wirklich einen sehr spritzigen und intelligenten Mail-Wechsel
bisher, der richtig Spaß bringt. Literatur, Geschichten aus Boston,
wo er studierte, das Leben selbst - er weiß die Worte zu setzen.
Das gefällt mir, denn irgendwann hatte ich auch einmal die
Fantasie, dass sich jemand nur in meine Worte verliebt, also auch
in mein wirkliches Wesen, dem ich durch meine seelenvollen,
wunderschönen Gedanken Leben einhauche. So wie der großnasige
Cyrano de Bergerac und all die romantischen, häufig eher hässlichen
Helden, die die Frauen mit der puren Schönheit ihres Geistes
blenden und so das Herz der Geliebten gewinnen konnten.
Aber wenn es einen Ort gibt, wo es Leuten ziemlich
wurscht ist, wie kunstvoll man die Worte zu setzen weiß, dann
sicherlich das Internet.
Günther hat jedenfalls einen riesigen Bonus, und
ich bin erpicht darauf, ihn zu treffen. Zwar fällt der Stimmtest
nur mittelmäßig aus - er hat ein etwas japsiges Lachen -, aber die
Hoffnung stirbt zuletzt, wie mir Karen zum hundertsten Mal
bestätigt.
Oh, wie recht hat Sarah. Der Mann, der ins
Restaurant geschlurft kommt, ist ein knitteriger, freundlicher und
schlecht angezogener Herr mit Brille und Platte, der im Halbprofil
eine unglückselige Ähnlichkeit mit dem ältlichen Adolf Eichmann bei
seinem Prozess hat.
Günther sah auf dem Foto ziemlich gut aus.
Vielleicht lag es an der Baseballmütze, die - so albern solche
Mützen oft wirken - tatsächlich eine gewisse Jugendlichkeit
vermittelte. Und sie verdeckte fehlendes Haar.
Ich glaube, Günther sieht sich als recht flotten,
überlegenen Intellektuellen, weil er auf der körperlich-sinnlichen
Ebene nichts offensichtlich Markantes zu bieten hat.
Eigentlich mag ich Intellektuelle sehr, obwohl sie
ja sonst bei Frauen zu den weniger begehrten Exemplaren gehören.
Geist wird mit Kompensation und Asexualität assoziiert (bei Männern
und Frauen). Nach dem Motto, wenn der Körper und die sexuelle
Ausstrahlung nicht reichen, dann müssen die guten alten
Gehirnzellen aktiviert werden, um den vermeintlichen Makel zu
überbrücken. Damit zumindest irgendein Körperteil beschäftigt ist.
Sehr ungerecht, denn es gibt nichts Feineres als supersmarte Frauen
und Männer. Keiner wird Einstein für ein sinnliches Sexsymbol
halten, aber er war ein Frauenheld, denn Schlauheit und Charme sind
eine sehr attraktive Kombination.
Ich selber mochte witzige Schlauberger und
Brillenträger immer sehr gern. Als ich Teenager war, gab es einige
Jungs mit schwarzen Rollkragenpullies und schwarz umrandeten
Brillen, die Jazz hörten, philosophische Bücher unterm Arm trugen
und existenzialistisch daherredeten. Ich war sehr beeindruckt.
Später machte dann John Lennon nicht nur Rockmusik, sondern
Intelligenz und runde Brillen aufregend.
Die Goldrandbrille über dem älteren Auge, das etwas
an Strahlkraft eingebüßt hat, wirkt natürlich nicht mehr besonders
stimulierend. Und so wie Günther mich jetzt bei einem Glas
»anständigem« Wein anguckt, während er die zehn Finger zu der
klassischen Pyramide der Denker formt, ist er mehr Professor
Pieselstein als Hans Herzensbrecher.
Er schmeichelt mir geschickt: »Eine Frau wie du
wird sicherlich bestürmt …«
Oh ja, denke ich, von morgens bis abends. Von
werner und jochen, nordmann und superheld,
hajo56 und bierbauch101, von geilen
Siebenundzwanzigjährigen und verheirateten Schreibtischtätern, von
redlichen Schreinern und großkotzigen Baulöwen, biederen
Pensionären und Lehrern, Managern und Kapitänen.
Wir reden über Bücher, er ist wirklich sehr
belesen, und zwischen den Zeilen erfahre ich, dass er seit zwanzig
Jahren (seit der Scheidung) allein lebt und wirklich sehr, sehr
gern wieder heiraten möchte. Sein gepflegter Weinkeller und die
Federballorgien, die sich im Garten seines Häuschens in Ahrensburg
abspielen, werden sicherlich helfen, eine sympathische
Mittfünfzigerin anzulocken.
Wieder fühle ich mich wie auf einem anderen
Planeten. Ist es Arroganz oder bin ich nie erwachsen geworden, dass
ich so an einer adoleszenten Trotz- und Traumhaltung festhalte? Ich
komme mir die ganze Zeit wie eine missratene, aufmüpfige Nichte von
achtzehn vor, die gerade mit dem
Onkel Eis essen gegangen ist, weil die Mutti es ihm aufgetragen
hat, damit er mal mit ihr redet.
Und nun muss ich brav, aber tödlich gelangweilt
still sitzen und eine gepflegte Unterhaltung führen, während mein
Hirn rattert, vibriert und meine Doppelleben-Teenagerstimme in
meinem Inneren nachäffend sagt: »Ach wirklich, hätte ich nie
gedacht.« So wie früher in der Schule, als freche Bemerkungen zum
Lehrer nur in der Fantasie gewagt wurden.
Wir leben anscheinend in der Illusion, dass nur
andere Leute älter werden, nur nicht wir selbst. Wer kennt nicht
diese fast surreale Erfahrung, im Kaufhaus oder in einem Restaurant
an einem Spiegel vorbeizugehen und rein zufällig einen schnellen
Blick auf diese grauhaarige alte Person zu werfen, die
seltsamerweise dort reflektiert wird, wo man gerade selbst steht?
Ist es schwarze Magie, hat jemand verrückte Zauberspiegel
hingestellt, sitzt man einer gemeinen Täuschung auf?
Das bin doch nicht ich! Oh doch, das bist du!
Doch es gibt Unterschiede, darauf bestehe ich. Ich
habe fürchterlich gealterte Personen meiner Generation gesehen, und
es waren nicht die Falten oder grauen Haare, die mich erschauern
ließen.
Es waren ihre erloschenen Gesichter, ihre immer
vollen Weingläser in der Hand, ihr gieriges Ziehen an Zigaretten,
ihre weichen, nach Trägheit und Selbstaufgabe riechenden Körper,
die nach Konsum hungern und nie satt werden, und letztendlich ihre
fehlende Neugier und Vitalität.
Endstation Sehnsucht
Auch dieses Treffen nähert sich seinem
berechtigten Ende. Ich frage mich allerdings: Wieso habe ich mich
so getäuscht in ihm? Die Antwort ist vielleicht: Weil wir den Blick
auf den anderen nicht von dem auf uns selbst trennen können und
nach Wunscherfüllung suchen.
Die Sehnsucht nach Romantik ist zweifellos zeit-,
altersund geschlechtslos und treibt uns dazu, immer wieder zu
glauben, zu hoffen und, vor allem, zu interpretieren.
Hat er mich nicht mit diesem ganz besonderen Blick
angeguckt? War da nicht große Erregung in seiner Stimme? Und diese
Sehnsucht ist auch eine große Triebfeder für allen möglichen
Unsinn, auf den man reinfällt und dem man immer wieder
hinterherjagt wie einem Phantom. Man will es greifen und behalten,
das große Gefühl, den Mythos Liebe, endlich in den Händen halten,
für immer.
Ich bin offensichtlich auch manchmal ein Opfer
dieser Sehnsucht. Es gibt wohl tief drinnen ein Element, das von
altmodischen Wünschen und einem traditionellen Glücksbild besetzt
ist: Er muss mich nun nicht mit einem eleganten Schwung auf sein
Ross hieven und in den Sonnenuntergang hineintraben, es würde schon
ein Spaziergang am Ozean reichen.
Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich dieser
Stimme, die an den weisen, inzwischen ergrauten, gütigen Prinzen
glaubt, nicht wirklich zu viel Bedeutung beimesse, sondern ihr mit
einem gütigen Lächeln mental über den kleinen Scheitel
streichle.
Wie intelligent Günther ist, beweist er mit seinen
launigen Abschiedsworten: »Wir sind wohl nicht füreinander
bestimmt, oder?«
Guter Humor. Spricht für ihn.
Nach so einem knautschigen Kauz überfallen mich
geradezu schwärmerische Fantasien. Ich will sofort so einen wie
Cary Grant oder den Draufgänger Rhett Butler aus Vom Winde
verweht, egal, nur irgendeinen eleganten großen Charmeur alter
Schule.
Woher kommt meine Sehnsucht nach dem Altmodischen,
nach Galanterie und Stil, nach Vertrautem, nach etwas, das ganz
weit zurückliegt, aber nicht weit genug, als dass ich es nicht noch
spüren könnte? Mein Vati.
Er sah sehr gut aus, küsste den Frauen die Hand,
was sie liebten, und sagte: »Gnä’ Frau.« Sie zerflossen vor
Geschmeicheltsein. Er roch nach Old Spice, hatte immer einen
tadellosen Anzug und ein gestärktes weißes Hemd an und sah aus wie
aus dem Ei gepellt, wenn er von der Arbeit als Werbechef nach Hause
kam. Seine Töchter himmelten lange Jahre dieses Exemplar
klassischer Männlichkeit an, das nach achtzehn Uhr leider nur
wenige Minuten zu bestaunen war. Endlich zu Hause, legte er sofort
den smarten Geschäftsmann ab und schlüpfte in Schlappen, Wolljacke
und einfache Flanellhosen. Dass er trotzdem eine gewisse Eleganz
behielt, war einfach Glück.
Ich bin sonst Männern in Wolljacken und Schlappen
gegenüber in meinem Dunstkreis ziemlich intolerant.
Kompromisslos allein
Nach einem frustrierend ausfallenden Update mit
den Freundinnen über die neuesten Männergeschichten kriege ich
etwas zu hören.
»Du musst willens sein, Kompromisse zu machen«,
raten sie mir streng. Und das ist nicht das erste Mal.
Oh ja, ich und Kompromisse, ein schmutziges,
fürchterliches Wort für kriechende Underdogs, das um jeden Preis zu
vermeiden ist, damit man seine Identität retten kann. Die habe ich
mir mit allen Schattierungen erkämpft und hüte sie nun wie einst
meine Oma das Rezept für Dresdner Stollen. Deshalb lebe ich auch
seit zehn Jahren allein.
»Du bist sehr, sehr eigen«, erklärt mir auch meine
Mutter, die mich gut kennt, sehr, sehr diplomatisch.
Die Wahrheit ist, dass sie mich manchmal
hoffnungslos schwierig findet. Nicht im Leben, nicht als Mensch und
Tochter - vielmehr sei mein Anspruch an Liebe und Männer überhöht.
Und mein scheinbar nicht vorhandener Wille, mich ein klein wenig
anzupassen, lege mir Steine in den Weg, die ich da sicherlich
unbewusst gern haben will, damit Männer darüber stolpern.
Aber es kommt ja immer so, wie es nach den
logischen Lebensregeln kommen muss. Ich bin letztendlich am
häufigsten darüber gestolpert.
Doch man gewöhnt sich ganz gut an die
Stehaufmännchen-Philosophie (wieso eigentlich »Männchen«?), und
nach Jahrzehnten tapferer und durchaus erfolgreicher
Wiederaufstehversuche ist einem die Kämpfernatur so vertraut wie
tägliches Zähneputzen.