Unsichtbar
034
Ich stelle allerdings bald darauf fest, dass ich mich nur zu gern auch von Männern gespiegelt sehen will, auch da hat sich meine Eitelkeit nicht geändert. Ich stehe an der Kasse bei Lidl (ja, das vermeide ich sonst!), und da steht er. Wirklich. Es hört sich wie ein Klischee an, aber ich bin sofort Feuer und Flamme.
Groß, schlank, dichtes, leicht lockiges, längeres Haar in einem fantastischen Dunkelgrau. Wie ein schicker Wolf sieht er aus und ist so alt wie ich, nehme ich an. Bartstoppeln, tiefe Kerben um den Mund, schmales Gesicht, graue intelligente Augen. Er trägt alte Jeans, einen Wollpullover mit Reißverschluss und abgetragene Arbeiterstiefel. Künstler nehme ich an. Sexy.
Er hat nur einen riesigen Charakterfehler. Er guckt mich nicht an! Wie kann das sein? Ich bin genau sein Typ, ich weiß das. Ich lege meine Biomöhren auf das Laufband, die hatte ich nämlich vergessen und war schnell noch einmal von zu Hause losgerannt. Eigentlich bin ich jemand, der sich auch zum Einkaufen etwas zurechtmacht - Lippenstift, Ohrringe und so weiter -, aber ich hatte keine Zeit. Ich habe allerdings eine witzige kleine Kappe auf.
Ich lehne mich also lässig gegen das Laufband und gucke wie zufällig rüber. Leicht gelangweilt. Jetzt müsste er mich aber sehen! Nein, er guckt nach vorne.
Aufs Laufband werde ich mich nicht stellen und einen kleinen Stepptanz hinlegen. Der Mann soll mich ansehen, verflucht, innehalten wie vom Donner gerührt, sein Herz soll einen Extrasprung machen, der ihn überrascht, weil auch er in diesem späten Lebensabschnitt damit nicht mehr rechnet. Wir bleiben stehen, gehen aufeinander zu, Herzen klopfen …
»Gehört der Quark auch noch Ihnen?«, durchschneidet die Stimme der Kassiererin dieses schöne Szenario.
Was für ein Loser, denke ich. In Wirklichkeit greift die kalte Hand der Erkenntnis an meine Brust. Irgendwann, irgendwie wird man über weite Strecken unsichtbar. Nicht witzig und machtvoll unsichtbar wie Comicstripfiguren, die die Welt retten und sich mit Tricks wieder sichtbar machen können, nein, Frau-über-sechzig-unsichtbar, kein-Sexobjekt-mehr-unsichtbar. Wieder dorthin geschoben, von wo man als junge Frau in der Emanzipationsbewegung der ersten Stunde endlich ausgebrochen war - in die hintersten Reihen.
Das schlimmste Erlebnis im Alter ist, wenn man übersehen wird und nicht mehr in der Parade mitwirken kann, in der man früher dabei war, auffiel, begehrt wurde, der Mittelpunkt des Interesses.
Ich will keine unsichtbare Frau werden! Diejenige, die übersehen wird, egal ob im Restaurant, auf dem Markt, im Coffeeshop, auf der Straße, in der Boutique, im Kino - also an jedem öffentlichen Platz, bei jeder Funktion, jeder Freude, die wir haben und die uns mit unseren Mitmenschen verbindet. Sharing the space. Den Raum zu teilen, aber eben auch die Lebensqualität, die Aufmerksamkeit.
Aufmerksamkeit ist eine sehr wichtige Sache im Leben. Sie gibt uns Daseinssinn und Stabilität, setzt uns in die Mitte des Universums. Sie macht uns zur Teilhaberin, Mitmischerin, zum wichtigen Mitglied der Gesellschaft, zum Club-Member mit goldener Eintrittskarte, die eingelassen wird in die Hochburgen des Lebens und der Aktivitäten. Aufmerksamkeit bedeutet, keine Frau zu sein, die mit Ablehnung oder kritischen Blicken geschmäht wird, weil sie eine billige Karte zweiter Klasse hat.
Nach dieser für sich genommen wenig tragischen Episode kommt es schlimmer. Wie schwer es ist, den Realitäten ins Auge zu sehen, und wie sehr ich in mein Selbstimage verheddert bin, zeigt mein Staunen über Blicke von älteren Herren. Meine Popularität steigt nämlich seit einiger Zeit, so viel steht fest. Zumindest bei denen, die ich arrogant die Altherrenriege nenne.
Ich gehe einkaufen, ein schlurfiger Pensionärstyp mit Perlonsocken schleicht sich an mich ran und raunt: »Die Pfirsiche sind wirklich lecker«, während er seine Einkaufstasche schwenkt und mich freudig anblickt - nicht wissend, dass ich Männer mit Einkaufstaschen ebenso schlimm finde wie alte Männer mit baumelnden Ohrringen.
Ich sitze auf der Bank vor dem Eisladen und lecke ein Eis, eine mindestens fünfundsechzigjährige Frohnatur setzt sich dazu und sagt: »Darf ich mal lecken?« (Ja, das ist wirklich wahr!)
Ich fahre mit der S-Bahn. Ein sehr traurig und einsam aussehender Mann in Jeans mit Bügelfalte und einer Sportzeitschrift auf den Knien, so Mitte sechzig, starrt mich bittend an. Und so weiter.
Steht mir auf der Stirn geschrieben: »Hallo, ich bin fast in eurer Altersgruppe, bitte sprecht mich an?«
Dann meldet sich auch noch ein zweiundachtzigjähriger Informatiker online bei mir. Ich bin schockiert und empört. Wie kann es so ein alter Mann wagen, eine zwanzig Jahre jüngere Frau anzuhauen? Überhaupt, wieso sucht der in dem Alter eine Frau?
Sieh mal an, ich bin also doch nicht so frei von Vorurteilen, genauso wie der Rest der Menschen. Vor allem, welche seltsame Art von Einbildung und Anspruch ist denn in mich gefahren?
 
Warum haben wir solche Angst vor dem Alter? Nicht nur vor unserem eigenen, sondern dem unserer Mitmenschen, einschließlich Eltern, Freunde, Partner und Liebhaber? Wir machen unsere älteren Mitbürger zu scheintoten Freaks, die als erloschene Halbgestalten lediglich Weisheit und verblasste Erfahrungen weitergeben dürfen, die Milde und Güte ausstrahlen und unauffällig in ihrem kleinen Universum herumsitzen.
Alter spielt eine große Rolle, wenn es um Vorurteile geht, haben neue Studien der University of Princeton herausgefunden. Nicht nur das, es hat sich gezeigt, dass ethnische und rassische Stereotypen eher zu verändern sind als die über Alter und Geschlecht. Alte Leute werden nach wie vor als »harmlos und nutzlos« angesehen.
Wenn ich das höre, dann möchte ich alles in die Luft sprengen (mental natürlich), möchte Fressen polieren und randalieren, laut kreischen, Rad schlagen und rocken und rollen - immer noch meine Musik.
Wir haben also nicht nur Angst vor dem Alter, wir haben Angst vor dem Bild, das die Gesellschaft und daher letztendlich auch wir selbst vom Alter haben. Wie die Jüngeren uns sehen, wie sie uns aburteilen, wie sie uns fühlen lassen, dass wir nichts zu sagen haben, beeinflusst auch unser Selbstbild.
Toni, der ich die Lidl-Episode von dem Mann, der mich nicht sehen wollte, erzähle samt meinen Gedanken dazu, fühlt zwar mit mir, weist mich aber zurecht: »Erstens kannst du nicht erwarten, dass dich jeder Mann anguckt, auch wenn er in deinem Alter ist. Vielleicht war er verheiratet, oder er hat gerade seinen heißen Job verloren! Zweitens kann es dir doch piepegal sein, was die Gesellschaft meint und sagt, interessiert dich doch sonst auch nicht. Nähere dich doch weiterhin deinem eigenen authentischen Bild.«
Danke, Mädel!
Ein harter Kampf wird das aber bleiben.
Sexy Sixty - Liebe kennt kein Alter -
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