Unsichtbar

Ich stelle allerdings bald darauf fest,
dass ich mich nur zu gern auch von Männern gespiegelt sehen will,
auch da hat sich meine Eitelkeit nicht geändert. Ich stehe an der
Kasse bei Lidl (ja, das vermeide ich sonst!), und da steht
er. Wirklich. Es hört sich wie ein Klischee an, aber ich bin
sofort Feuer und Flamme.
Groß, schlank, dichtes, leicht lockiges, längeres
Haar in einem fantastischen Dunkelgrau. Wie ein schicker Wolf sieht
er aus und ist so alt wie ich, nehme ich an. Bartstoppeln, tiefe
Kerben um den Mund, schmales Gesicht, graue intelligente Augen. Er
trägt alte Jeans, einen Wollpullover mit Reißverschluss und
abgetragene Arbeiterstiefel. Künstler nehme ich an. Sexy.
Er hat nur einen riesigen Charakterfehler. Er guckt
mich nicht an! Wie kann das sein? Ich bin genau sein Typ, ich weiß
das. Ich lege meine Biomöhren auf das Laufband, die hatte ich
nämlich vergessen und war schnell noch einmal von zu Hause
losgerannt. Eigentlich bin ich jemand, der sich auch zum Einkaufen
etwas zurechtmacht - Lippenstift, Ohrringe und so weiter -, aber
ich hatte keine Zeit. Ich habe allerdings eine witzige kleine Kappe
auf.
Ich lehne mich also lässig gegen das Laufband und
gucke wie zufällig rüber. Leicht gelangweilt. Jetzt müsste er mich
aber sehen! Nein, er guckt nach vorne.
Aufs Laufband werde ich mich nicht stellen und
einen kleinen Stepptanz hinlegen. Der Mann soll mich ansehen,
verflucht, innehalten wie vom Donner gerührt, sein Herz soll einen
Extrasprung machen, der ihn überrascht, weil auch er in diesem
späten Lebensabschnitt damit nicht mehr rechnet. Wir bleiben
stehen, gehen aufeinander zu, Herzen klopfen …
»Gehört der Quark auch noch Ihnen?«, durchschneidet
die Stimme der Kassiererin dieses schöne Szenario.
Was für ein Loser, denke ich. In Wirklichkeit
greift die kalte Hand der Erkenntnis an meine Brust. Irgendwann,
irgendwie wird man über weite Strecken unsichtbar. Nicht witzig und
machtvoll unsichtbar wie Comicstripfiguren, die die Welt retten und
sich mit Tricks wieder sichtbar machen können, nein,
Frau-über-sechzig-unsichtbar, kein-Sexobjekt-mehr-unsichtbar.
Wieder dorthin geschoben, von wo man als junge Frau in der
Emanzipationsbewegung der ersten Stunde endlich ausgebrochen war -
in die hintersten Reihen.
Das schlimmste Erlebnis im Alter ist, wenn man
übersehen wird und nicht mehr in der Parade mitwirken kann, in der
man früher dabei war, auffiel, begehrt wurde, der Mittelpunkt des
Interesses.
Ich will keine unsichtbare Frau werden! Diejenige,
die übersehen wird, egal ob im Restaurant, auf dem Markt, im
Coffeeshop, auf der Straße, in der Boutique, im Kino - also an
jedem öffentlichen Platz, bei jeder Funktion, jeder Freude, die wir
haben und die uns mit unseren Mitmenschen verbindet. Sharing the
space. Den Raum zu teilen, aber eben auch die Lebensqualität,
die Aufmerksamkeit.
Aufmerksamkeit ist eine sehr wichtige Sache im
Leben. Sie gibt uns Daseinssinn und Stabilität, setzt uns in die
Mitte
des Universums. Sie macht uns zur Teilhaberin, Mitmischerin, zum
wichtigen Mitglied der Gesellschaft, zum Club-Member mit goldener
Eintrittskarte, die eingelassen wird in die Hochburgen des Lebens
und der Aktivitäten. Aufmerksamkeit bedeutet, keine Frau zu sein,
die mit Ablehnung oder kritischen Blicken geschmäht wird, weil sie
eine billige Karte zweiter Klasse hat.
Nach dieser für sich genommen wenig tragischen
Episode kommt es schlimmer. Wie schwer es ist, den Realitäten ins
Auge zu sehen, und wie sehr ich in mein Selbstimage verheddert bin,
zeigt mein Staunen über Blicke von älteren Herren. Meine
Popularität steigt nämlich seit einiger Zeit, so viel steht fest.
Zumindest bei denen, die ich arrogant die Altherrenriege
nenne.
Ich gehe einkaufen, ein schlurfiger Pensionärstyp
mit Perlonsocken schleicht sich an mich ran und raunt: »Die
Pfirsiche sind wirklich lecker«, während er seine Einkaufstasche
schwenkt und mich freudig anblickt - nicht wissend, dass ich Männer
mit Einkaufstaschen ebenso schlimm finde wie alte Männer mit
baumelnden Ohrringen.
Ich sitze auf der Bank vor dem Eisladen und lecke
ein Eis, eine mindestens fünfundsechzigjährige Frohnatur setzt sich
dazu und sagt: »Darf ich mal lecken?« (Ja, das ist wirklich
wahr!)
Ich fahre mit der S-Bahn. Ein sehr traurig und
einsam aussehender Mann in Jeans mit Bügelfalte und einer
Sportzeitschrift auf den Knien, so Mitte sechzig, starrt mich
bittend an. Und so weiter.
Steht mir auf der Stirn geschrieben: »Hallo, ich
bin fast in eurer Altersgruppe, bitte sprecht mich an?«
Dann meldet sich auch noch ein
zweiundachtzigjähriger Informatiker online bei mir. Ich bin
schockiert und empört.
Wie kann es so ein alter Mann wagen, eine zwanzig Jahre jüngere
Frau anzuhauen? Überhaupt, wieso sucht der in dem Alter eine
Frau?
Sieh mal an, ich bin also doch nicht so frei von
Vorurteilen, genauso wie der Rest der Menschen. Vor allem, welche
seltsame Art von Einbildung und Anspruch ist denn in mich
gefahren?
Warum haben wir solche Angst vor dem Alter? Nicht
nur vor unserem eigenen, sondern dem unserer Mitmenschen,
einschließlich Eltern, Freunde, Partner und Liebhaber? Wir machen
unsere älteren Mitbürger zu scheintoten Freaks, die als erloschene
Halbgestalten lediglich Weisheit und verblasste Erfahrungen
weitergeben dürfen, die Milde und Güte ausstrahlen und unauffällig
in ihrem kleinen Universum herumsitzen.
Alter spielt eine große Rolle, wenn es um
Vorurteile geht, haben neue Studien der University of Princeton
herausgefunden. Nicht nur das, es hat sich gezeigt, dass ethnische
und rassische Stereotypen eher zu verändern sind als die über Alter
und Geschlecht. Alte Leute werden nach wie vor als »harmlos und
nutzlos« angesehen.
Wenn ich das höre, dann möchte ich alles in die
Luft sprengen (mental natürlich), möchte Fressen polieren und
randalieren, laut kreischen, Rad schlagen und rocken und rollen -
immer noch meine Musik.
Wir haben also nicht nur Angst vor dem Alter, wir
haben Angst vor dem Bild, das die Gesellschaft und daher
letztendlich auch wir selbst vom Alter haben. Wie die Jüngeren uns
sehen, wie sie uns aburteilen, wie sie uns fühlen lassen, dass wir
nichts zu sagen haben, beeinflusst auch unser Selbstbild.
Toni, der ich die Lidl-Episode von dem Mann, der
mich nicht sehen wollte, erzähle samt meinen Gedanken dazu, fühlt
zwar mit mir, weist mich aber zurecht: »Erstens kannst du nicht
erwarten, dass dich jeder Mann anguckt, auch wenn er in deinem
Alter ist. Vielleicht war er verheiratet, oder er hat gerade seinen
heißen Job verloren! Zweitens kann es dir doch piepegal sein, was
die Gesellschaft meint und sagt, interessiert dich doch sonst auch
nicht. Nähere dich doch weiterhin deinem eigenen authentischen
Bild.«
Danke, Mädel!
Ein harter Kampf wird das aber bleiben.