Weiche Witwer und andere Katastrophen
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Also, der Rosenmann und all die anderen
Kuschler wohnen sowieso zu weit weg, und ich will endlich anfangen.
Ich kann mich wie immer nicht entscheiden, aber zwischen dem
sechsundzwanzigjährigen türkischen Jungmann, der sehr gut aussieht
und rasend gern tanzt (genau wie ich), und dem klassischen
sympathischen Zeitgenossen, der »besser zu mir passt«, wie jede
beratende Instanz mir versichern würde, verabrede ich mich erst
einmal mit Dirk aus Hannover, einem scheinbar freundlichen,
intelligenten und gebildeten Mann von dreiundsechzig.
Er hat mich bei Parship entdeckt und mir gemailt,
dass er »mich für sehr interessant und attraktiv« hält. Das hört
man gern, war aber nicht unbedingt ein Grund, mich auf ihn zu
stürzen. Doch warum nicht mal einen Witwer, schuldlos allein und
nicht, weil er ein scheußliches Schwein ist, mit zwei erwachsenen
Kindern und viel Freizeit?
Er ist Architekt im Ruhestand, reist viel und war,
genauso wie ich, oft in Amerika. Wir mögen San Francisco und
Chardonnay, er sieht sympathisch auf dem Foto aus, und überhaupt
will ich mir ja endlich abgewöhnen, nur nach auffälligen, gut
aussehenden Männern zu schauen, so wie ich es mein Leben lang
gemacht habe.
Wir führen eine sehr gepflegte Unterhaltung per
Handy, und er möchte gern extra aus Hannover anfahren, um mich zum
Lunch zu treffen.
Theoretisch sind Witwer perfekt.
Beziehungsgefestigt und pflichterfüllt durch eine lange Ehe, dazu
ein bisschen traurig und unerfahren mit neuen Frauen und deshalb
dankbar für eine neue Chance, können sie der Fang schlechthin sein.
Wunderbar für schüchterne Frauen, die Sicherheit suchen. Und im
Gegensatz zu geschiedenen Männern müssen sie keinen Unterhalt
zahlen! Die einzige Gefahr droht von den Kindern, wie ich später in
einem anderen Fall noch lernen werde.
Da ist er nun, einige Zentimeter kürzer als
angegeben, graues, leicht schütteres Haar, wie es halt so sein kann
in dem Alter. Ein wollener dunkelblauer Blouson, helles Hemd,
graue, am Hosenboden etwas blanke, weil durchgesessene Hose,
Schnürschuhe, Brille mit Goldrand, an der etwas gerückt wird.
Typ Günther Jauch in alt, denke ich. Nicht gut,
denn ich finde den kinnlosen Langweiler bereits in seinem jetzigen
Alter zum Schnarchen. Dirk ist wirklich sehr sympathisch, auf eine
unspektakuläre Art. Doch nach eineinhalb Stunden Unterhaltung über
Gruppenreisen mit abenteuerlichen Senioren, knackende Kniescheiben
und alte Eltern - die zündenden Themen unserer Generation -
bin ich bereit zum Abschied, den ich mit einem bedauernden Lächeln
ankündige.
Dirk steht zuerst auf, und ich sehe ohne
Begeisterung seinem flachen Hintern und ganz leicht gebückten Gang
hinterher.
So, wie ich auf Stimmen und Hände achte, ist mir
ebenso der Gang eines Mannes wichtig, und es gibt auch noch im
fortgeschrittenen Alter einen gewissen federnden Gang, der einen
Schuss Vitalität anklingen lässt, oder mache ich mir da etwas
vor?
Er begleitet mich noch ein Stück, und wir
verabschieden uns an der Ecke. Es war ein gesitteter, ereignisloser
Nachmittag, so milde und harmlos wie eine Tasse Caro-Kaffee mit
Tante Else und mit weniger Spannung als eine
Edgar-Wallace-Verfilmung der Sechzigerjahre.
Ich glaube, ich hätte mit geschürzten Lippen »Fick
mich!« in sein unerleuchtetes Gesicht säuseln oder einen roten
Satinslip wie zufällig über sein Sprudelglas drapieren können - er
hätte so getan, als bäte ich ihn, mir den Zucker zu reichen.
Ob man sich denn wiedersehen wolle, fragt er mit
einem hoffnungsfrohen Unterton.
»Also, als romantisches Paar sehe ich uns jetzt
nicht«, fühle ich mich beflissen zu sagen, vielleicht etwas zu
direkt. Ich glaube, ein leicht verletztes Flackern in seinen Augen
zu entdecken.
Sei lieb, sei gnädig, sei nicht so eingebildet,
sage ich mir immer als Mantra, bevor ich mich mit einem unbekannten
Mann treffe. Sie sind alle wertvolle Wesen in ihrer eigenen Art,
nicht schlechter oder besser als du. Du bist nicht durch einen
wahrhaft magischen Akt vom Schöpfer dazu ausersehen, nicht
alt auszusehen.
»Aber ich will sie nicht, diese Männer!«, ruft die
nie leiser und weniger leidenschaftlich gewordene Stimme der
Fünfunddreißigjährigen in mir, die ich schon so lange nicht mehr
bin.
Ich will keinen Best-ager-Sex mit einem
freundlichen Herrn, der wie ein Buchhalter aussieht! Ich bin noch
nicht so weit! Ich werde nie so weit sein! Es müssen Funken sprühen
- keine, die verbrennen, aber mindestens sanft züngeln. Die
beweisen, dass ich am Leben bin, noch nicht erkaltet oder erloschen
vom Alltag und den fast zu vielen Jahren, die ich schon lebe. Ist
das zu viel verlangt?