Ohne Scham und falsche Scheu

Trotzdem: Es ist erstaunlich und sehr
positiv, dass sich auch reife, ältere, alte, nicht mehr junge Leute
- oder wie auch immer man die Gruppe der Sechzig-plus-Mitmenschen
politisch korrekt nennen darf - in die Dating-Szene eingemischt
haben.
Virtuell und ohne Scham.
Was ganz früher im Familien- und Freundesrahmen
abgehandelt wurde, nämlich das Verkuppeln, ist öffentlich gemacht
worden und findet vierundzwanzig Stunden am Tag statt. Es gibt auch
immer noch so etwas wie das klassische Eheanbahnungsinstitut. Das
ist übrigens eines der schönsten längsten Wörter, mit dem man
Ausländer, die unsere Wortketten fürchten und bewundern, so richtig
erfreuen kann.
Der Begriff »Institut« soll der Sache einen
wissenschaftlichen und seriösen Anstrich geben, und es stimmt ja
auch, Heirat ist eine Wissenschaft für sich - eine nach wie vor
unentdeckte.
»Kontaktbörse« wiederum, auch ein viel benutztes
Wort, hört sich unverfänglich und geschäftsmäßig an. Man wird
gehandelt wie eine wertvolle Aktie. Der Meistbietende gewinnt.
Inzwischen sagt man auch »Singlebörse«, und die angebotenen
Personen sind nicht wirklich ganz so wertvoll, wie gern getan wird,
denn es gibt schrecklich viele davon.
Die gute Sache ist, dass man mehr Kontrolle über
die ganze Angelegenheit hat als früher. Es ist wie bei einem
Kaufvertrag. Da wird Ware angeboten, die man angucken und, wenn sie
einem gut gefällt, zum Anprobieren bestellen kann, obwohl man nicht
weiß, ob sie auch wirklich passt.
Also, die Katze sitzt zwar noch im Sack, guckt aber
neugierig heraus und miaut.
Dass Frauen aktiv und öffentlich Männer suchen
können, ohne sich lächerlich zu machen oder als Nutte abgestempelt
zu werden, ist an sich schon eine Revolution.
Meine Mutter, die sich mit Ende fünfzig von meinem
Vater trennte, blieb ab Mitte sechzig allein. Ein Jammer, denn sie
war hübsch, herzlich und häuslich. Zwar ehegeschädigt, wie so viele
Frauen ihrer Generation, die im Dasein als Ehefrau, Mutter und
Haushaltssklavin ihre Bestimmung vermuteten, doch hätte ein
charmanter, reicher Mann von Welt ihrem späteren Leben eine sehr
willkommene neue Dimension gegeben.
Aber Frauen gaben in den Siebzigerjahren eher keine
Anzeigen auf, wenn sie keine verzweifelten durchgeknallten Witwen
aus der Kleinstadt waren. Es gehörte sich nicht, es war ein Ab- und
Ausstieg aus der zivilisierten Welt der Frauen.
Nun sind wir alle schon seit einigen Jahrzehnten
emanzipiert, deshalb muss jede Frau selber ihren Mann, ihr
Sexleben, ihre Unterhaltung, ihren Lebenssinn und ihr Glück suchen.
Auch die Frauen und Männer über sechzig. Oder besonders die.