Und wer pflegt Opa?

Aber auch weniger dramatische Geschehnisse
als die Tilgung aus der Datingliste eines mir unbekannten Mannes
erinnern mich stets daran, dass die Sitten und Gebräuche der Männer
uns Frauen rätselhaft sind.
Als ich kurz über die langweilige Parship-Seite
surfe, lese ich von Paul, einem Projektleiter, der mir gefällt.
(Was auch immer das für ein Beruf ist, er kommt sehr oft vor.) Er
stellt sich nicht als nobler, einfühlsamer, bescheidener,
selbstloser Frauenversteher vor, sondern scheint ein wortgewandter
und humoriger Realist von neunundfünfzig zu sein. Statt seines
Fotos hat er das Konterfei einer clownsartigen Comicstripfigur ins
Netz gestellt.
Ich maile ihm: »Hallo Mr. Projektleiter, mir
gefällt dein Foto! Entweder siehst du so sensationell gut aus, dass
du die Frauen damit nicht sofort verunsichern willst, oder das ist
ganz einfach ein Foto von dir. In diesem Fall möchte ich dich gern
zum Eisessen treffen, weil ich dann meine Minnie-Maus-Maske
aufsetzen kann.«
Doch dann mailt er zurück und fragt, ob ich die
Geliebte vom genialen Autobauer Borgward sei. Dann versichert er,
dass es absolut kein Foto von ihm gewesen sei (ach, wirklich?) und
er auch nicht sensationell gut aussehen würde, sondern einfach kein
aktuelles hätte. Beruflich habe er etwas mit Computern zu tun und
wolle noch gern sagen, wie gut ich aussehe.
Ich antworte: »Ja, die Isabella ist nach mir gebaut
worden - genau meine Formen. Erinnere mich als Kind, dass sehr
schicke Damen das Auto fuhren … mag tatsächlich Vintage-Autos sehr
gern. Wie wär’s mit einem Telefonat?«
Er antworte: »Sehr gern«, und gibt mir eine
Handynummer. Ich rufe noch am selben Tag an, er antwortet mit einer
sehr angenehmen, aber matten Stimme. Im Hintergrund sind viele
Geräusche zu hören. Er sei im Krankenhaus, erklärt er, und könne
nicht offen sprechen.
»O.k., mal was anderes«, denke ich und verspreche,
wieder zu mailen. Was ich auch tue.
Er schreibt etwas von »sexy Stimme« und
»interessant«, aber dabei bleibt es.
Ich antworte, da so konventionelle Sätze fehlen
würden wie »Vielleicht können wir uns mal treffen«, würde ich
annehmen, er sei zu krank für weiteres Interesse.
»Oh nein, im Gegenteil«, meint er, er könne es kaum
abwarten.
Ich wünsche ihm gute Besserung, spreche die
Hoffnung aus, dass die Schwestern wenigstens hübsch seien - so wie
in Arztserien -, und bin froh, dass er wenigstens tippen kann,
wundere mich aber, warum man als Kranker auf einer Dating-Seite
angemeldet ist. Oder hat er vielleicht nur eine Krankheit erfunden,
weil er Angst vor mir hat?
Nein!
Er ist Feuer und Flamme. Nur habe er gerade eine
fünfstündige, lebensrettende OP überstanden und brauche ein
bisschen Ruhe zur Rekonvaleszenz. Ich interessiere ihn sehr, und
mir in die Augen zu schauen bedeute, die großen Gefühle zu haben.
Er brauche nur etwas Zeit.
Inzwischen glaube ich, dass Mann solche Sprüche
irgendwo herunterladen kann, denn es kann nicht sein, dass fremde
Männer plötzlich unaufgefordert von großen Gefühlen sprechen, wo
sie im täglichen Leben nicht mal von kleinen sprechen können. Oder
er liegt wirklich im Krankenhaus und ist mit Drogen
vollgepumpt.
Ein paar spritzige Mails fliegen noch hin und her,
wir verabreden uns fest, und ich beginne davon zu fantasieren, wie
ich ihn zu Hause noch ein wenig pflegen würde: in einer
unanständigen kleinen weißen Krankenschwesteruniform und
Netzstrümpfen.
Nein, nicht wirklich, ich mag nur die alberne
Vorstellung und habe das mal gemacht, als ich vierundzwanzig war
und mein damaliger Freund mit hohem Fieber im Bett lag. Ich pinnte
mir ein rotes Filzkreuz auf eine weiße Jacke, setzte statt Haube
eine Matrosenmütze auf, zog Netzstrümpfe an, die bei mir zur
Standardgarderobe gehörten, dazu rote Lackleder-Plateausohlenschuhe
und amüsierte meinen Freund so sehr, dass er bald gesund wurde. Das
war vor achtunddreißig Jahren!
Endlich haut mich die Realität um. Bin ich
wahnsinnig geworden, überhaupt nur im Spaß an so etwas zu denken?
Anstatt mich daran zu erinnern, dass wir alle jenseits der sechzig
irgendwelche Zipperlein haben - selbst die fittesten und
gesündesten von uns.
Eine Minute liegt man sich in den Armen - und
schwupps, die nächste sitzt man auf dem Teppich, auf den er sich
vor Erschöpfung gekniet hat, und massiert seine Schulter, oder man
bewundert die neuen Stützstrümpfe und reicht ihm sein
blutverdünnendes Mittel.
Das andere düstere Thema, wenn man tatsächlich erst
im Alter zusammenkommt, ist die Angst vor dem Angekettetsein.
Davor, dass man aus Anständigkeit einen Mann versorgen muss, obwohl
die zusammen verbrachte Zeit keinesfalls
genug tief empfundene Verpflichtung und aufopfernde Liebe
produziert hat, um für den Rest der Tage Krankenschwester und Mutti
zu spielen.
Denn Alter und Krankheit schlagen anscheinend immer
ganz plötzlich und unversehens zu, das scheint umso schneller zu
gehen, je mehr Jahre man auf dem Buckel hat. Was als dynamische
sexy Affäre anfängt, wird dann ganz schnell zur Falle, aus der man
nur noch herausmöchte.
So schrieb mir meine fünfundsechzigjährige Freundin
aus Amerika gerade, dass sie mit ihrem zweiundsiebzigjährigen
zeitweiligen Lover Schluss gemacht hat. Erstens, weil er von zu
Hause ausgezogen ist (ja, er war verheiratet!) und sie Angst hat,
dass er vor der Tür steht und sich bei ihr einnisten will.
Zweitens, weil er zu alt ist.
Ich kenne einen Fall, in dem ein besonders
attraktiver, viriler und gut situierter Mann von vierundsiebzig
eine quirlige Französin von zweiundvierzig für sich gewann. Sie
heirateten. Alles lief sehr gut, sie zogen in eine fabelhafte neue
Wohnung, machten viel zusammen. Und plötzlich war er achtzig, dann
fünfundachtig, dann neunzig, sie erst Ende fünfzig. Alles
veränderte sich. Er wurde ihr mit seiner Diabetes und den
Prostataproblemen, besonders aber seiner Langsamkeit lästig. Sie
fing an, ihn wie ein nervendes Kind zu behandeln, wurde gereizt, er
schmollte, seine Kinder aus erster Ehe hassten die dominante
Demoiselle und versuchten erfolglos zu intervenieren.
Und dann tat sie das Unglaubliche. Sie lieferte ihn
im Altersheim ab!
Und da sitzt er heute noch, während sie
Kulturprogramm und kleine schicke Reisen macht, zu flotten
Frauenabenden geht und sicherlich, inzwischen auch über sechzig, in
die Online-Dating-Szene schielt.
Dasselbe Problem gibt es wohl auch bei Frauen mit
viel jüngeren Männern. Ich weiß nicht, was die jüngeren Männer über
das Thema denken, wenn sie überhaupt darüber nachdenken, und ob sie
dieselben Ängste haben.
Die Geschichten jedoch, wo ein sexy Fünfziger seine
achtundsiebzigjährige Ehefrau oder Geliebte aufopfernd pflegt, sind
hauptsächlich in Hollywood angesiedelt.