Gepflegte Langeweile

Ganz sicher nicht bei Jürgen, auf den ich
bei einer Schale experimentell wirkender, neuer grüner Teesorte in
einem Café wartete, während ich irritiert ein Paar mit einem
brüllenden Kleinkind dicht neben mir beobachtete. Wie es dieser
Tage so üblich ist, dürfen ja Babys, Hunde, Elefanten, Fahrräder
und was nicht alles überall mit dabei sein in Deutschland,
besonders in engen Cafés.
Jürgen und ich hatten einen eher wortkargen
Mailwechsel gehabt.
»Wie geht’s?«, wurde gefragt und »Wir können uns ja
mal treffen« vorgeschlagen.
Also keine aufflackernde Leidenschaft und nicht
jugendfreie Fantasien von unaussprechlichen Sexualakten, die
Schlagsahne, Kokain und Strapse einschlossen sowie den nicht
einzudämmenden Drang, sich augenblicklich zu sehen. Aber nach Mario
dachte ich: Warum nicht einen ganz normalen netten Typen
treffen?
Dann hatten wir zweimal telefoniert, und Jürgen
sprach wunderbar lang gezogen Hamburgisch, angesiedelt in der
Uwe-Seeler-Schule des Sprachmusters: »Also, woll’n ma so sogen,
nä?«
Das Foto hatte einen großen Kopf mit viel üppigem
und lockigem Haar gezeigt, seitlich grau, obenauf mit diesem
Rotstich, der von getöntem Haar herrührt, und diese etwas
aufgerissenen Kinderaugen, die zu fragen schienen: »Was ist los?
Wo bin ich? Wer bin ich? Bitte seid lieb zu mir.« Um die Lippen lag
ein ganz winziges unsicheres Lächeln. Aber irgendwie sympathisch.
Was weiß ich, warum wir ein Gesicht als nett empfinden.
Jürgen hatte angegeben, auch freiberuflich im
Künstlermilieu tätig zu sein - wollte aber nicht konkret mit der
Sprache herausrücken.
Karen riet mir von ihm ab: »Der hat doch kein Geld!
Ich würde die armen Schlucker sausen lassen. Geld macht Männer in
unserem Alter einfach attraktiver. Aber vielleicht ist er ja der
Kracher im Bett, das würde einiges ausgleichen.«
Zumindest ist er in der Tat, so wie angegeben, ein
großer kräftiger Mann von einem Meter siebenundachtzig in schwarzem
Mantel, schwarzem Hemd und schwarzen Jeans. Er guckt mich mit
diesem unsicheren und doch treuherzigen Blick an. Sein wildes Haar
ist leider einem schnippelfreudigen Friseur zum Opfer gefallen und
legt sich kurz und zahm kringelnd wie eine sorgfältig ondulierte
Alte-Damen-Frisur um sein rundes Gesicht. Vielleicht ist er extra
meinetwegen zum Haareschneiden gegangen, weil er »anständig«
aussehen wollte?
Ich bin nicht völlig immun gegen große Männer,
auch wenn zwei meiner wichtigsten Freunde ein paar Zentimeter
kleiner als ich waren. Was für mich überhaupt kein Problem war -
für sie aber schon.
Vor einem Jahr trat dann ein alter und körperlich
recht kurzer Bekannter wieder in mein Leben und fand mich plötzlich
sehr attraktiv. Weshalb er mich mehrere Male zu
recht schicken Partys und offiziellen Anlässen einlud. (Er ist ein
Star-Anwalt.)
Damit ich auf keine dummen Ideen kam, befahl er mir
per Mail zweimal am Tag der jeweiligen Veranstaltung, absolut
flache Schuhe anzuziehen. Eigentlich sehr kindisch für einen
gleichaltrigen Mann, ich fand es zumindest komisch. Da ich relativ
groß bin und gern zügig gehe, besitze ich keine echten High Heels,
nur gemäßigte Hacken. Es bestand also keine Gefahr für
»Liliputman«.
Für einen Moment kam das Biest in mir hoch und ich
dachte: Jetzt leihe ich mir ein paar richtig schöne hohe
Plateausohlenschuhe.
Doch meine eigene Bequemlichkeit gewann. Er kriegte
seinen Willen und legte immer sehr glücklich seinen Arm - etwas
mühsam - um meine Schulter.
Etwas Ernstes oder Aufregendes ist aus diesen
flachsohligen Rendezvous trotzdem nie geworden. Warum wollen Frauen
größere Männer? Schutzsuche, sagt man, und Aufschauenwollen, also
die niedliche anlehnungsbedürftige Frau spielen, die sich in seine
Armbeuge schmiegt und das Kinn hochreckt, während sie ihn
bewundernd anhimmelt. So wie in dem schönen berühmten Paarfoto von
einer besonders mädchenhaften Marilyn Monroe mit ihrem dritten
Ehemann, dem baumlangen Arthur Miller.
Warum bin ich nicht zu Hause im Bett geblieben und
habe Zeitung gelesen - es ist nämlich Sonntag - und mir einen
saugemütlichen Vormittag gemacht?, schießt es mir durch den Kopf.
Man weiß nämlich schon nach fünfundzwanzig Sekunden, da gibt es
genügend wissenschaftliche Studien, ob die Chemie stimmt.
Es empfiehlt sich sowieso, beim Daten schon vorher
Plan A und Plan B zu machen. A für den Fall, dass er ein toller
Fang ist. B für den höflich schnellen Abgang bei Schnarchfaktor
eins.
»Mmh, guter Tee«, breche ich gewagt das Eis, er hat
auch welchen bestellt.
»Meiner auch«, antwortet er, und schon sind wir bei
seinem liebsten Thema - dem Tee. Er weiß über die verschiedensten
Sorten so gut Bescheid wie ein Teepflücker in Darjeeling und verrät
mir, wo man den billigsten First-flush vom Importeur kriegt.
Das ist nett und auch hilfreich, denn ich trinke gern Tee, aber
mein Fuß fängt an dem übergeschlagenen Bein an zu wippen, ohne dass
ich es sofort merke - das alleruntrüglichste Zeichen, dass ich
ungeduldig und gelangweilt bin.
Ich will endlich wissen, welchen künstlerischen
Beruf denn Jürgen ausübt. Er druckst ein wenig herum, starrt mich
an und sagt: »Na ja.«
»Na, irgendeinen Beruf hast du doch sicherlich?«,
insistierte ich.
»Eigentlich bin ich Elektriker, aber dann habe ich
viel mit Kabeln zu tun gehabt und war öfter beim Fernsehen
beschäftigt. Mit der Beleuchtung!«
Jetzt ist es heraus. Also Beleuchter. Dessen muss
man sich doch nicht schämen! Im Gegenteil.
Die Unterhaltung plätschert quälend dahin, doch
dann kommt er mit der besten Geschichte aus der Datingszene, die
ich je gehört habe. Ich hatte ihn gefragt, was er denn bisher so
für Frauen getroffen habe.
Da war vor zwei Jahren, als er anfing, eine
Ukrainerin. Sie war hübsch, man kommunizierte gebrochen, und nach
zwei Mails rückte sie mit der Wahrheit über ihr wirkliches
Begehren heraus. Vielleicht war sie auch eine
Stand-up-Komödiantin, die Spaß hatte, ausländische Männer an der
Nase herumzuführen. Denn es waren keine sahnigen Trüffel oder ein
Paar sündige Sandalen in Gold von Manolo Blahnik, sondern eine
Ladung Brennholz, die sie geschickt haben wollte, das sei sehr
knapp dort im russischen Winter.
Jürgens große Kinderaugen sind ohne schalkhaftes
Blinzeln, also stimmte es.
»Nein, das kann nicht sein«, rufe ich aus.
»Doch, wirklich«, beteuert er ernst.
Das ist das Highlight mit Jürgen und ein wirklich
komisches, und das bleibt es auch in den verbleibenden dreizehn
Minuten unseres dynamischen Dates.
Jürgen guckt mich ununterbrochen mit seinen runden
Augen an, ein bisschen wie ein netter Hund, dem man einen Knochen
versprochen hat und der erwartungsvoll darauf wartet. Er tut mir
leid. Es ist schwer als Mann (sicher auch als Frau), so gar kein
Talent für Konversation zu haben.
Ich aber will nur weg. Auf dem Weg nach Hause
beschließe ich, keine Männer nur wegen ihrer Locken zu
treffen.
Später finde ich heraus, dass es ganze Websites nur
für datende Damen aus der Ukraine gibt. Entweder gibt es zu viele
davon, sie haben etwas, was der Rest der Frauen nicht hat (außer
Brennholz), oder es handelt sich um einen geheimen Sexcode, den ich
in meiner Naivität nicht kenne.
»Die wollen alle einen alten reichen Deutschen
heiraten oder anderweitig abzocken, Dummchen, und dann mit viel
Gold und Nerz behängt, dickem Make-up und blond gefärbt ein Leben
wie in einem Lady-Gaga-Video führen«, klärt mich Sarah auf.
Was stimmt nicht mit mir?
Ich fühle mich schon wieder leicht deprimiert nach
so einem völlig überflüssigen Date. Es kommt eine gewisse
Verzweiflung durch, und sie erinnert mich daran, dass ich
tatsächlich Single bin und mich um einen Mann bemühe. Per Internet.
Peinlich. Das kann doch nicht klappen.
Natürlich misstraue ich den vielversprechend
aussehenden und sich anhörenden Männern, und unausweichlich
entsteht ein typischer Dialog in meinem Kopf: »Wenn er so ein
toller Mann ist, warum sucht er eine Frau im Internet?« - »Warum
nicht, du tust dasselbe und bist toll«, wäre theoretisch die
richtige Antwort und nicht eine typische Eigensabotage wie:
»Ich würde nie einem Club beitreten, der mich als Mitglied
nimmt.«
Das sagte bereits der legendäre Komiker Groucho
Marx, und Woody Allen stimmte ihm zu - sicherlich auch Donald Duck,
die von Selbstzweifeln geplagte Ente.
»Was stimmt nicht mit mir«, fragt obendrein die
kleine nagende Stimme, die niedliche Kinderschuhe trägt und nicht
den Mund halten will, »dass ich mich für Geld anbieten muss?«
(Elite und Parship sind nicht billig!)
Karen jedoch sieht das ganz anders.
»Also, eigentlich finde ich es toll, wie du das so
routiniert einfädelst mit dem Treffen von Männern und all den
Mails«, gesteht sie, die auch seit einem Jahr Single ist und
vierundfünfzig wird. »Ich könnte das nicht.«
Sie will es aber auch nicht, hat sie mehrmals
erklärt, sie sei alles andere als an einer neuen Beziehung
interessiert.