Liebe & Sex - gestern, heute, morgen
039
Wie wir mit Liebe und Sex umgehen, hat etwas mit der Sozialisierung zu tun und welche Ära uns geprägt hat. Die Generation, zu der Philipp und ich gehören, die in den späten Sechzigerjahren mit ihrem Sexleben anfing, hatte das große Glück, die sogenannte sexuelle Revolution mitzuerfinden und auszuleben und so ins Bewusstsein der geschockten und angepassten Bürger zu torpedieren.
Fröhlich vögelnde junge Leute in bunter Kleidung und freizügiger Haltung wollten - mit Recht - Muttis und Vatis verklemmten und mit Gardinen verdunkelten Schlafzimmer-Spießersex ein für alle Mal einmotten. All You Need Is Love war die Hymne der Dekade, aber All You Need Is Sex wäre genauso passend gewesen.
Was wirklich schön war: Wir entdeckten echten, frischen Sex, frei von muffigen Moralvorstellungen, Sex, der Spaß machte, der uns den neuen jungen Männern, die es parallel zu den neuen jungen Frauen gab, näherbrachte. Und gleichzeitig Stoff für vorher nie gehabte Diskussionen über die Rolle der Frau war. Spaß an Sex zu haben und offen darüber zu reden normalisierte ihn und bestätigte die neue Freiheit.
 
Als ich sechzehn war, also am Anfang des bewussten Flirtstadiums stand, hätte ich niemals gewagt, einen Jungen oder Mann in einer flirtigen Art direkt anzusprechen.
Der erste Kuss von einem Jungen in meiner Klasse - gegen meinen Willen stürmisch auf meine Lippen gedrückt, während wir auf einer Klassenreise in einer Jugendherberge waren und zu sechst einen Spaziergang im Wald machen durften - war doof, fand ich. Ich machte mich empört los und schubste Peter weg, der sehr draufgängerisch und blond war. Er lachte frech. Ich errötete. Wir waren beide dreizehn.
Da er mir in der Klasse gegenübersaß, hatte ich allerdings Zeit genug gehabt, meine ersten unbewussten Flirtversuche an ihm zu praktizieren. Ich war auf einer Ebene recht kokett und eine intuitive Flirterin. Das hatte sicherlich damit zu tun, dass ich eine schöne Mutter hatte, die ihren Charme dazu benutzte, alle - vom Postboten und Straßenbahnschaffner bis zu den Kollegen meines Vaters - einzuwickeln und dabei ganz naiv zu tun.
Mit siebzehn hatte ich dann meine erste richtige Knutschorgie, und wie so oft im Leben kam Verwandtschaft zur Hilfe. Ich hatte einen schnuckeligen Cousin, der drei Jahre älter war und der einzige Junge in der Familie. Er wohnte in einem sehr großen gastlichen Haus und hatte viele Schulkameraden, die gern zu Besuch kamen.
Ich auch, denn Ingo war oft dort, und der hatte so ein offenes, pfiffiges Grinsen - das Wort sexy benutzte man 1963 nur für Marilyn Monroe, ganz sicher nicht für Jungs von zwanzig Jahren.
Ich befand mich in dem Stadium von Erfahrungshunger, das eine nahezu wissenschaftliche Komponente hatte. Hier gab es etwas zu lernen.
Und so drückten wir uns eines sonnigen Nachmittags auf der Couch im Zimmer meines Cousins herum und fielen plötzlich wild küssend übereinander her. Ich weiß nicht mehr, ob ich feuchte, suchende Lippen und Zungen so richtig aufregend fand, aber ich entwickelte einen verspielten Enthusiasmus bei dieser leicht albernen Tätigkeit, sog heftig an seinen Lippen und biss auch mal rein. Ja, und dann fing das »Grabbeln« an - ich sah es kommen.
Ingo hatte seine Hände überall, besonders da, wo sie nicht hingehörten, auf den Schenkeln, auf dem Busen, der Gott sei Dank von einem BH geschützt war. Und da fing dann der Klassiker an, sozusagen der erste Schritt in die weibliche Welt der Sexualität, den jede junge Frau aus diesen Jahren kennt: der männliche Kampf mit dem vertrackten BH. So, als wäre er die letzte Festung vor dem Fall, verteidigte ich meinen gesteppten rosa Büstenhalter, an dessen hakigem Rückenverschluss Ingo mit einer Hand wild herumfummelte.
»Lass das«, sagte ich ein paarmal pflichtschuldig und schob die andere Hand aus dem BH-Körbchen.
Ich glaube, ich haute ihm sogar auf die Finger, denn hier lauerte Gefahr für meine Unschuld. (Später lernte ich, dass die ganz geübten Jungs die BHs mit nur einer einzigen Fingerbewegung flink aufkriegten.)
Nach einem verschwitzen Kleinkampf ließ er von meinem Busen ab und stürzte sich auf meinen Hals, an dessen zarter weißer Haut er kräftig herumlutschte. Ich trug die resultierenden rotvioletten Knutschflecken wie eine wertvolle Markierung und dem Stolz einer erfahrenen Frau von Welt vor mir her.
Ich gehörte dazu, ich war begehrt worden!
Nur zu Hause trug ich tagelang einen Rollkragenpulli. Die neuen Kusslektionen trug ich schnell weiter.
Bei mir in der Schule war ein älterer, sehr erwachsen wirkender, leichenblasser Schüler mit einem schmalen verschlossenen Gesicht und einem sehr langen Kamelhaarmantel. Er sah interessant und gequält aus; ich mochte so was.
Ich kriegte ihn dazu, mich anzusprechen, und wir verabredeten uns bei ihm zu Hause, weil seine Eltern meistens verreist waren. Ich erschreckte ihn ein wenig mit meinen enthusiastischen Lippen und dem leidenschaftlichen Getue. Er schob mich von sich, wurde sehr ernst und erklärte, dass er nur eine Jungfrau heiraten würde.
Heiraten? Wie kam er denn darauf?
Ich ging enttäuscht und verwirrt nach Hause. Es dauerte dann noch gut drei Jahre - gefüllt mit sehnsuchtsvoller Erregung und Knutschen, Küssen, Grabbeln - nackt und angezogen -, bis ich den sexy, langhaarigen jungen Mann fand, mit dem alles magisch klappte, drogen- und alkoholfrei, zum Sound von den Beatles und Rubber Soul.
Hat je eine Generation mehr Glück gehabt beim Soundtrack ihrer Defloration?
 
Übrigens, ich weiß, wie naiv und rührend so ein unschuldiges Teenagerleben den heutigen sexuell aggressiven und angeblich coolen Teenies vorkommen muss. Ich las vor nicht langer Zeit irgendwo, dass Blowjobs auf dem Schulklo, nebenher ausgeführt wie Pinkeln, solche biederen Pausenbeschäftigungen wie lachend herumzustehen und Stullen zu essen ersetzt haben. Wie traurig, dass der Dienst am Mann so früh und so anstrengend anfängt. (Die Mädchen sind oft erst um die dreizehn! Das hat mich wirklich schockiert.)
Auf die Idee, mir ganz souverän den Penis eines Jungen zu schnappen und daran herumzulutschen, nur damit er mich mag, wäre ich damals nie gekommen. Heute eigentlich auch nicht.
Irgendwann fängt dann der Rückblick an, etwas sehnsüchtig und wehmütig vielleicht. Wie war ich als junge Frau? Was ist meine sexuelle Vergangenheit? Habe ich mich ausdrücken und ausleben können? Bin ich mir näher gekommen und den Männern meiner Träume? Konnte ich das Glück anpacken und festhalten?
Das Schönste war immer der Rausch, die Gier, die Freude und die Ungeduld.
Eigentlich hatte ich Angst vor Bindung und vor dem nackten Ausziehen der Seele; mein furchtsames Herz war im Weg, um eine wirklich intime Beziehung aufzubauen. Ich übersprang das jedoch und konzentrierte mich auf das blind machende Begehren und die Lust, die mir mein Körper diktierte.
»Du musst dich in diesen Strudel stürzen«, sagte er, »um darin auf wunderbare Weise unterzugehen.«
Ich erinnere mich noch, ich war bestimmt schon zwanzig, als ich Sex und pure Lust entdeckte und mit großem Erstaunen, ja zuerst auch einem gewissen Schrecken, feststellte, dass Sex nicht unbedingt mit Liebe zu tun hatte. Was so ein bisschen war, als ob man Federball ohne Schläger spielen könnte. Man musste also gar nicht die ganze Schachtel Pralinen kaufen, wenn man nur Lust auf eine hatte! Was für ein wunderbares Lustbefriedigungsprinzip, schnell, direkt, ohne große Verpflichtungen. Der Körper war nicht unbedingt nur Sitz der Seele, sondern scheinbar auch ein Instrument für alle möglichen Spielereien. Er hatte seine eigenen Ideen über Erregung und Hingabe.
Wenn ich etwas mit großer Sehnsucht zurücksehne, dann ist es diese köstliche Hingabe, das kurze Eintauchen in die Substanz des anderen. Das sind die einzigen Verschmelzungsfantasien, die ich liebe, die ich gelten lasse. Wem diese Überlegungen reichlich naiv und altmodisch vorkommen - und das dürften wahrscheinlich Frauen unter vierzig sein -, kann sich das lustfeindliche verklemmte Klima nicht vorstellen, das bis Mitte der Sechzigerjahre herrschte.
Wir jungen Frauen hatten gelernt, dass wir als anständige Mädchen, also als Jungfrau, in die Ehe gehen sollten, denn Sex war nur in der Sicherheitskombination Liebe/Ehe erlaubt. Und dass dort, in der sündenfreien Zone, der Mann vollkommen die sexuelle Gestaltung übernahm und die Frau die willige Ausführende war. Wer auch immer der erste Mann war, der im Bett die zugegeben etwas ungelenke Frage »Wie war’s für dich?« gestellt hat, der war ein Revolutionär und Frauenversteher.
Zumindest waren das die ersten bescheidenen Versuche, den Frauen ein erfülltes Sexleben zuzugestehen. Denn die Vorstellung, dass sexuelle Begierde wichtig, drängend und daher eine männliche Domäne sei, da Frauen von Natur aus passiv, anständig und etwas weniger lustbetont waren, schien zu bequem, um sie aufzugeben. So konnten Männer, die es im Bett nicht brachten, sich hinter der Erklärung verstecken, dass Frauen die Qualität von Sex nicht beurteilen könnten, da sie keine Expertinnen waren. Raffiniert, oder?
 
So läuft das heute nicht mehr. Ich bin mit einigen jungen Frauen befreundet und frage immer wieder nach, ob denn die sexuelle Revolution, die wir angefangen haben, weitergeführt wurde.
Doch, schon, meinen sie. Ganz, ganz wichtig sei, dass sich Frauen die unterwürfige Sex-Sklavin-Rolle abgewöhnt haben und stattdessen zur Lusttäterin geworden sind.
Aggressiv, wagemutig, bereit zuzugreifen, treiben sich die jungen Wölfinnen der Großstadt überall herum und nehmen sich ohne Scheu, wonach ihnen der Appetit steht.
Der Penis, einst als wertvolles Gut gehandelte Adelsware des Mannes, hat sich entgegen seines Rufs als ziemlich klein erwiesen und ist auf fassbare Durchschnittlichkeit geschrumpft. Frauen greifen nach ihm, wann sie Lust haben, und achten völlig egoistisch darauf (auch das ist eher neu), dass sie selber zum Orgasmus kommen. Jede ist sich selbst die Nächste, den Herrn der Lüste gibt es nicht mehr.
»Und die Romantik«, frage ich zaghaft, »wo bleibt die?« - »Ach, die bleibt schon noch. Wen man verliebt ist, ändert sich nicht wirklich grundlegend etwas, ist alles wie vor tausend Jahren«, wird mir erklärt.
Wie wahr.
Sexy Sixty - Liebe kennt kein Alter -
bern_9783641042240_oeb_cover_r1.html
bern_9783641042240_oeb_toc_r1.html
bern_9783641042240_oeb_ata_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c01_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c02_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c03_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c04_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c05_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c06_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c07_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c08_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c09_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c10_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c11_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c12_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c13_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c14_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c15_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c16_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c17_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c18_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c19_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c20_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c21_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c22_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c23_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c24_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c25_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c26_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c27_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c28_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c29_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c30_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c31_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c32_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c33_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c34_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c35_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c36_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c37_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c38_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c39_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c40_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c41_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c42_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c43_r1.html
bern_9783641042240_oeb_c44_r1.html
bern_9783641042240_oeb_cop_r1.html