Geheime Wünsche - heimliche
Beobachtungen

Ich muss gestehen, dass ich enttäuscht war,
weil es mit dem heißen Super-Cop nicht geklappt hatte. Ich glaube,
ich bin sowieso seit einiger Zeit etwas erotisiert.
Seit Wochen beobachte ich einen Mann im Haus
gegenüber, im zehnten Stock. Er steht zur gleichen Zeit wie ich
auf, macht sich Frühstück in der Küche und läuft dann mit einer
Kaffeetasse hin und her. Seine Silhouette ist sehr ansprechend, er
trägt ein schwarzes T-Shirt und Boxershorts und hat, soweit ich das
sehen kann, hellgraues kurzes Haar. Ich weiß nicht, ob er mich auch
erkennen kann oder sogar bewusst ansieht, die Entfernung ist zu
groß für Gesichtszüge. Wie er wohl von Nahem aussehen mag?
Ich bin neugierig wie alle Schreiber, aber ich habe
mich nie als Voyeurin empfunden, denn ich hatte eigentlich niemals
den Wunsch gehabt, mit einem Fernglas Leute zu beobachten - obwohl
es eigentlich Spaß machen müsste. Aber bei diesem Mann habe ich
Lust dazu.
Das einzig Voyeuristische, was ich wirklich liebe,
ist abends im Dunkeln spazieren zu gehen und in die erleuchteten
Wohnungen zu gucken. Was wunderbar geht, da die meisten Menschen
keine Gardinen mehr haben, so wie früher. Also bin ich eine
gemäßigte Voyeurin.
Vielleicht sollte ich mal winken? Das könnte er
nämlich deutlich sehen. Ich muss gestehen, dass dieses
Online-Dating
mich etwas mutiger gemacht hat und manchmal zu Tagträumen
verführt. Was habe ich schon zu verlieren?
Andererseits kenne ich einige furchteinflößende
Thriller, unter anderem den berühmten Das Fenster zum Hof
von Hitchcock, in dem der Reporter James Stewart mit einem
gebrochenen Bein im Stuhl sitzt und Leute beobachtet - und eben
auch einen Mord. Er wird beim Spionieren erwischt und sein Leben
bedroht (und von einer wahnsinnig sexy und supereleganten Grace
Kelly gerettet).
Vielleicht sollte ich das lassen mit dem Winken.
Und vielleicht sollte ich meine nicht zu ändernde Eigenart
überdenken, sommers wie winters nackt zu schlafen, schamlos die
Jalousien ohne Klamotten hochzuziehen und ein wenig im Zimmer
herumzuspazieren. ER könnte der tolle Mann sein, der unter
hotte90 eine Frau für gewisse Stunden sucht. Oder eben der
Jack the Ripper von Parship. Oder mein abgesprungener
Fahnder.
Zwei Wochen später passierte etwas Komisches. Ich
sah Norbert in einer Espressobar, in der ich nur war, weil eine
Bekannte dort um die Ecke wohnt und wir einen schnellen Kaffee
trinken wollten.
Er saß da mit einer ziemlich jungen Frau und
flirtete, was das Zeug hielt. Man sieht ja so was an der
Körpersprache - bei Frauen sind es der extra Kiekser in der Stimme,
das Durchdrücken des Rückgrats und das Drehen an einer Haarsträhne,
beim Mann ist es der Blick, der unauffällig taxierend über den
Körper gleitet, um festzustellen, ob alles in genügender Fülle am
»richtigen« Platz ist. Und ich dachte in dem Moment, dass man gegen
Jugend natürlich nicht ankann.
Es muss wohl ein Gen geben, das besonders bei
Männern um die fünfzig massiv einkickt und das ihnen befiehlt - oft
entgegen ihres besseren Wissens -, alles Weibliche, was Haut
zeigt, schwellende jugendliche Formen hat und möglichst goldenes
langes Haar, mit dem Lechzen eines untrainierten jungen Hundes in
einem alten Körper zu verfolgen, als wäre es eine Wurstscheibe an
der Schnur.
Tut es mir weh, das zu sehen? Nein. Finde ich es
ungerecht und unverschämt? Ja. Fühle ich mich persönlich geschmäht?
Nein. Aber natürlich nur, weil ich ihn nicht liebe, nicht mal mag
oder aufregend finde.
Ein Impuls war, hinzugehen und besonders
demonstrativ und vielsagend Hallo zu sagen. Doch was sollte das?
Ich wollte gar nicht, dass er mich sah.
Heide, die Bekannte, hatte meinen Blick verfolgt,
und ich erklärte ihr in knappen Worten mein geheimes Leben als
Online-Daterin. Sie war verblüfft und meinte: »Dass du so was
machst! Hätte ich jetzt nicht gedacht.«
Ja, die Welt ist voller Überraschungen, und ich bin
die Frau mit den tausend Gesichtern, froh, Norbert abgewiesen zu
haben.
Später sitze ich in der S-Bahn und gucke mir so
die Männer und Frauen um mich herum an. Studenten, Rentner,
Werktätige, Prolls, hübsche Mädchen, nette Omas.
Ob die auch Online-Dating machen?, frage ich mich.
Vielleicht haben sie das gleiche Geheimnis wie ich und denken
dasselbe, wenn sie mich angucken.
Aber sehe ich wie eine Frau aus, die auf »Herren
suchen Einzeldame für das Besondere - in fester Verbindung«
antwortet? Oder auf: »Bei mir gehen die Philosophen auch nicht ein
und aus und lassen ihre Sprüche liegen. Abends will ich meine Ruhe
haben. Du auch?« Und so habe ich wieder einen meiner »altmodischen«
Anfälle und schliddere
zurück in meine mir vertraute Realität und meinen Lebenstil.
Ich will keinen Mann übers Internet kennenlernen,
denke ich. Ich glaube an die Macht der Zufälle - oder wie manche
gerne sagen: »Es gibt keine Zufälle.«
Aber ich habe die Rechnung ohne das Internet
gemacht. Und mich selber in meiner Standfestigkeit nicht ganz
richtig eingeschätzt. Ich merke nämlich, dass ich mich an meine
täglichen Mails so sehr gewöhnt habe wie ein Junkie an seine
Spritze. Kurz, ich bin mailsüchtig geworden.
Davor hatte mich schon eine Freundin gewarnt, die
sich jeden Abend bis spät nachts online festquasselte und sich
dabei ertappte, dass sie von einer generellen Unruhe erfasst war,
alle zehn Minuten zum Computer rannte, um die Mails zu checken.
Warum? Was war die Erwartung? Dass ein Wunder geschieht? Der
Computer als Apparat für Wunscherfüllung und Spannung.
Wenn man mit anderen Datern über seine Erfahrungen
spricht, dann ist das wie ein Treffen der Anonymen Alkoholiker oder
einer anderen Suchttherapie, bei dem man seine Erfahrungen
austauscht und ein Geständnis macht: »Hallo, ich bin Isabella und
ich bin eine Online-Daterin.«