Der Greis ist heiß

Es ist natürlich erstaunlich, was aus dem
Thema Älterwerden heute geworden ist, wie locker und souverän,
zumindest nach außen hin, man damit umgeht. Glaubt man den
Babyboomern, der zahlenmäßig größten Generation überall in der
westlichen Welt, dann wird die unmittelbare Nachkriegsgeneration
überhaupt nicht alt! Ein Wunder? Nein, geschickte
Öffentlichkeitsarbeit. Ganz einfach tolle neue Begriffe erfinden,
die von den traurigen Fakten ablenken, dass wir bessere Tage
gesehen haben. Silver Surfer statt Schlurf-Omi, Best
Agers statt abgetakelte Alte. Und dazu haben Medien einfach die
Sechzig als die neue Vierzig ausgerufen.
Der Greis ist heiß! Sie dürfen alle auch noch
erotische Fantasien haben, denn das einstige Tabuthema »Sex mit
sechzig« ist längst aufgebrochen worden. Ältere Menschen sind
vitaler denn je, immer noch gierig auf Leben und Luxus und
scheinbar auch auf Sex.
Wer einmal von Oswald Kolle gehört und gelernt hat,
in den Siebzigerjahren sexuell aktiv war, der hat sein Sexleben so
lieb gewonnen wie die »Trekkies« Mr. Spock und wird nicht mit
fünfzig, sechzig oder siebzig die Bettdecke unters Kinn ziehen und
die Knie fest zusammendrücken.
Ich erinnere mich an meine Großeltern, beide vor
1900 geboren, und wie alt sie schon mit fünfzig waren. Meine
schlanke hübsche Großmutter hatte sich längst in ihr Matronenleben
ergeben, als sie Anfang vierzig war. Mein Großvater, ein strenger
Patriarch mit vollem weißem Haar und einigen Launen, wirkte nicht
wie ein wilder Hengst, und meine Großmutter wurde niemals
beobachtet, wie sie sich auf seinen Schoß setzte, ihn mal spontan
drückte oder küsste. Ich habe sie nicht einmal Händchen halten
gesehen. Niemals! Paare wirkten wie zwei Figuren, die man deshalb
zusammengestellt hatte, weil man sonst nicht so recht wusste, was
denn bitte einzelne Männer oder Frauen ohne den anderen tun
sollten. Wenn man die viktorianischen Szenen einer properen Ehe mit
den heutigen Forderungen nach persönlicher Liebeserfüllung mit
allen Schikanen vergleicht - also, dann hat die sexuelle Revolution
schon stattgefunden. Schade nur, dass die Galanterie mit ihr zum
Teil draufgegangen ist. Ich vermisse manchmal so etwas ansprechend
Altmodisches, wie zum Beispiel das Taschentuch fallen zu lassen.
Was sowieso problematisch ist. Keiner hat mehr welche aus feinem
Batist. Und alles, was von Frauen fallen gelassen wird - Tasche,
Schlüssel, Sonnenbrille, Lipgloss, Handschuhe, Handy -, wird
entweder geklaut, ignoriert, mit dem Fuß zur Seite geschoben oder
mit einem burschikosen Schultertippen: »Sie habe da was fallen
lassen« quittiert.
Bliebe nur noch die Möglichkeit, einen BH oder
Tanga fallen zu lassen, aber das wäre zu sehr amerikanische
Fünfzigerjahre-Komödie. Davon abgesehen, sind ja die öffentlichen
Tangajahre mit sechzig vorbei.