Latin Lovers - damals und heute
013
Diesen hier habe ich mir ausgesucht. Nach so viel geradezu staubtrockener Geruhsamkeit mit Dirk will ich Lachen und Flirten. Und doch: Was um alles in der Welt tue ich hier?, denke ich, während ich in einer netten Trattoria auf Mario warte.
Ich treffe mich mit einem Pizzeriabesitzer zwecks romantischer und vielleicht sexueller Spielereien. Pizzapapa hatte sich online als lustiger und lustbetonter, sorgenfreier, geschiedener Mann (drei erwachsene Kinder) mit einem sehr gut gehenden Geschäft vorgestellt. Er suchte eine attraktive, lustige, unabhängige, warmherzige, sexy Frau zwischen fünfundvierzig und fünfundsechzig, die auch »sehr offen für Leidenschaft« ist.
Das alles bin ich, oder kann es zumindest sein! Er bot Erotik und Pizza satt sowie romantische Reisen in seine Heimat Italien. Sein Foto zeigte einen sehr gut aussehenden, leicht eitel, aber freundlich dreinblickenden Mann Ende fünfzig, der irgendwo im Süden vor Weinranken saß.
Wahrscheinlich sein kleiner Palazzo in Siena, fantasierte ich.
Ich komme aus der Generation, für die Italiener Sonne, überschäumende Lebensfreude, Eis, Pizza und Spaghetti repräsentierten. Sie waren die ersten Gastarbeiter, die in den Fünfzigerjahren mit amore, O Sole Mio und geölten schwarzen Locken so manchem deutschen Fräulein mit Bienenkorbfrisur und spitz gestepptem Büstenhalter unterm engen Orlonpulli den Kopf verdrehten, weil sie ihr nachpfiffen und sie so unverhohlen lüstern anstarrten, wie es kein deutscher Mann gewagt hätte.
Wir fanden sie als Kinder faszinierend, ein bisschen wie Zigeuner oder Zirkusartisten. Jede Eisdiele, die irgendwie alle Venezia hießen, gehörte Italienern, und da ich Eisversessen war wie jedes kleine Mädchen damals, liebte ich eine Kugel Stracciatella - kein Deutscher konnte es aussprechen (und kann es immer noch nicht, wenn man genau hinhört) - mehr als jedes doofe Fürst-Pückler-Eis.
Oh ja, ich kann mir einen Lebensabend in Italien wunderbar mit einem Mario oder Giuseppe vorstellen, wo die alte, schwarz gekleidete Großmutter Pasta kocht, wenn seine Kinder mit den Enkel-Bambini zu Besuch kommen.
Perfekt, solange ich sonntags nicht in die Kirche muss, denke ich.
Mit diesem nostalgischen Bonus im Hintergrund hatte ich Mario angemailt, er hatte sofort mit einer charmanten Mail geantwortet, die ein klein wenig radebrechend klang. Aber das war amüsant. Man hängt ja am Italo-Klischee. Unser Flirtprogramm hatte also offiziell begonnen.
Mario gehören zwei Pizzerias, und er hat scheinbar viel Zeit - und verlässliche Angestellte, denn er ist viel online, wie ich sehe. Bald wagen wir den Vorstoß zum Chatten.
»Für was interessierst du dich, Mario?«, tippe ich ein, nachdem geklärt ist, dass er als Junge mit der Familie aus Neapel nach Berlin gekommen und geblieben war. »Sex«, ist die Antwort.
»Wer nicht?«, antworte ich.
»Dann wir sollten uns schnell treffen«, meint er.
»Ein bisschen zu schnell, das Ganze«, finde ich.
»Wir nicht mehr so jung«, antwortet er nicht ohne Scharfsinn.
Dann will er noch nebenher wissen, wie ich zu oralem Sex stünde. Ich probiere es mit dem Witz, dass ich lieber an einer Tüte italienischem Eis lecken würde.
Er sei in der glücklichen Lage, mich mit beiden Lutschobjekten beglücken zu können, bemerkt er.
Nach einigem Geplänkel hin und her wagen wir den nächsten Schritt.
Telefon.
Vorher fragte ich meine Freundin Sarah, ob man seine Handynummer denn an Fremde, die Sex wollen, herausgeben darf. Könnte theoretisch zu Problemen führen, meinte sie.
Ich will es riskieren. Ich bin Stimmenmensch. Fiepsige, grelle und nölende Stimmen bereiten mir Pein. Mario hat eine wunderbare Stimme: laut, aber enthusiastisch, italienisch mit allem Drum und Dran, auch ein bisschen rollendes R.
Wir verabreden uns.
 
Wenn Frauen Männer treffen, sitzen gleich Genetik und Chemie uneingeladen mit am Tisch und entscheiden in Sekunden, ob man sich küssen und sofort ins Bett stürzen und unglaublich wilden Sex haben will und ob der Mann die richtige Veranlagung hat, gesunde Kinder zu zeugen, oder ob es ganz einfach bei einem freundlichen Glas Pino Grigio und einem Gespräch über die vielen Tiersendungen im Fernsehen bleibt. Und das Gesetz der Attraktion gilt ebenso für ältere Menschen - auch wenn die Schmetterlinge im Bauch angeblich weniger werden sollen.
Ich bin zuerst da und sitze schon draußen mit der Straße im Auge, weil ich überpünktlich bin und es gern mag, wenn der Mann auf mich zugeht, denn dann kann ich gleich seinen Gang sehen. Er geht schnell, ist etwa einen Meter siebzig groß, eher rundlich - oder soll ich sagen kompakt? -, dabei aber nicht schwabbelig. Sein Haar ist dunkel, von Grau durchzogen und zurückgekämmt, wie es sich für einen Italiener gehört. Seine Designerjeans mit Bügelfalte sitzen unterm Bauch, sein weißes Hemd ist immerhin aus Leinen und sein knautschiges hellgelbes Jackett auch.
»Ciao«, sagt er lässig und nimmt meine Hand, »ich bin Mario.«
Ich mag ihn.
Ich gucke ihn mir verstohlen an, als er mit dem Kellner ein paar Brocken Italienisch redet. Sein Hemd ist ziemlich weit geöffnet, perlgraue Haare kringeln sich auf seiner Brust. Ein Blick auf die Füße, und ich muss grinsen. Nach Playboy-Manier trägt er keine Socken, nur etwas abgestoßene dunkelblaue Wildlederslipper mit dünnen Ledersohlen. Aber wenigstens ist kein goldenes Krönchen eingestickt, das hätte ich nicht verkraftet.
Mario, der gelegentliche Raucher, so steht’s im Profil, wirft lässig einen Autoschlüssel auf den Tisch und packt seine Zigaretten und sein Handy dazu. Als er meinen strafenden Blick sieht, geschieht ein Wunder. Er entschuldigt sich und verspricht, dass er es ausstellen wird, nachdem der wichtige Anruf beendet ist, den er aus Parma erwartet. Die erste Zigarette wird gleich angezündet.
»Sie-e rauchen nicht?«, fragt er erstaunt.
Er spricht wirklich so, an alles kommt ein E. Ich schüttele sehr energisch den Kopf.
»Haben Sie mein Profil nicht gelesen?«
Warum Siezen wir uns eigentlich?
Er lächelt und macht eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich habe Foto angeguckt. Das mir gefiel.« Er guckt mich prüfend an. Na, kommt er jetzt, der Satz? Ja! »Du siehst besser aus jetzt hier, im Natur, bella
Endlich sind wir wieder beim Du. Ich nicke und sage Danke. Wedele aber auch gleich den Rauch von mir weg. Das kommt nicht gut bei Rauchern.
»Ah, du bist nicht eine von die Zigarettenpolizei?«, sagt er.
Einen gewissen Humor hat er also. Trotzdem, das Gerauche muss er lassen, denke ich, so als würden wir morgen zusammenziehen.
»Du warst also schon verheiratet?«, frage ich, um die Unterhaltung auf wichtige Themen zu bringen.
»Si, si, mit deutsche Frau natürlich. Nicht so hübsch wie du«, ein etwas routiniertes Lächeln in meine Richtung, aber ich höre es natürlich gern.
Ich bin wieder erstaunt, wie sehr wir Frauen Komplimente lieben, ja aufsaugen, selbst wenn sie von einem halb blinden, besoffenen Vagabunden auf der Straße kommen würden. Die Willigkeit, an sie zu glauben, ist genauso groß wie das Misstrauen, dass sie nicht stimmen könnten.
»Und warum hat es nicht geklappt?«
Männer sehen ja das Verfehlen ihrer Ehe immer total anders als Frauen. Ich finde das interessant.
»Du bist-e zu neugierig, bella«, erwidert er. Ein weiterer Blick auf mich. »Deutsche Frauen sind sehr …«, er sucht nach Worten.
»Tough?«, werfe ich ein. Ein fragender Blick von ihm. »Direkt, stark, Haare auf den Zähnen?«, helfe ich weiter.
Er nickt.
»Ja, taff-e, mein Frau wollte selber Modegeschäft aufmachen und konnte sich nicht um Familie mehr kümmern.« Er guckt plötzlich brütend vor sich hin. »Frauen sind auf Holzweg. Sie verlieren alle Weiblichkeit. Das ist nicht gut.«
Ach bitte nicht, denke ich, nicht die Sache mit der Weiblichkeit. Sie hat ja ihren Platz und ist auch wichtig, aber sollte immer hübsch dosiert werden. Wenn ich richtig schlau und berechnend wäre, und das bin ich leider nicht, würde ich Mario mit all der weichen, hingebungsvollen Weiblichkeit, derer ich fähig bin, einwickeln, bis er sich nicht mehr rühren kann.
»Du bist-e nicht so ein taffe Frau, nein?«, fragt er.
Ich lüge und schüttele den Kopf.
»Und was hat sie beruflich gemacht?« Ich frage das alle verheirateten Männer, wohl weil ich aus dem Beruf der Ehefrau - oder dem Fehlen dessen - auch etwas über ihre Person ableite.
»Sie hat geführt die Pizzerias«, erklärt er knapp.
Wahrscheinlich war es ihr zu viel Arbeit und sie ist weggerannt. Aber dann bricht es aus ihm heraus. Sie ist fünfzig und hat jetzt einen jüngeren Freund.
Vielleicht lässt er beide von der Mafia umlegen, zuckt es mir durch den Kopf, man liest so viel Blutiges darüber in letzter Zeit. Ich dachte immer, Der Pate hätte reichlich übertrieben. Hat er aber nicht, und wenn ich jetzt zu unverschämt zu Mario bin, habe ich vielleicht plötzlich Herren mit schwarzen Handschuhen, Revolvern und Sonnenbrillen an der Hacke.
Mario sieht aber ganz gemütlich aus. Selbst wenn er einmal war, wie man sich damals die Latin Lovers vorstellte: heiß, locker, charmant, ein bisschen Raf Vallone, ein bisschen Mario Lanza. Ich muss lachen und sehe mich als sechzehnjährige Schülerin im Campari sitzen.
 
Ich war magisch angezogen von den neuen Espresso-Bars, die überall in den frühen Sechzigerjahren aufmachten - nach Meinung meiner Mutter Tempel unaussprechlicher Dekadenz, gefüllt mit glutäugigen Don Juans. Sie hatte ein striktes Verbot ausgesprochen, mich nach der Schule auch nur in der Nähe vom Campari blicken zu lassen. Bei uns zu Hause ging es ziemlich streng zu, was die Sexualität der Töchter anging. Natürlich verstärkte das die Faszination dieses verruchten Orts, und so schlenderte ich mit meiner Freundin Hannelore öfter daran vorbei.
Schon mittags hingen dort interessante, dunkelhäutige junge Männer mit hungrigen Augen herum und sippten an Camparis, während sie die vorbeigehenden Mädchen mit Brigitte-Bardot-Frisuren beobachteten.
Während deutsche Jungmänner sauber gescheitelt und solide aussahen, trugen die Südländer lässig um die Schultern geschlungene, pastellfarbige Pullover, enge schwarze Hosen und dünnsohlige schnürsenkellose Schuhe, die ganz eindeutig italienischer Herkunft waren.
Und keine Socken! War es denn möglich?
Das Campari galt als »Abschlepplatz«, aber das war mir nicht klar. Meine Naivität war vergleichbar mit der von Rotkäppchen. Ich war eine wohlerzogene Tochter aus gutem Hause, rauchte nicht und trank weder Espresso noch Campari, die zwei coolen Hauptgetränke dort. Und eines Tages wagte ich es. Ich setzte mich mit einem Glas Selters dort an einen Tisch.
Ich wollte lediglich die Atmosphäre der Freiheit atmen, in dem italienischen Café mit Terazzofußboden an einem runden kleinen Tisch mit Metallstühlen sitzen und nicht wie eine blöde Schülerin wirken, sondern wie eine heiße Braut.
Nichts Schreckliches passierte, außer dass ich ein wenig angemacht wurde und natürlich so tat, als würde ich das nicht bemerken. Das übliche Spiel junger Mädchen damals.
 
Und nun sitzen hier Mario und ich, zwei ältere Menschen, gespickt mit Leben, Lieben und Erfahrungen, und holen den verlorenen Flirt der frühen Jahre nach.
Mario betrachtet geringschätzig den Latte macchiato - der Zimt, den ich draufstreue, verursacht ihm ein Schaudern.
»Wir nicht trinken in Italien so eine Zeugs.«
Ein typisch deutsches »Wir sind hier aber nicht in Italien« drängt sich auf meine Lippen, doch ich sage nur: »Ich mag’s aber.« Ich will als Frau der eigenen Entscheidungen dastehen. Er trinkt schon den zweiten Espresso, natürlich. Es ist sehr warm, die Nachmittagssonne scheint auf uns, und ich langweile mich ein bisschen. Wo ist das stimulierende sexuelle Geplänkel der Online-Unterhaltungen geblieben?
Er nimmt meine Hand.
»Hoffentlich zählt er jetzt nicht meine Altersflecke«, denke ich. Gut, dass ich wenigstens den schönen alten Brillantring meiner Oma am Finger habe, vielleicht lenkt der ab.
»Du hast schöne Hände«, bemerkt er.
Er wächst mir immer mehr ans Herz, auch wenn er vielleicht nur nicht seine Brille aufsetzen mag.
»Die könne zupacken, oder?«
Es klingt etwas anzüglich, na endlich.
»Oh ja, besonders wenn es etwas gibt, was sich zu greifen lohnt«, sage ich so neckisch wie möglich.
Meine Güte, was für ein Niveau!
Ihm gefällt’s, das spüre ich.
Er taxiert mich aus den Augenwinkeln, während ich in dem Latte rühre.
Was machst du denn so, wenn du nicht die Pizzerias beaufsichtigst?, will ich gerade fragen, denn in seinem Profil stand als Hobby: Kunst, Musik, Sport. Also da Vinci, La Traviata und Fußballgucken wahrscheinlich.
Aber sein Handy klingelt und vibriert gleichzeitig auf dem Tisch. Er macht mir ein Zeichen und nimmt den Anruf an. Ein Schwall Italienisch ergießt sich.
Mario blüht auf. Er lacht laut, mit zurückgelegtem Kopf, sein Backenzahn ist aus Gold, er wippt mit dem Stuhl, er gestikuliert mit den Händen, er haut auf den Tisch, sodass meine Tasse klappert, er fährt sich durchs Haar.
Endlich wird es italienisch! Hier ist er, mein Klischee-Italiener. Er erzählt hoffentlich nicht gerade von mir.
Ich könnte natürlich jetzt Sarah anrufen und ihr in unserem Code erzählen, wo ich bin und wie es läuft. Aber ich muss auf die Toilette und entschuldige mich.
Ich liebe bei Dates das Aufstehen und Weggehen, denn dann gucken einem die Männer ungeniert hinterher und checken alles ab, den Hintern, den Gang, die Beine. Meine lassen sich sehen, deshalb habe ich auch einen schmalen Rock an. Er sieht jetzt allerdings auch, dass ich relativ groß bin. Ich glaube, Italiener mögen keine großen Frauen, oder ist das nur Blödsinn? Sophia Loren ist nicht gerade klein und ihr Carlo Ponti war praktisch ein Zwerg, also es geht doch.
Als ich zurückkomme, unterhält er sich mit einer jüngeren Frau, die am Nebentisch sitzt und die er vorher schon angeguckt hat, wie mir einfällt. Hat er die etwa angebaggert?
Sie guckt mich an, als wüsste sie, dass Mario und ich uns online kennengelernt haben.
»Wie bist du in die Liebe?«, fragt er unvermittelt, als ich wieder sitze.
»Was?« Ich blicke ihn überrascht an.
»Mit Sex«, wiederholt er, so als hätte ich die blöde Frage nicht verstanden.
»Fantastisch, kaum ein Mann überlebt ihn, und du?«, sage ich extra ernst.
Ironie ist meine Geheimwaffe, wenn ich nicht wirklich antworten will. Immerhin lacht er, dann greift er entschlossen in die Jacketttasche, guckt sich um, ob ihn einer beobachtet, und holt eine Handvoll Kondome heraus. Er legt sie nicht auf den Tisch, sondern lässt sie mich nur sehen wie ein Lockmittel, und steckt sie dann zurück.
Ich bin weniger geschockt als beeindruckt. Da ist einer gut präpariert. Es ist so ein bisschen, als würde er Zucker oder eine Möhre für ein Pferd mitbringen, um sich beliebt zu machen. Oder als wäre ich in einen illegalen Deal mit interessanten Drogen involviert.
Gleich macht er den Hosenschlitz auf und lässt mich gucken, denke ich und muss lachen.
In Wirklichkeit bin ich enttäuscht von dieser unoriginellen Plumpheit. Nur eine Sekunde lang überlege ich, ob ich dieses Element von sexueller Abenteuerlust in mir finde, die mich sagen lässt: »Meine Wohnung oder deine?« Attraktiv genug ist er eigentlich.
Aber sie ist nicht da, die Verwegenheit, die ich gern hätte. Ich bin zu feige oder schlicht und einfach doch nicht so interessiert. Die Warnung meiner Mutter vor Männern ohne Socken hallt vielleicht auch in mir nach.
Er weiß nicht, wie er mein plötzliches Lachen deuten soll. Er guckt auf die Uhr, die Dämmerung bricht herein mit einem Licht, das alles verschönt, nur nicht ältere Menschen. Ja, so weit ist es mit sechzig, die Natur ist nicht mehr dein Freund und Helfer. Der Rest Latte macchiato ist kalt, Mario auch. Die noch vor zwanzig Minuten schelmischen Augen blicken gelangweilt. Er muss gehen. Er verabschiedet sich mit Handschlag.
»Hat-e mich gefreut. Du bist sehr attraktive Frau.«
Es klingt nicht so recht von Herzen, und meins bricht nicht vor Enttäuschung.
»Hoffe, du kannst die Kondome heute noch irgendwo einsetzen, Mario«, gebe ich ihm mit auf den Weg.
Er trottet davon. Er kann mich mal, mein rüstiger Romeo. Flavio Ragiatone oder so ähnlich hätte er heißen sollen, finde ich, so wie dieser scheußliche alte reiche italienische Playboy, von dem Heidi Klum ein Kind hat.
Nach einer Minute rufe ich Sarah an und sage den Satz, den sie noch öfter hören wird: »Du glaubst nicht, was mir eben passiert ist.«
Die gute Nachricht: Mario hat meinen Latte macchiato bezahlt.
Karen, der ich auch die Mario-Episode erzähle und die etwas konservativer als ich ist, meint nur: »Finger weg von Ausländern.«
Aber dazu kommen wir noch.

Der Krieg der Kondome

Einen praktischen Effekt hatte das Date mit Mario. Es brachte mir das Thema Kondome näher, das ich gern verdränge, wenn ich in keiner Beziehung bin, wo sie nicht unbedingt nötig sind. Denn wer liebt sie schon?
Ich hatte nämlich gar keine brauchbaren mehr im Haus, auch wenn sie ja laut Verfallsdatum ewig halten sollen, sodass man sie weitervererben kann und noch die nächsten Generationen etwas davon haben. Wem hatte ich das letzte Stück aus meinem einst umfangreichen Kondomfundus angedeihen lassen? Gut, die Kavalierin genießt und schweigt.
Nur das Kondomsouvenir von einem Amerikatrip vor sechs Jahren habe ich aufgehoben. Es ist schwarz und steckt in einer Art Streichholzbriefchen mit dem Logo des Virgin Record Store in Los Angeles, in dem sie neben der Kasse gelegen hatten. Umsonst.
Zugegeben, ich bin etwas aus der Übung. Mit meinem letzten festen Freund, von dem ich mich vor sechs Jahren getrennt habe, hatte ich die Sache brav mit einem Aidstest geklärt und brauchte auch keine mehr für Empfängnisverhütung. Die letzten beiden Affären sind locker und lustig gewesen und irgendwie waren Kondome da.
Was genau sind nun aber die gängigen Benimmformeln im Alter von sechzig? Hat man Kondome neben dem Bett liegen und auch in der Handtasche? Überlässt man es dem Zufall, ist man spontan und tut ganz schrecklich überrascht, wenn er Sex will, und hofft darauf, dass er welche dabeihat?
Dass das der Fall sein kann, selbst wenn man nur Kaffee miteinander trinkt, hatte ich ja bei Mario gesehen.
Ach ja, das Kondomthema, es war immer schon freudlos, unsexy, unromantisch und irgendwie viel zu zielorientiert, weil man die sexuellen Absichten irgendwann offenlegen musste. Fast so, als brächte man seinen Sturzhelm zum Motorradfahren mit oder seinen Sattel zum Reiten.
Und Frauen, die immerwährend passiven Prinzessinnen an der Sexfront, mochten vor dreißig Jahren nicht mit der Tür ins Haus fallen - der uralte Hauch von aktiver, männerverzehrender, loser Sünderin ließ sich nicht in einer Generation wegwedeln.
Ich selbst hatte nie ein Kondom in der Hand oder der Tasche gehabt, bevor ich Anfang vierzig war. Das waren für mich seltsame und irgendwie auch unappetitliche Dinger für altmodische ältere Leute.
Mir war nämlich Glück mit vielem beschieden, was sich in den Sechzigerjahren als perfektes Timing herausstellte. Seit ich neunzehn war, nahm ich die gerade neu erfundene Pille, die frischen, spontanen Sex zu jeder Zeit möglich machte - ohne jegliche Diskussion über Verhütung, lästige Unterbrechung und vor allem ohne Angst. Was für ein Geschenk!
Aids gab es nicht, Geschlechtskrankheiten kannte ich nicht wirklich, also blieb nur das Schreckgespenst der ungewollten Schwangerschaft. Und das war verbannt worden.
Später verliebte ich mich einmal in einer Pillenpause - mit dreiundvierzig. Aids war in unser aller Leben getreten, es wurde wie verrückt für Kondome geworben (natürlich nicht vom Papst!), und glücklicherweise war ich inzwischen versiert und reif genug, um mit ihnen spielerisch und locker umzugehen und sie jedem überzuziehen, der keine Zicken machte.
Ich mag sie heute immer noch nicht, auch wenn sie spaßig, bunt und geschmacksverbessert angeboten werden.
Also gucke ich mir informationshalber im Drogeriemarkt das Sortiment an Hygieneartikeln an: Da hängen sie zum Greifen nah, für jung und alt, mit so lustigen Namen wie Billy Boy, Ramses und - besonders faszinierend - Condomi Fruit & Color. Der Hersteller ist … äh … Klosterfrau.
Ist das nicht die altehrwürdige Firma, die den Melissengeist für unsere Großeltern herstellte, und den wir vielleicht bald alle brauchen?
Es gab eine Zeit, da konnte man dem strengen Apotheker Präservative nur mit Rotwerden und Räuspern und unter Vorlage eines Personalausweises (nehme ich an) entlocken, wenn man als junger Mann zu jung aussah. Frauen kauften natürlich keine. Der Penis und sein Zubehör waren eine rein männliche Domäne, so wie Tampons und Binden eine rein weibliche waren.
Heute kaufen Männer und Frauen offen und fröhlich Hygieneartikel von Tampons bis Dildos im Supermarkt. Also, Billy Boys, kommt in meine Tasche.
Irgendwie grinsen musste ich dann doch, als ich nach Hause ging. Wer weiß, ob und wann die Boys zum Einsatz kommen.
Sexy Sixty - Liebe kennt kein Alter -
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