Latin Lovers - damals und heute
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Diesen hier habe ich mir ausgesucht.
Nach so viel geradezu staubtrockener Geruhsamkeit mit Dirk will ich
Lachen und Flirten. Und doch: Was um alles in der Welt tue ich
hier?, denke ich, während ich in einer netten Trattoria auf Mario
warte.
Ich treffe mich mit einem Pizzeriabesitzer zwecks
romantischer und vielleicht sexueller Spielereien. Pizzapapa
hatte sich online als lustiger und lustbetonter, sorgenfreier,
geschiedener Mann (drei erwachsene Kinder) mit einem sehr gut
gehenden Geschäft vorgestellt. Er suchte eine attraktive, lustige,
unabhängige, warmherzige, sexy Frau zwischen fünfundvierzig und
fünfundsechzig, die auch »sehr offen für Leidenschaft« ist.
Das alles bin ich, oder kann es zumindest sein! Er
bot Erotik und Pizza satt sowie romantische Reisen in seine Heimat
Italien. Sein Foto zeigte einen sehr gut aussehenden, leicht eitel,
aber freundlich dreinblickenden Mann Ende fünfzig, der irgendwo im
Süden vor Weinranken saß.
Wahrscheinlich sein kleiner Palazzo in Siena,
fantasierte ich.
Ich komme aus der Generation, für die Italiener
Sonne, überschäumende Lebensfreude, Eis, Pizza und Spaghetti
repräsentierten. Sie waren die ersten Gastarbeiter, die in den
Fünfzigerjahren mit amore, O Sole Mio und geölten
schwarzen
Locken so manchem deutschen Fräulein mit Bienenkorbfrisur und
spitz gestepptem Büstenhalter unterm engen Orlonpulli den Kopf
verdrehten, weil sie ihr nachpfiffen und sie so unverhohlen lüstern
anstarrten, wie es kein deutscher Mann gewagt hätte.
Wir fanden sie als Kinder faszinierend, ein
bisschen wie Zigeuner oder Zirkusartisten. Jede Eisdiele, die
irgendwie alle Venezia hießen, gehörte Italienern, und da ich
Eisversessen war wie jedes kleine Mädchen damals, liebte ich eine
Kugel Stracciatella - kein Deutscher konnte es aussprechen (und
kann es immer noch nicht, wenn man genau hinhört) - mehr als jedes
doofe Fürst-Pückler-Eis.
Oh ja, ich kann mir einen Lebensabend in Italien
wunderbar mit einem Mario oder Giuseppe vorstellen, wo die alte,
schwarz gekleidete Großmutter Pasta kocht, wenn seine Kinder mit
den Enkel-Bambini zu Besuch kommen.
Perfekt, solange ich sonntags nicht in die Kirche
muss, denke ich.
Mit diesem nostalgischen Bonus im Hintergrund hatte
ich Mario angemailt, er hatte sofort mit einer charmanten Mail
geantwortet, die ein klein wenig radebrechend klang. Aber das war
amüsant. Man hängt ja am Italo-Klischee. Unser Flirtprogramm hatte
also offiziell begonnen.
Mario gehören zwei Pizzerias, und er hat scheinbar
viel Zeit - und verlässliche Angestellte, denn er ist viel online,
wie ich sehe. Bald wagen wir den Vorstoß zum Chatten.
»Für was interessierst du dich, Mario?«, tippe ich
ein, nachdem geklärt ist, dass er als Junge mit der Familie aus
Neapel nach Berlin gekommen und geblieben war. »Sex«, ist die
Antwort.
»Wer nicht?«, antworte ich.
»Dann wir sollten uns schnell treffen«, meint
er.
»Ein bisschen zu schnell, das Ganze«, finde
ich.
»Wir nicht mehr so jung«, antwortet er nicht ohne
Scharfsinn.
Dann will er noch nebenher wissen, wie ich zu
oralem Sex stünde. Ich probiere es mit dem Witz, dass ich lieber an
einer Tüte italienischem Eis lecken würde.
Er sei in der glücklichen Lage, mich mit beiden
Lutschobjekten beglücken zu können, bemerkt er.
Nach einigem Geplänkel hin und her wagen wir den
nächsten Schritt.
Telefon.
Vorher fragte ich meine Freundin Sarah, ob man
seine Handynummer denn an Fremde, die Sex wollen, herausgeben darf.
Könnte theoretisch zu Problemen führen, meinte sie.
Ich will es riskieren. Ich bin Stimmenmensch.
Fiepsige, grelle und nölende Stimmen bereiten mir Pein. Mario hat
eine wunderbare Stimme: laut, aber enthusiastisch, italienisch mit
allem Drum und Dran, auch ein bisschen rollendes R.
Wir verabreden uns.
Wenn Frauen Männer treffen, sitzen gleich Genetik
und Chemie uneingeladen mit am Tisch und entscheiden in Sekunden,
ob man sich küssen und sofort ins Bett stürzen und unglaublich
wilden Sex haben will und ob der Mann die richtige Veranlagung hat,
gesunde Kinder zu zeugen, oder ob es ganz einfach bei einem
freundlichen Glas Pino Grigio und einem Gespräch über die vielen
Tiersendungen im Fernsehen bleibt. Und das Gesetz der Attraktion
gilt ebenso für ältere Menschen - auch wenn die Schmetterlinge im
Bauch angeblich weniger werden sollen.
Ich bin zuerst da und sitze schon draußen mit der
Straße im Auge, weil ich überpünktlich bin und es gern mag, wenn
der Mann auf mich zugeht, denn dann kann ich gleich seinen Gang
sehen. Er geht schnell, ist etwa einen Meter siebzig groß, eher
rundlich - oder soll ich sagen kompakt? -, dabei aber nicht
schwabbelig. Sein Haar ist dunkel, von Grau durchzogen und
zurückgekämmt, wie es sich für einen Italiener gehört. Seine
Designerjeans mit Bügelfalte sitzen unterm Bauch, sein weißes Hemd
ist immerhin aus Leinen und sein knautschiges hellgelbes Jackett
auch.
»Ciao«, sagt er lässig und nimmt meine Hand, »ich
bin Mario.«
Ich mag ihn.
Ich gucke ihn mir verstohlen an, als er mit dem
Kellner ein paar Brocken Italienisch redet. Sein Hemd ist ziemlich
weit geöffnet, perlgraue Haare kringeln sich auf seiner Brust. Ein
Blick auf die Füße, und ich muss grinsen. Nach Playboy-Manier trägt
er keine Socken, nur etwas abgestoßene dunkelblaue Wildlederslipper
mit dünnen Ledersohlen. Aber wenigstens ist kein goldenes Krönchen
eingestickt, das hätte ich nicht verkraftet.
Mario, der gelegentliche Raucher, so steht’s im
Profil, wirft lässig einen Autoschlüssel auf den Tisch und packt
seine Zigaretten und sein Handy dazu. Als er meinen strafenden
Blick sieht, geschieht ein Wunder. Er entschuldigt sich und
verspricht, dass er es ausstellen wird, nachdem der wichtige Anruf
beendet ist, den er aus Parma erwartet. Die erste Zigarette wird
gleich angezündet.
»Sie-e rauchen nicht?«, fragt er erstaunt.
Er spricht wirklich so, an alles kommt ein E. Ich
schüttele sehr energisch den Kopf.
»Haben Sie mein Profil nicht gelesen?«
Warum Siezen wir uns eigentlich?
Er lächelt und macht eine wegwerfende
Handbewegung.
»Ich habe Foto angeguckt. Das mir gefiel.« Er guckt
mich prüfend an. Na, kommt er jetzt, der Satz? Ja! »Du siehst
besser aus jetzt hier, im Natur, bella!«
Endlich sind wir wieder beim Du. Ich nicke und sage
Danke. Wedele aber auch gleich den Rauch von mir weg. Das kommt
nicht gut bei Rauchern.
»Ah, du bist nicht eine von die
Zigarettenpolizei?«, sagt er.
Einen gewissen Humor hat er also. Trotzdem, das
Gerauche muss er lassen, denke ich, so als würden wir morgen
zusammenziehen.
»Du warst also schon verheiratet?«, frage ich, um
die Unterhaltung auf wichtige Themen zu bringen.
»Si, si, mit deutsche Frau natürlich. Nicht so
hübsch wie du«, ein etwas routiniertes Lächeln in meine Richtung,
aber ich höre es natürlich gern.
Ich bin wieder erstaunt, wie sehr wir Frauen
Komplimente lieben, ja aufsaugen, selbst wenn sie von einem halb
blinden, besoffenen Vagabunden auf der Straße kommen würden. Die
Willigkeit, an sie zu glauben, ist genauso groß wie das Misstrauen,
dass sie nicht stimmen könnten.
»Und warum hat es nicht geklappt?«
Männer sehen ja das Verfehlen ihrer Ehe immer total
anders als Frauen. Ich finde das interessant.
»Du bist-e zu neugierig, bella«, erwidert
er. Ein weiterer Blick auf mich. »Deutsche Frauen sind sehr …«, er
sucht nach Worten.
»Tough?«, werfe ich ein. Ein fragender Blick von
ihm. »Direkt, stark, Haare auf den Zähnen?«, helfe ich
weiter.
Er nickt.
»Ja, taff-e, mein Frau wollte selber Modegeschäft
aufmachen und konnte sich nicht um Familie mehr kümmern.« Er guckt
plötzlich brütend vor sich hin. »Frauen sind auf Holzweg. Sie
verlieren alle Weiblichkeit. Das ist nicht gut.«
Ach bitte nicht, denke ich, nicht die Sache mit der
Weiblichkeit. Sie hat ja ihren Platz und ist auch wichtig, aber
sollte immer hübsch dosiert werden. Wenn ich richtig schlau und
berechnend wäre, und das bin ich leider nicht, würde ich Mario mit
all der weichen, hingebungsvollen Weiblichkeit, derer ich fähig
bin, einwickeln, bis er sich nicht mehr rühren kann.
»Du bist-e nicht so ein taffe Frau, nein?«, fragt
er.
Ich lüge und schüttele den Kopf.
»Und was hat sie beruflich gemacht?« Ich frage das
alle verheirateten Männer, wohl weil ich aus dem Beruf der Ehefrau
- oder dem Fehlen dessen - auch etwas über ihre Person
ableite.
»Sie hat geführt die Pizzerias«, erklärt er
knapp.
Wahrscheinlich war es ihr zu viel Arbeit und sie
ist weggerannt. Aber dann bricht es aus ihm heraus. Sie ist fünfzig
und hat jetzt einen jüngeren Freund.
Vielleicht lässt er beide von der Mafia umlegen,
zuckt es mir durch den Kopf, man liest so viel Blutiges darüber in
letzter Zeit. Ich dachte immer, Der Pate hätte reichlich
übertrieben. Hat er aber nicht, und wenn ich jetzt zu unverschämt
zu Mario bin, habe ich vielleicht plötzlich Herren mit schwarzen
Handschuhen, Revolvern und Sonnenbrillen an der Hacke.
Mario sieht aber ganz gemütlich aus. Selbst wenn er
einmal war, wie man sich damals die Latin Lovers vorstellte:
heiß, locker, charmant, ein bisschen Raf Vallone, ein bisschen
Mario Lanza. Ich muss lachen und sehe mich als sechzehnjährige
Schülerin im Campari sitzen.
Ich war magisch angezogen von den neuen
Espresso-Bars, die überall in den frühen Sechzigerjahren aufmachten
- nach Meinung meiner Mutter Tempel unaussprechlicher Dekadenz,
gefüllt mit glutäugigen Don Juans. Sie hatte ein striktes Verbot
ausgesprochen, mich nach der Schule auch nur in der Nähe vom
Campari blicken zu lassen. Bei uns zu Hause ging es ziemlich streng
zu, was die Sexualität der Töchter anging. Natürlich verstärkte das
die Faszination dieses verruchten Orts, und so schlenderte ich mit
meiner Freundin Hannelore öfter daran vorbei.
Schon mittags hingen dort interessante,
dunkelhäutige junge Männer mit hungrigen Augen herum und sippten an
Camparis, während sie die vorbeigehenden Mädchen mit
Brigitte-Bardot-Frisuren beobachteten.
Während deutsche Jungmänner sauber gescheitelt und
solide aussahen, trugen die Südländer lässig um die Schultern
geschlungene, pastellfarbige Pullover, enge schwarze Hosen und
dünnsohlige schnürsenkellose Schuhe, die ganz eindeutig
italienischer Herkunft waren.
Und keine Socken! War es denn möglich?
Das Campari galt als »Abschlepplatz«, aber das war
mir nicht klar. Meine Naivität war vergleichbar mit der von
Rotkäppchen. Ich war eine wohlerzogene Tochter aus gutem Hause,
rauchte nicht und trank weder Espresso noch Campari, die zwei
coolen Hauptgetränke dort. Und eines Tages wagte ich es. Ich setzte
mich mit einem Glas Selters dort an einen Tisch.
Ich wollte lediglich die Atmosphäre der Freiheit
atmen, in dem italienischen Café mit Terazzofußboden an einem
runden
kleinen Tisch mit Metallstühlen sitzen und nicht wie eine blöde
Schülerin wirken, sondern wie eine heiße Braut.
Nichts Schreckliches passierte, außer dass ich ein
wenig angemacht wurde und natürlich so tat, als würde ich das nicht
bemerken. Das übliche Spiel junger Mädchen damals.
Und nun sitzen hier Mario und ich, zwei ältere
Menschen, gespickt mit Leben, Lieben und Erfahrungen, und holen den
verlorenen Flirt der frühen Jahre nach.
Mario betrachtet geringschätzig den Latte macchiato
- der Zimt, den ich draufstreue, verursacht ihm ein
Schaudern.
»Wir nicht trinken in Italien so eine Zeugs.«
Ein typisch deutsches »Wir sind hier aber nicht in
Italien« drängt sich auf meine Lippen, doch ich sage nur: »Ich
mag’s aber.« Ich will als Frau der eigenen Entscheidungen dastehen.
Er trinkt schon den zweiten Espresso, natürlich. Es ist sehr warm,
die Nachmittagssonne scheint auf uns, und ich langweile mich ein
bisschen. Wo ist das stimulierende sexuelle Geplänkel der
Online-Unterhaltungen geblieben?
Er nimmt meine Hand.
»Hoffentlich zählt er jetzt nicht meine
Altersflecke«, denke ich. Gut, dass ich wenigstens den schönen
alten Brillantring meiner Oma am Finger habe, vielleicht lenkt der
ab.
»Du hast schöne Hände«, bemerkt er.
Er wächst mir immer mehr ans Herz, auch wenn er
vielleicht nur nicht seine Brille aufsetzen mag.
»Die könne zupacken, oder?«
Es klingt etwas anzüglich, na endlich.
»Oh ja, besonders wenn es etwas gibt, was sich zu
greifen lohnt«, sage ich so neckisch wie möglich.
Meine Güte, was für ein Niveau!
Ihm gefällt’s, das spüre ich.
Er taxiert mich aus den Augenwinkeln, während ich
in dem Latte rühre.
Was machst du denn so, wenn du nicht die Pizzerias
beaufsichtigst?, will ich gerade fragen, denn in seinem Profil
stand als Hobby: Kunst, Musik, Sport. Also da Vinci, La Traviata
und Fußballgucken wahrscheinlich.
Aber sein Handy klingelt und vibriert gleichzeitig
auf dem Tisch. Er macht mir ein Zeichen und nimmt den Anruf an. Ein
Schwall Italienisch ergießt sich.
Mario blüht auf. Er lacht laut, mit zurückgelegtem
Kopf, sein Backenzahn ist aus Gold, er wippt mit dem Stuhl, er
gestikuliert mit den Händen, er haut auf den Tisch, sodass meine
Tasse klappert, er fährt sich durchs Haar.
Endlich wird es italienisch! Hier ist er, mein
Klischee-Italiener. Er erzählt hoffentlich nicht gerade von
mir.
Ich könnte natürlich jetzt Sarah anrufen und ihr in
unserem Code erzählen, wo ich bin und wie es läuft. Aber ich muss
auf die Toilette und entschuldige mich.
Ich liebe bei Dates das Aufstehen und Weggehen,
denn dann gucken einem die Männer ungeniert hinterher und checken
alles ab, den Hintern, den Gang, die Beine. Meine lassen sich
sehen, deshalb habe ich auch einen schmalen Rock an. Er sieht jetzt
allerdings auch, dass ich relativ groß bin. Ich glaube, Italiener
mögen keine großen Frauen, oder ist das nur Blödsinn? Sophia Loren
ist nicht gerade klein und ihr Carlo Ponti war praktisch ein Zwerg,
also es geht doch.
Als ich zurückkomme, unterhält er sich mit einer
jüngeren Frau, die am Nebentisch sitzt und die er vorher schon
angeguckt hat, wie mir einfällt. Hat er die etwa angebaggert?
Sie guckt mich an, als wüsste sie, dass Mario und
ich uns online kennengelernt haben.
»Wie bist du in die Liebe?«, fragt er unvermittelt,
als ich wieder sitze.
»Was?« Ich blicke ihn überrascht an.
»Mit Sex«, wiederholt er, so als hätte ich die
blöde Frage nicht verstanden.
»Fantastisch, kaum ein Mann überlebt ihn, und du?«,
sage ich extra ernst.
Ironie ist meine Geheimwaffe, wenn ich nicht
wirklich antworten will. Immerhin lacht er, dann greift er
entschlossen in die Jacketttasche, guckt sich um, ob ihn einer
beobachtet, und holt eine Handvoll Kondome heraus. Er legt sie
nicht auf den Tisch, sondern lässt sie mich nur sehen wie ein
Lockmittel, und steckt sie dann zurück.
Ich bin weniger geschockt als beeindruckt. Da ist
einer gut präpariert. Es ist so ein bisschen, als würde er Zucker
oder eine Möhre für ein Pferd mitbringen, um sich beliebt zu
machen. Oder als wäre ich in einen illegalen Deal mit interessanten
Drogen involviert.
Gleich macht er den Hosenschlitz auf und lässt mich
gucken, denke ich und muss lachen.
In Wirklichkeit bin ich enttäuscht von dieser
unoriginellen Plumpheit. Nur eine Sekunde lang überlege ich, ob ich
dieses Element von sexueller Abenteuerlust in mir finde, die mich
sagen lässt: »Meine Wohnung oder deine?« Attraktiv genug ist er
eigentlich.
Aber sie ist nicht da, die Verwegenheit, die ich
gern hätte. Ich bin zu feige oder schlicht und einfach doch nicht
so interessiert. Die Warnung meiner Mutter vor Männern ohne Socken
hallt vielleicht auch in mir nach.
Er weiß nicht, wie er mein plötzliches Lachen
deuten soll. Er guckt auf die Uhr, die Dämmerung bricht herein mit
einem
Licht, das alles verschönt, nur nicht ältere Menschen. Ja, so weit
ist es mit sechzig, die Natur ist nicht mehr dein Freund und
Helfer. Der Rest Latte macchiato ist kalt, Mario auch. Die noch vor
zwanzig Minuten schelmischen Augen blicken gelangweilt. Er muss
gehen. Er verabschiedet sich mit Handschlag.
»Hat-e mich gefreut. Du bist sehr attraktive
Frau.«
Es klingt nicht so recht von Herzen, und meins
bricht nicht vor Enttäuschung.
»Hoffe, du kannst die Kondome heute noch irgendwo
einsetzen, Mario«, gebe ich ihm mit auf den Weg.
Er trottet davon. Er kann mich mal, mein rüstiger
Romeo. Flavio Ragiatone oder so ähnlich hätte er heißen sollen,
finde ich, so wie dieser scheußliche alte reiche italienische
Playboy, von dem Heidi Klum ein Kind hat.
Nach einer Minute rufe ich Sarah an und sage den
Satz, den sie noch öfter hören wird: »Du glaubst nicht, was mir
eben passiert ist.«
Die gute Nachricht: Mario hat meinen Latte
macchiato bezahlt.
Karen, der ich auch die Mario-Episode erzähle und
die etwas konservativer als ich ist, meint nur: »Finger weg von
Ausländern.«
Aber dazu kommen wir noch.
Der Krieg der Kondome
Einen praktischen Effekt hatte das Date mit Mario.
Es brachte mir das Thema Kondome näher, das ich gern verdränge,
wenn ich in keiner Beziehung bin, wo sie nicht unbedingt nötig
sind. Denn wer liebt sie schon?
Ich hatte nämlich gar keine brauchbaren mehr im
Haus, auch wenn sie ja laut Verfallsdatum ewig halten sollen,
sodass man sie weitervererben kann und noch die nächsten
Generationen etwas davon haben. Wem hatte ich das letzte Stück aus
meinem einst umfangreichen Kondomfundus angedeihen lassen? Gut, die
Kavalierin genießt und schweigt.
Nur das Kondomsouvenir von einem Amerikatrip vor
sechs Jahren habe ich aufgehoben. Es ist schwarz und steckt in
einer Art Streichholzbriefchen mit dem Logo des Virgin Record Store
in Los Angeles, in dem sie neben der Kasse gelegen hatten.
Umsonst.
Zugegeben, ich bin etwas aus der Übung. Mit meinem
letzten festen Freund, von dem ich mich vor sechs Jahren getrennt
habe, hatte ich die Sache brav mit einem Aidstest geklärt und
brauchte auch keine mehr für Empfängnisverhütung. Die letzten
beiden Affären sind locker und lustig gewesen und irgendwie waren
Kondome da.
Was genau sind nun aber die gängigen Benimmformeln
im Alter von sechzig? Hat man Kondome neben dem Bett liegen und
auch in der Handtasche? Überlässt man es dem Zufall, ist man
spontan und tut ganz schrecklich überrascht, wenn er Sex will, und
hofft darauf, dass er welche dabeihat?
Dass das der Fall sein kann, selbst wenn man nur
Kaffee miteinander trinkt, hatte ich ja bei Mario gesehen.
Ach ja, das Kondomthema, es war immer schon
freudlos, unsexy, unromantisch und irgendwie viel zu
zielorientiert, weil man die sexuellen Absichten irgendwann
offenlegen musste. Fast so, als brächte man seinen Sturzhelm zum
Motorradfahren mit oder seinen Sattel zum Reiten.
Und Frauen, die immerwährend passiven Prinzessinnen
an der Sexfront, mochten vor dreißig Jahren nicht mit der Tür ins
Haus fallen - der uralte Hauch von aktiver, männerverzehrender,
loser Sünderin ließ sich nicht in einer Generation
wegwedeln.
Ich selbst hatte nie ein Kondom in der Hand oder
der Tasche gehabt, bevor ich Anfang vierzig war. Das waren für mich
seltsame und irgendwie auch unappetitliche Dinger für altmodische
ältere Leute.
Mir war nämlich Glück mit vielem beschieden, was
sich in den Sechzigerjahren als perfektes Timing herausstellte.
Seit ich neunzehn war, nahm ich die gerade neu erfundene Pille, die
frischen, spontanen Sex zu jeder Zeit möglich machte - ohne
jegliche Diskussion über Verhütung, lästige Unterbrechung und vor
allem ohne Angst. Was für ein Geschenk!
Aids gab es nicht, Geschlechtskrankheiten kannte
ich nicht wirklich, also blieb nur das Schreckgespenst der
ungewollten Schwangerschaft. Und das war verbannt worden.
Später verliebte ich mich einmal in einer
Pillenpause - mit dreiundvierzig. Aids war in unser aller Leben
getreten, es wurde wie verrückt für Kondome geworben (natürlich
nicht vom Papst!), und glücklicherweise war ich inzwischen versiert
und reif genug, um mit ihnen spielerisch und locker umzugehen und
sie jedem überzuziehen, der keine Zicken machte.
Ich mag sie heute immer noch nicht, auch wenn sie
spaßig, bunt und geschmacksverbessert angeboten werden.
Also gucke ich mir informationshalber im
Drogeriemarkt das Sortiment an Hygieneartikeln an: Da hängen sie
zum Greifen nah, für jung und alt, mit so lustigen Namen wie
Billy Boy, Ramses und - besonders faszinierend -
Condomi Fruit & Color. Der Hersteller ist … äh …
Klosterfrau.
Ist das nicht die altehrwürdige Firma, die den
Melissengeist für unsere Großeltern herstellte, und den wir
vielleicht bald alle brauchen?
Es gab eine Zeit, da konnte man dem strengen
Apotheker Präservative nur mit Rotwerden und Räuspern und unter
Vorlage eines Personalausweises (nehme ich an) entlocken, wenn man
als junger Mann zu jung aussah. Frauen kauften natürlich keine. Der
Penis und sein Zubehör waren eine rein männliche Domäne, so wie
Tampons und Binden eine rein weibliche waren.
Heute kaufen Männer und Frauen offen und fröhlich
Hygieneartikel von Tampons bis Dildos im Supermarkt. Also, Billy
Boys, kommt in meine Tasche.
Irgendwie grinsen musste ich dann doch, als ich
nach Hause ging. Wer weiß, ob und wann die Boys zum Einsatz
kommen.