Knickrig und knackig

Es ist meine eigene Schuld. Warum übergehe
ich die Beschreibung eines einundsechzigjährigen Mannes nicht, der
seine Figur als »knackig« anpreist? Vielleicht war es mein Versuch
gewesen, wieder etwas Vernunft in mein Auswahlprinzip zu kriegen.
Und zwar dadurch, mich meiner eigenen Generation zuzuwenden, die
mir vertraut sein dürfte, obwohl mir Jürgen und Dirk eigentlich
gereicht hatten.
Und da wenig Bewunderung für schluffige Althippies,
Ökofreaks und Alternativlinge geblieben ist, die Bäume umarmen,
Häuser besetzen, Joghurtbecher für den Trennmüll auswaschen,
Birkenstock tragen und Santana hören, denke ich wohl, dass
Heino eine andere Variante ist.
Das ist er auch, und zwar ganz eindeutig die
modische Sorte Fitnessfreak. Was auch nur ein Bemühen ist, das
schlappe Fleisch und die morscher werdenden Knochen
auszutricksen.
Er kommt auf dem Rad und trägt einen dreifarbigen
Designerhelm und enge schwarze Fahrradhosen, die muskulöse Schenkel
umspannen wie eine Wurstpelle. Also, er hat eine sehr gute Figur,
da gibt es gar nichts, sehnig, schlank, braun gebrannt.
Ich beobachte durch die Scheibe des Cafés, wie er
sein Rad sorgfältig und liebevoll anschließt. Er hat keine Eile,
obwohl er bereits zehn Minuten zu spät ist. Dann stolziert
er herein, sieht mich, nickt mit dem Kopf und guckt sich
missbilligend um.
»Können wir draußen sitzen? Hier ist es zu
muffig!«
Ah, ein Charmebolzen ohne einen Anflug von Ego, wie
angenehm. Es sind zwölf Grad draußen - keine Sonne. Ich will
drinnen bleiben, er macht ein unwilliges Gesicht, setzt sich aber
gnädig hin.
Er erzählt sofort vom Marathon, den er bald laufen
wird, und dass ich froh sein kann, dass er in meine Gegend gekommen
ist, da er ganz woanders wohne. Dabei kaut er Kaugummi.
Was genau ist der tiefere Sinn von Kaugummikauen,
außer den Betrachter zu nerven? Langweilen sich der Kiefer und die
Backenzähne und müssen beschäftigt werden? In mir steigen leichte
Aggressionen hoch, wie immer bei Kaugummikauern, die weltweit den
dümmsten Gesichtsausdruck haben.
Ich habe mal einer jungen Dauerkauerin in der
U-Bahn, die alle paar Sekunden laut Blasen von den Lippen abknallen
ließ, leicht eine draufgehauen. Es hat Spaß gemacht - und sie war
verblüfft gewesen.
Heino guckt mich arrogant an. Ich gefalle ihm
nicht, obwohl er mir online Komplimente gemacht hat. Er hat ein
schmales Gesicht mit scharfen Mundfalten und recht hübsche grüne
Augen. Sein Ziegenbärtchen, der sehr populäre Verzweiflungsakt
älterer Herren, mit den jungen Kreativen auf Augenhöhe zu sein, ist
dürftig und sieht lächerlich aus, sein Haupthaar grau meliert und
teenie-kurz. Er findet sich supercool, das rieche ich.
Noch hat er seine Fahrradhandschuhe an, und ich bin
gespannt, wann er sie auszieht. Vielleicht hat er Handverletzungen
oder noch mehr Altersflecken als ich? Vielleicht zieht er sie erst
im letzten Augenblick im Bett - nicht in meinem, Gott bewahre! -
aus, als Äquivalent zu den weißen Socken, die manche Männer mal als
verwegen erotisch empfanden und die ihren festen Platz in Oswald
Kolles Welt des befreiten (und unfreiwillig komischen) Sex
hatten?
Nach einem unzufriedenen Blick auf die Karte
bestellt er eine Tasse Kaffee. Dann greift er beherzt zum Handy und
macht einen Anruf bei einem Freund.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und murmele: »Wie
bitte?«
Er dreht mir den Rücken zu, lacht locker, fragt, ob
die Tapeten gehalten haben, bei denen er gestern geholfen hat, und
erkundigt sich nach den Sportergebnissen. Wie wichtig kann das
sein? Es ist wie zu Hause, als mein Vater am Wochenende beim
Abendbrot Fußballergebnisse hören musste, während ich nach
Chris Howlands englischer Hitparade dürstete, die zur gleichen Zeit
lief. Pech nur, dass in einem klassischen Haushalt mit nur einem
Radio der Papi mehr zu sagen hatte als die Tochter, als Elvis, Paul
Anka und Ricky Nelson.
Ich greife zur Zeitung und lese, er beendet sein
Gespräch und fragt pikiert: »Willst du lesen oder wie?«
Eigentlich schon, denn das ist besser, als Heinos
Gequatsche zuzuhören und seinem Gekaue zuzugucken.
Ich wusste doch, dass man keinen Mann mögen kann,
der einen Pulli mit V-Ausschnitt und nichts darunter trägt (wie er
auf seinem Foto) und mich in der zweiten Mail fragt, ob ich ihn
vielleicht vom Flughafen abholen könnte - er käme aus Griechenland,
wo er als ehemaliger Bauunternehmer ausgeholfen hat.
Meine bereits sehr reduzierte Höflichkeit schwindet
weiter. Am liebsten würde ich ihm die Nase in den heißen Kaffee
tunken oder gegen das Schienbein treten - nur so. Vielleicht kennt
jede Frau diese Stimmung, in der einem alles egal ist: Wie man
wirkt, wie man aussieht, ob einer einen mag oder absolut
fürchterlich findet. Und irgendwie ist es befriedigend, anerzogene
Höflichkeitsgebote einfach genüsslich in den Wind zu schießen. Was
dabei rauskommt, ist oft nicht so sehr die Begegnung mit dem
Gegenüber, sondern die Begegnung mit dem Selbst - und zwar dem Teil
mit den am allerwenigsten netten Seiten, die sonst übertüncht oder
unterdrückt werden. Tut mir leid, aber ich finde das manchmal
gut.
Aber dann passiert etwas Interessantes. Ich sage zu
ihm einen Satz, der zwar stimmt, aber einen gewissen
Bumerangmechanismus eingebaut hat.
»Das hat schon seinen Sinn, dass du online mit
einem Datingservice jemanden suchen musst«, zische ich ihn
an.
Ich bemerke das kleine Eigentor sofort, er aber
auch.
»Gleichfalls«, entgegnet er mit einem leicht
sarkastischen Lächeln. »Du scheinst ja auf dem traditionellen Weg
auch nicht gerade das große Glück gefunden zu haben.«
Autsch. Das sitzt.
Auch wenn es ihn nichts angeht, er nicht die
turbulenten Details meines Liebeslebens kennt und keinerlei
Befugnis hat, meine Partnerqualitäten anzuzweifeln. Es ist etwas
dran.
Gewissen Wahrheiten, von denen es für jeden von
uns mindestens eine gibt, sollte man ins Gesicht blicken, wenn man
über sechzig ist. Und diese schmerzte ein wenig und war nicht
schmeichelhaft für mich: Ich glaube, ich war mit dreißig ziemlich
unfähig, eine gesunde und stabile Beziehung zu haben.
Enthusiastische, kurzlebige Liebesaffären waren mehr
etwas für meinen damaligen emotionalen Reifegrad und meine Idee
von Selbstverwirklichung.
Wenn ich zurückblicke auf meine turbulente kurze
Ehe und den ganzen Rest meines Liebeslebens, ja selbst auf die
ernsthaften Beziehungen, dann war ich alles andere als die perfekte
Frau, Freundin und Partnerin gewesen. Die stressige Mischung aus
Liebessehnsucht, Misstrauen, Freiheitsstreben, Anhänglichkeit,
Angst, Zwiespältigkeit und Unberechenbarkeit machte mich sicherlich
zu einem erschöpfenden Abenteuer und Nervenkitzel, auf den man
manchmal lieber verzichten mochte. Die Willigkeit, mich von einem
Mann zu trennen, wenn mir etwas nicht passte, war sehr hoch.
Verliebtheit würde immer wieder passieren, es würde genug Vorrat an
Männern da sein, das war meine Überzeugung, da machte ich mir keine
Sorgen.
Trotzdem gab es zwischendrin sehr ernste und
teilweise stabile Beziehungen, aber sie dauerten maximal fünf
Jahre. Mir fehlte ganz einfach das Selbstaufgabe-Gen, ich wollte
mich nicht binden, denn Bindung erschien mir als eine tragische
Form von Gefängnis, die ihren Höhepunkt in einem albernen weißen
Kleid vor dem Altar fand.
Aber wie kriegt man seine romantischen
Vorstellungen als junge und als alte Frau unter einen Hut? Ändert
sich die Liebe, ihre Tiefe, die Bedeutung? Wird sie von einem
verbrennenden engen Bodysuit zum angenehm warmen weichen Umhang?
Sein Herz an etwas hängen. Wer kennt nicht den Ausdruck? Da
baumelte es dann an einem Mann, als wir jung, leidenschaftlich und
unerfahren waren, und es schwang hin und her, das arme Herz, ziepte
und weinte, weil es ignoriert wurde.
Ich glaube, man bekommt eine »erwachsene« Liebe
niemals hin, wenn man jung ist.
Ich wollte früher als junge Frau immer Randale in
der Liebe haben. Aufruhr, Leidenschaft, Zank, Drama, Versöhnung
waren für mich sichere Zeichen für ein echtes emotionelles
Erlebnis. Liebe eben. Vom anderen verlangte ich Selbstaufgabe und
Besessenheit. Wer das nicht vorzeigen konnte, nicht erbebte und
völlig durcheinander war, der galt für mich als uninteressant.
Unterwerfung (des anderen natürlich!) war für mich der ultimative
Liebesbeweis.
Ich wollte etwas fühlen, und zwar so intensiv, dass
ich litt und zitterte, lachte und weinte. Harmonie und lange
zankfreie Perioden erschienen mir verdächtig und lauwarm wie eine
Mutti-und-Vati-Ehe. Die Schlachten waren anstrengend, aber das
musste so sein, dachte ich, die aus einer Ehe zankender Eltern
kam.
Wie schädlich diese Ausbrüche waren, letztendlich
nur ein Zeichen von Angst und Unsicherheit, entdeckte ich erst
spät. Und das ist traurig, denn dieser Vorstellung von Liebe als
emotionelle Achterbahn war letztendlich kein Mann gewachsen. Ich
selbst auch nicht.
All diese Versuche, Liebe in Machtspiele zu
verwandeln, haben einige echte und große Lieben stark verkürzt,
manche sogar gar nicht erst erblühen lassen.
Diese Fehler wollte ich nicht noch einmal machen,
musste ich nicht noch einmal machen, denn mit dieser
Erkenntnis hat sich der Spuk, glaube ich, aufgelöst.
So ab fünfzig ist man wohl sehr viel mehr in der
Lage, eine interessante Beziehung zu formen und weiterzuentwickeln,
als mit dreißig, weil Toleranz eingetreten ist und Sicherheit und
Selbstwertgefühl stark zugenommen haben.
All das betrifft nicht wirklich Heino, den ich
weder als junge noch alte Version will. Ich rufe die Kellnerin
wegen der
Rechnung. Natürlich bezahlt er nur seinen Kaffee. Ich nicke kurz
mit dem Kopf und gehe.
Er mailt mir später noch, dass ich unmöglich sei
und »riesige« Probleme haben werde, jemanden zu finden. Er hingegen
könne mir garantieren, dass er Ende des Monats verlobt sein wird.
Und dann verpasst er mir noch einen extra Schlag, über den ich zwar
lachen muss, aber der ein großes Thema ins Bewusstein schiebt, dem
scheinbar niemand länger als einen Tag entfliehen kann: »Du bist
mir zu alt und siehst auch so aus.«
Lieber alt als tot
Tja, das Alter. Wenn man ganz ehrlich ist, dann
sind bereits der dauernde Versuch und die Aufforderung, jünger
aussehen zu wollen und zu sollen - also Alter zu maskieren
beziehungsweise verschwinden zu lassen wie ein Kaninchen im
Zylinder -, eine Form von Altersdiskriminierung.
Es gibt ein amerikanisches Buch, ein Bestseller
natürlich, das heißt How Not to Look Old, also wie man nicht
alt aussieht, und es hört sich an, als würde jede Form von Falten,
jeder Hauch grau im Haar ein mittleres Desaster sein - von einem
ernsthaften Hindernis in der Welt der schrumpfenden Jobs mal ganz
abgesehen.
Die (alterslose) Autorin des Buches besteht auf der
tragischen Beobachtung, dass Leute, selbst wenn sie selber nicht
mehr taufrisch sind, ganz einfach alternde Menschen in bestimmten
Berufen nicht angucken mögen. Falten auf der Stirn, gelbliche
Zähne, zurückgehendes Zahnfleisch, Tränensäcke, Mundfalten,
Oberlippenfältchen - hört der Horror nie auf! - scheinen nichts als
Trauer, Furcht und schlechte
Laune im Betrachter zu produzieren. Denn es ist ja so: Die Frau
ist nach wie vor verpflichtet, die Überbringerin von Schönheit,
Jugend und Fruchtbarkeit zu sein.
Viele in Amerika haben aufgeatmet, dass Hillary
Clinton nun doch nicht Präsidentin geworden ist, denn wie ein
fetter, hässlicher, republikanischer Kolumnist und Rassist im
mittleren Alter sagte: »Ehrlich, wer will eine Frau vor seinen
Augen alt werden sehen.«
Aber darum werden wir nicht herumkommen. Ganz
besonders heute nicht, im Zeitalter der Entprivatisierung und
Geheimnislosigkeit. Weder Männer noch Frauen. Dieses schreckliche
menschliche Verbrechen des Älterwerdens - in der Rangliste der
Unverfrorenheiten gleich nach Ehebruch mit dem Mann der besten
Freundin oder so - holt uns alle ein, ob es uns nun gefällt oder
nicht. Und soweit ich sehen kann, ist Älterwerden bisher die
einzige Alternative zu einem frühen Tod.
Eigentlich gibt es nur ein Antidot dafür: Es
einfach geschehen zu lassen. Nicht nur das, sondern sich
gleichzeitig in der Gewissheit zu sonnen, dass man sich etwas Ruhe
und Relaxtheit nach Jahrzehnten von beruflichen Anstrengungen und
Verzicht ehrlich verdient hat.
Sieben Wochen später sucht Heino immer noch auf der
Webseite nach seinem Glück. Mit neuem Foto und ohne Ziegenbart.
Aber wahrscheinlich kauend.