Knickrig und knackig
019
Es ist meine eigene Schuld. Warum übergehe ich die Beschreibung eines einundsechzigjährigen Mannes nicht, der seine Figur als »knackig« anpreist? Vielleicht war es mein Versuch gewesen, wieder etwas Vernunft in mein Auswahlprinzip zu kriegen. Und zwar dadurch, mich meiner eigenen Generation zuzuwenden, die mir vertraut sein dürfte, obwohl mir Jürgen und Dirk eigentlich gereicht hatten.
Und da wenig Bewunderung für schluffige Althippies, Ökofreaks und Alternativlinge geblieben ist, die Bäume umarmen, Häuser besetzen, Joghurtbecher für den Trennmüll auswaschen, Birkenstock tragen und Santana hören, denke ich wohl, dass Heino eine andere Variante ist.
Das ist er auch, und zwar ganz eindeutig die modische Sorte Fitnessfreak. Was auch nur ein Bemühen ist, das schlappe Fleisch und die morscher werdenden Knochen auszutricksen.
Er kommt auf dem Rad und trägt einen dreifarbigen Designerhelm und enge schwarze Fahrradhosen, die muskulöse Schenkel umspannen wie eine Wurstpelle. Also, er hat eine sehr gute Figur, da gibt es gar nichts, sehnig, schlank, braun gebrannt.
Ich beobachte durch die Scheibe des Cafés, wie er sein Rad sorgfältig und liebevoll anschließt. Er hat keine Eile, obwohl er bereits zehn Minuten zu spät ist. Dann stolziert er herein, sieht mich, nickt mit dem Kopf und guckt sich missbilligend um.
»Können wir draußen sitzen? Hier ist es zu muffig!«
Ah, ein Charmebolzen ohne einen Anflug von Ego, wie angenehm. Es sind zwölf Grad draußen - keine Sonne. Ich will drinnen bleiben, er macht ein unwilliges Gesicht, setzt sich aber gnädig hin.
Er erzählt sofort vom Marathon, den er bald laufen wird, und dass ich froh sein kann, dass er in meine Gegend gekommen ist, da er ganz woanders wohne. Dabei kaut er Kaugummi.
 
Was genau ist der tiefere Sinn von Kaugummikauen, außer den Betrachter zu nerven? Langweilen sich der Kiefer und die Backenzähne und müssen beschäftigt werden? In mir steigen leichte Aggressionen hoch, wie immer bei Kaugummikauern, die weltweit den dümmsten Gesichtsausdruck haben.
Ich habe mal einer jungen Dauerkauerin in der U-Bahn, die alle paar Sekunden laut Blasen von den Lippen abknallen ließ, leicht eine draufgehauen. Es hat Spaß gemacht - und sie war verblüfft gewesen.
 
Heino guckt mich arrogant an. Ich gefalle ihm nicht, obwohl er mir online Komplimente gemacht hat. Er hat ein schmales Gesicht mit scharfen Mundfalten und recht hübsche grüne Augen. Sein Ziegenbärtchen, der sehr populäre Verzweiflungsakt älterer Herren, mit den jungen Kreativen auf Augenhöhe zu sein, ist dürftig und sieht lächerlich aus, sein Haupthaar grau meliert und teenie-kurz. Er findet sich supercool, das rieche ich.
Noch hat er seine Fahrradhandschuhe an, und ich bin gespannt, wann er sie auszieht. Vielleicht hat er Handverletzungen oder noch mehr Altersflecken als ich? Vielleicht zieht er sie erst im letzten Augenblick im Bett - nicht in meinem, Gott bewahre! - aus, als Äquivalent zu den weißen Socken, die manche Männer mal als verwegen erotisch empfanden und die ihren festen Platz in Oswald Kolles Welt des befreiten (und unfreiwillig komischen) Sex hatten?
Nach einem unzufriedenen Blick auf die Karte bestellt er eine Tasse Kaffee. Dann greift er beherzt zum Handy und macht einen Anruf bei einem Freund.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und murmele: »Wie bitte?«
Er dreht mir den Rücken zu, lacht locker, fragt, ob die Tapeten gehalten haben, bei denen er gestern geholfen hat, und erkundigt sich nach den Sportergebnissen. Wie wichtig kann das sein? Es ist wie zu Hause, als mein Vater am Wochenende beim Abendbrot Fußballergebnisse hören musste, während ich nach Chris Howlands englischer Hitparade dürstete, die zur gleichen Zeit lief. Pech nur, dass in einem klassischen Haushalt mit nur einem Radio der Papi mehr zu sagen hatte als die Tochter, als Elvis, Paul Anka und Ricky Nelson.
Ich greife zur Zeitung und lese, er beendet sein Gespräch und fragt pikiert: »Willst du lesen oder wie?«
Eigentlich schon, denn das ist besser, als Heinos Gequatsche zuzuhören und seinem Gekaue zuzugucken.
Ich wusste doch, dass man keinen Mann mögen kann, der einen Pulli mit V-Ausschnitt und nichts darunter trägt (wie er auf seinem Foto) und mich in der zweiten Mail fragt, ob ich ihn vielleicht vom Flughafen abholen könnte - er käme aus Griechenland, wo er als ehemaliger Bauunternehmer ausgeholfen hat.
Meine bereits sehr reduzierte Höflichkeit schwindet weiter. Am liebsten würde ich ihm die Nase in den heißen Kaffee tunken oder gegen das Schienbein treten - nur so. Vielleicht kennt jede Frau diese Stimmung, in der einem alles egal ist: Wie man wirkt, wie man aussieht, ob einer einen mag oder absolut fürchterlich findet. Und irgendwie ist es befriedigend, anerzogene Höflichkeitsgebote einfach genüsslich in den Wind zu schießen. Was dabei rauskommt, ist oft nicht so sehr die Begegnung mit dem Gegenüber, sondern die Begegnung mit dem Selbst - und zwar dem Teil mit den am allerwenigsten netten Seiten, die sonst übertüncht oder unterdrückt werden. Tut mir leid, aber ich finde das manchmal gut.
Aber dann passiert etwas Interessantes. Ich sage zu ihm einen Satz, der zwar stimmt, aber einen gewissen Bumerangmechanismus eingebaut hat.
»Das hat schon seinen Sinn, dass du online mit einem Datingservice jemanden suchen musst«, zische ich ihn an.
Ich bemerke das kleine Eigentor sofort, er aber auch.
»Gleichfalls«, entgegnet er mit einem leicht sarkastischen Lächeln. »Du scheinst ja auf dem traditionellen Weg auch nicht gerade das große Glück gefunden zu haben.«
Autsch. Das sitzt.
Auch wenn es ihn nichts angeht, er nicht die turbulenten Details meines Liebeslebens kennt und keinerlei Befugnis hat, meine Partnerqualitäten anzuzweifeln. Es ist etwas dran.
 
Gewissen Wahrheiten, von denen es für jeden von uns mindestens eine gibt, sollte man ins Gesicht blicken, wenn man über sechzig ist. Und diese schmerzte ein wenig und war nicht schmeichelhaft für mich: Ich glaube, ich war mit dreißig ziemlich unfähig, eine gesunde und stabile Beziehung zu haben. Enthusiastische, kurzlebige Liebesaffären waren mehr etwas für meinen damaligen emotionalen Reifegrad und meine Idee von Selbstverwirklichung.
Wenn ich zurückblicke auf meine turbulente kurze Ehe und den ganzen Rest meines Liebeslebens, ja selbst auf die ernsthaften Beziehungen, dann war ich alles andere als die perfekte Frau, Freundin und Partnerin gewesen. Die stressige Mischung aus Liebessehnsucht, Misstrauen, Freiheitsstreben, Anhänglichkeit, Angst, Zwiespältigkeit und Unberechenbarkeit machte mich sicherlich zu einem erschöpfenden Abenteuer und Nervenkitzel, auf den man manchmal lieber verzichten mochte. Die Willigkeit, mich von einem Mann zu trennen, wenn mir etwas nicht passte, war sehr hoch. Verliebtheit würde immer wieder passieren, es würde genug Vorrat an Männern da sein, das war meine Überzeugung, da machte ich mir keine Sorgen.
Trotzdem gab es zwischendrin sehr ernste und teilweise stabile Beziehungen, aber sie dauerten maximal fünf Jahre. Mir fehlte ganz einfach das Selbstaufgabe-Gen, ich wollte mich nicht binden, denn Bindung erschien mir als eine tragische Form von Gefängnis, die ihren Höhepunkt in einem albernen weißen Kleid vor dem Altar fand.
Aber wie kriegt man seine romantischen Vorstellungen als junge und als alte Frau unter einen Hut? Ändert sich die Liebe, ihre Tiefe, die Bedeutung? Wird sie von einem verbrennenden engen Bodysuit zum angenehm warmen weichen Umhang? Sein Herz an etwas hängen. Wer kennt nicht den Ausdruck? Da baumelte es dann an einem Mann, als wir jung, leidenschaftlich und unerfahren waren, und es schwang hin und her, das arme Herz, ziepte und weinte, weil es ignoriert wurde.
Ich glaube, man bekommt eine »erwachsene« Liebe niemals hin, wenn man jung ist.
Ich wollte früher als junge Frau immer Randale in der Liebe haben. Aufruhr, Leidenschaft, Zank, Drama, Versöhnung waren für mich sichere Zeichen für ein echtes emotionelles Erlebnis. Liebe eben. Vom anderen verlangte ich Selbstaufgabe und Besessenheit. Wer das nicht vorzeigen konnte, nicht erbebte und völlig durcheinander war, der galt für mich als uninteressant. Unterwerfung (des anderen natürlich!) war für mich der ultimative Liebesbeweis.
Ich wollte etwas fühlen, und zwar so intensiv, dass ich litt und zitterte, lachte und weinte. Harmonie und lange zankfreie Perioden erschienen mir verdächtig und lauwarm wie eine Mutti-und-Vati-Ehe. Die Schlachten waren anstrengend, aber das musste so sein, dachte ich, die aus einer Ehe zankender Eltern kam.
Wie schädlich diese Ausbrüche waren, letztendlich nur ein Zeichen von Angst und Unsicherheit, entdeckte ich erst spät. Und das ist traurig, denn dieser Vorstellung von Liebe als emotionelle Achterbahn war letztendlich kein Mann gewachsen. Ich selbst auch nicht.
All diese Versuche, Liebe in Machtspiele zu verwandeln, haben einige echte und große Lieben stark verkürzt, manche sogar gar nicht erst erblühen lassen.
Diese Fehler wollte ich nicht noch einmal machen, musste ich nicht noch einmal machen, denn mit dieser Erkenntnis hat sich der Spuk, glaube ich, aufgelöst.
So ab fünfzig ist man wohl sehr viel mehr in der Lage, eine interessante Beziehung zu formen und weiterzuentwickeln, als mit dreißig, weil Toleranz eingetreten ist und Sicherheit und Selbstwertgefühl stark zugenommen haben.
 
All das betrifft nicht wirklich Heino, den ich weder als junge noch alte Version will. Ich rufe die Kellnerin wegen der Rechnung. Natürlich bezahlt er nur seinen Kaffee. Ich nicke kurz mit dem Kopf und gehe.
Er mailt mir später noch, dass ich unmöglich sei und »riesige« Probleme haben werde, jemanden zu finden. Er hingegen könne mir garantieren, dass er Ende des Monats verlobt sein wird. Und dann verpasst er mir noch einen extra Schlag, über den ich zwar lachen muss, aber der ein großes Thema ins Bewusstein schiebt, dem scheinbar niemand länger als einen Tag entfliehen kann: »Du bist mir zu alt und siehst auch so aus.«

Lieber alt als tot

Tja, das Alter. Wenn man ganz ehrlich ist, dann sind bereits der dauernde Versuch und die Aufforderung, jünger aussehen zu wollen und zu sollen - also Alter zu maskieren beziehungsweise verschwinden zu lassen wie ein Kaninchen im Zylinder -, eine Form von Altersdiskriminierung.
Es gibt ein amerikanisches Buch, ein Bestseller natürlich, das heißt How Not to Look Old, also wie man nicht alt aussieht, und es hört sich an, als würde jede Form von Falten, jeder Hauch grau im Haar ein mittleres Desaster sein - von einem ernsthaften Hindernis in der Welt der schrumpfenden Jobs mal ganz abgesehen.
Die (alterslose) Autorin des Buches besteht auf der tragischen Beobachtung, dass Leute, selbst wenn sie selber nicht mehr taufrisch sind, ganz einfach alternde Menschen in bestimmten Berufen nicht angucken mögen. Falten auf der Stirn, gelbliche Zähne, zurückgehendes Zahnfleisch, Tränensäcke, Mundfalten, Oberlippenfältchen - hört der Horror nie auf! - scheinen nichts als Trauer, Furcht und schlechte Laune im Betrachter zu produzieren. Denn es ist ja so: Die Frau ist nach wie vor verpflichtet, die Überbringerin von Schönheit, Jugend und Fruchtbarkeit zu sein.
Viele in Amerika haben aufgeatmet, dass Hillary Clinton nun doch nicht Präsidentin geworden ist, denn wie ein fetter, hässlicher, republikanischer Kolumnist und Rassist im mittleren Alter sagte: »Ehrlich, wer will eine Frau vor seinen Augen alt werden sehen.«
Aber darum werden wir nicht herumkommen. Ganz besonders heute nicht, im Zeitalter der Entprivatisierung und Geheimnislosigkeit. Weder Männer noch Frauen. Dieses schreckliche menschliche Verbrechen des Älterwerdens - in der Rangliste der Unverfrorenheiten gleich nach Ehebruch mit dem Mann der besten Freundin oder so - holt uns alle ein, ob es uns nun gefällt oder nicht. Und soweit ich sehen kann, ist Älterwerden bisher die einzige Alternative zu einem frühen Tod.
Eigentlich gibt es nur ein Antidot dafür: Es einfach geschehen zu lassen. Nicht nur das, sondern sich gleichzeitig in der Gewissheit zu sonnen, dass man sich etwas Ruhe und Relaxtheit nach Jahrzehnten von beruflichen Anstrengungen und Verzicht ehrlich verdient hat.
Sieben Wochen später sucht Heino immer noch auf der Webseite nach seinem Glück. Mit neuem Foto und ohne Ziegenbart. Aber wahrscheinlich kauend.
Sexy Sixty - Liebe kennt kein Alter -
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