Absolut fesselnd
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Viele sagen, dass Online-Dating und besonders die erstellten Profile unrealistisch und irreführend sind. Das stimmt nur teilweise. Gerade durch das ungehemmte Ausdrücken ihrer Wünsche, auch der sonst unterdrückten, und die beschützende Anonymität sind die Menschen offener und ehrlicher. Wo man früher vielleicht zwei quälende Dates über sich ergehen lassen musste, um ein paar Informationen aus jemandem herauszukitzeln, genügen manchmal ein, zwei Sätze in einer Mail oder im Chatroom, und man weiß, nein danke, nix für mich. Der Nächste, bitte. Schnell, sicher, sauber - alles eine Reflektion der Zeit mit ihrer emotionellen Ökonomie.
 
Als ich auf Hartwig aufmerksam wurde oder vielmehr er auf mich, war ich ein klein wenig fasziniert. Ich langweilte mich sowieso gerade mit einigen Herren, von denen einer fragte: »Kannst du mir sagen, wann du das letzte Mal so richtig Herzklopfen hattest? Dieses Gefühl, einen Regenbogen umarmen zu können, kennst du es?«
Ehrlich gesagt ist mir dieses alarmierend innige Gefühl für Regenbögen fremd, soll es auch gern bleiben, aber da wir gerade beim Umarmen sind: Ich war bisher Internetbegegnungen aus dem Weg gegangen, die einen eindeutig sexuellen Charakter hatten. Ich bevorzuge nach wie vor die subtile Form von Erotik, die nicht vorher per Mail diskutiert wird wie in einer Talkshow. Aber hier war etwas, an dem mein neugieriges Autorenherz mehr interessiert war als das der rasend scharfen Frau. Oder mache ich mir etwas vor, weil ich tausendmal spießiger bin, als ich zugeben mag?
Hartwig ist ein weit gereister ehemaliger Galeriebesitzer, der in Spanien lebt und sich als »verschmusten Atheisten und realistischen Träumer, scheu und doch neugierig« darstellt. Er ist sehr angenehm überrascht, jemanden wie mich unter den Kandidatinnen zu finden, denn alle Frauen im Dating-Angebot waren ihm zu dumm, zu wenig witzig und zu poplig, sagt er.
Die Fotos zeigen einen schlanken, braun gebrannten, dunkelblonden, gut aussehenden Mann. Er ist einundsechzig, Typ Ex-Hippie, ganz in weißes Leinen gekleidet, in einem geschmackvoll sparsam eingerichteten Haus im Süden. Es ist zwar auch ein Foto mit nacktem Oberkörper im Badezimmer dabei - ein immer wiederkehrendes Phänomen, dem ich bisher noch nicht auf die Schliche gekommen bin, aber nun ja.
Er sei zu Besuch in Deutschland, auch in meiner Stadt, und wolle mich gern treffen. Ich bin sehr dafür!
Als ich sein Profil und seine speziellen Interessen noch einmal durchlese, sehe ich ein Wort, das ich übersehen hatte! Er interessiert sich für Bondage, egal ob in Fotos oder im Leben. Also ein Sadomaso-Fessler?
Sofort rufe ich Sarah an.
»Du triffst dich nicht mit einem Perversling!«, entscheidet sie.
Karen wiederum sieht das anders.
»Du musst was wagen, ich finde dich einfach zu konventionell und zu feige«, schimpft ausgerechnet sie. »Sei doch mal sexy und anzüglich, lass dich treiben! Du musst ja keine Fessel-Fotos machen, aber tu doch erst mal offen und interessiert!«
Sie hat gut reden, denn sie ist in den letzten drei Jahren mit einem Makler, einem Manager und einem Studienrat ausgegangen - alles Männer, die vor Bürgerlichkeit platzten.
Ach verdammt, ich kann nicht aus meiner Haut, auch nicht der losen, dabei bin ich eigentlich sehr albern, führe Leute gern an der Nase herum und kann ganz gut schauspielern. Allerdings regt sich das Spieler-Gen ganz tief drinnen doch ein bisschen. Was soll’s - ich werde ihn treffen.
Vielleicht suche ich nur nach Kicks für mein langweiliges sexfreies Leben, vielleicht habe ich eine versteckte Ader für das Quälen von Männern? Es gibt sicherlich irgendwo eine Studie, die besagt, dass sechsundneunzig Prozent aller Menschen aus Wut oder Lust anderen manchmal physischen Schmerz zufügen wollen, wenn sie es sich nur gestatten würden. Und immerhin besitze ich ein T-Shirt mit der Aufschrift »I like to make Boys cry« (Ich bringe gern Jungs zum Weinen). Und das stimmt. Auf eine nette Art natürlich!
Sicherlich geht es sehr vielen Menschen so wie mir: Sie interessieren sich nicht brennend für sexuelle Abarten, die mehr als nur harmlose Spaß-Foltereien umfassen.
Ich weiß nicht wirklich, was Leute in Leder so machen, die die Peitsche auf dem Frühstückstisch haben wie ich mein Müsli und die Süddeutsche. Wahrscheinlich gibt es feine Unterschiede zwischen Bondage, Fetisch und Sadomaso. Aber meiner Meinung nach hat das alles mit Ketten, Leder, Gummi, Peitschen, auf allen vieren kriechen, Fesseln, Pinkeln, Quälen, Unterwerfung und Schmerz zu tun. Man kennt die einschlägigen Fotos und konfessionellen Erlebnisberichte von Damen, die gern dominieren oder gequält werden, aus Stern-Artikeln, in denen derlei Geschichten aus der Sexgruft besonders beliebt sind.
Ob das nun meine relativ konventionellen Ideen von Sex sind, die mich so über diese Art der Spiele fantasieren lassen, weiß ich nicht. Doch selbst wenn ich wagemutig in mich hineinhöre, ist meine Bereitschaft minimal, mit über sechzig in ein quietschendes Gummiteil eingequetscht zu werden, sodass meine Haut, dort wo sie rausguckt, noch mehr wie Krepppapier aussieht.
Ich fände mich auch mit Ledermaske oder auf allen vieren kriechend irgendwie peinlich oder aber irre komisch. Es ist sicherlich nicht im Sinne des Fetischliebhabers oder Fesslungskünstlers, wenn sich die Frau vor Lachen und nicht vor Erregung kaum halten kann. Ich muss aber sagen, dass ich Michelle Pfeiffers schwarzes Lackkostüm als Catwoman in einem der Batman-Filme sensationell sexy, total unwiderstehlich und sehr verwegen fand. Aber das ist Hollywood und die Welt des Comicstrips.
Natürlich ist man auf seinen sexuellen Erlebnisreisen durchs Leben auch einmal neugierig auf dies und das. Und ja, auch ich habe es schon im Wald, auf der Toilette bei einer Party, in einer leer stehenden Baracke, an einem Swimmingpool und anderen interessanten Plätzen getrieben, wo man, wenn man Pech hat, entdeckt werden könnte. Heutzutage bleibe ich lieber überraschungsfrei in mir bekannten Räumen.
Ich habe eine Freundin, die an ihrem sehr schönen alten Gitterbett ganz demonstrativ Designerhandschellen hängen hat. Auf die Frage, ob sie die auch benutze, grinste sie frech: »Logisch.« Sie ist sechsundfünfzig.
Dieser eine jüngere feste Freund von mir, den ich so liebte, wollte immer mal, dass ich ihn »bestrafe« - was er weiß Gott verdient hätte -, und ich band ihm hier und da mit einem Cowboyhalstuch spielerisch die Handgelenke zusammen. Das war’s auch schon. Ich fand es ganz gut, dass er mir hilflos ausgeliefert war, oder zumindest so tat. Das war ja der Sinn des Spiels.
 
Ich hatte am Telefon Hartwig gegenüber natürlich nichts von seinem »Hobby« erwähnt und wie ich dazu stand - er auch nicht. Leider kenne ich keine Sado-Bars, schlage aber eine ganz normale für einen Drink vor. Natürlich ist Sarah informiert, die unbedingt schützend zur Stelle sein will, bevor er sein Seil aus der Herrenhandtasche holt, nachdem er mich unauffällig mit Chloroform betäubt hat.
 
Doch Hartwig sieht bei unserem Date ein wenig wie ein verlorenes Blumenkind aus, wieder ganz in unschuldigem Weiß. Ich bin ganz in schwarz, trage einen Minirock (das geht noch bei mir, keine Angst!) und meine einzigen Stöckelschuhe, das ist mein gemäßigtes Domina-Outfit. Netzstrümpfe hätte ich zu viel gefunden.
Ihm gefällt’s, und er sagt, dass er froh ist, dass ich so aussehe, wie er es sich vorgestellt hat. Wir bestellen Drinks, und ich sehe, dass er eine sehr arrogante Art dem Kellner gegenüber hat. Da spielt einer den Herrenmenschen. Aber das ist nur Show, denn sofort wittere ich etwas, wahrscheinlich so, wie ein Raubtier es tut. Er ist Opfer, er liebt die Versklavung, das ist sein Ding.
Sein Gesicht hat unter der Sonnenbräune einen leidenden und unterwürfigen Ausdruck, die Augen sind beim genauen Hinsehen müde und gequält.
Der arme Junge würde sofort gefesselt und geknebelt werden und mit der Lederpeitsche eins übergezogen kriegen, weil sein Gesicht darum bettelt, wenn er an die oder den Falschen gerät, denke ich.
Und diese Person bin nicht ich. Ich mag ihn nicht. Und er tut mir aufrichtig leid. Einen frechen, kernigen Typen hätte ich flirtig mit kleinen Bemerkungen provoziert, aber hier ist nur Bedrückung.
Ich lenke das Gespräch bewusst aufgeräumt auf Kunst und Ausstellungen und hoffe, er fragt mich nicht, warum ich ihn treffen wollte. Tut er auch nicht, denn dumm oder unsensibel ist er nicht.
Ich glaube, die Demarkationslinie zwischen Opfer und Täter ist gut und sichtbar abgesteckt für die, die sich im selben Terrain befinden. Ich bin hierbei keines von beiden, und das weiß er.
Und so ist der Abend kurz und ereignislos, und ich sollte lernen, meine Zeit nicht mit halbherzigen, deprimierenden Spielereien zu verplempern!
Sarah ist am meisten enttäuscht, hauptsächlich, weil sie nicht zum Einsatz kam.
Sexy Sixty - Liebe kennt kein Alter -
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