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Es war Ende Januar, als Nevio sie zu einem »familiären Abendessen« ins Pagliacci einlud.
Karla freute sich darauf, Faustina wiederzusehen.
Es war Montag, der Ruhetag des Restaurants. Durch die Tür konnte Karla leise Musik hören und den warmen Schimmer von Kerzenlicht ausmachen. Raoul, der sich bei ihr eingehakt hatte, öffnete die Tür, und ein warmer Schwall wohlriechender Luft schlug ihnen entgegen.
Karla wurde von Faustina in eine herzliche Umarmung gezogen, bevor die Vampirin Raouls Kopf zu sich hinunterzog und ihn auf die Wange küsste. »Du siehst schrecklich aus«, sagte sie liebevoll. »Hast du nichts gegessen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Setzt euch, setzt euch. Die anderen kommen – ah. Da sind sie ja!«
Durch die Tür kamen neben einem kalten Luftzug auch zwei Männer, die sich offensichtlich fremd waren, weil sie beide ein wenig verlegen dreinschauten. Karla hörte, wie Raoul neben ihr leise fluchte. Sie lächelte den Ankömmlingen zu und gab Raoul einen kleinen Schubs.
»Kit, ich wusste nicht, dass du wieder zurück bist.« Sie umarmte den kleineren der beiden Männer. Er erwiderte die Umarmung und küsste sie auf den Mund.
»Horace, was für eine Freude«, sagte sie atemlos und befreite sich aus Kits Armen. Raoul warf ihm bereits mörderische Blicke zu. Karla reichte dem Butler die Hand und zog ihn beiseite. »Erzähl schon. Hast du die Konstruktionszeichnung fertig?«
Horace berichtete, während Karla mit einem halben Ohr auf die bemüht höfliche Unterhaltung lauschte, die Kit mit Raoul begonnen hatte. Horace hielt inne. »Langweile ich dich?«
Sie wandte ihm das Gesicht zu und schnitt eine Grimasse. »Sorry. Ich war ein wenig abgelenkt. Wir treffen uns in den nächsten Tagen, und du erzählst mir, was du mit deinen Leuten über den Generatorbetrieb herausgefunden hast.« Sie zögerte. »Vielleicht komme ich ja mit zu einem eurer Treffen.«
Faustina unterbrach sie, da gerade die Vorspeise aufgetragen wurde.
Die Atmosphäre lockerte sich im Verlauf des Essens so weit, dass Karla anfangen konnte zu genießen. Sie beobachtete, dass Raoul und Kit nach anfänglicher Feindseligkeit zu einem vorsichtigen Waffenstillstand gefunden hatten und sich unterhielten. Es erstaunte sie nicht, dass Raoul den Fernen Osten zu kennen schien wie seine Westentasche.
Sie entspannte sich und ließ sich von Faustina ausfragen.
Dann kam das Gespräch auf Brad. Raoul, den das Thema immer noch offensichtlich schmerzte, überließ es Karla, von des Daimons gescheiterten Plänen für einen spektakulären Weltuntergang zu berichten. Faustina hörte kopfschüttelnd zu, während Nevio, ihr Mann, blumige italienische Flüche ausstieß. »Wir wissen immer noch nicht, wie die Bücherdiebstähle damit zusammenhängen – ob sie es überhaupt tun. Wir sind zwar durch sie auf die Spur des Memplex-Generators geleitet worden, aber das ist anscheinend reiner Zufall gewesen«, schloss Karla.
»Aber nein«, erwiderte Horace zur allseitigen Überraschung. »Das ist kein Zufall. Irgendwoher musste der Generator doch seinen ursprünglichen Impuls bekommen. Und soweit ich das verstehe, ist ein Daimon nicht in der Lage, Meme zu bilden.«
Karla sah ihn groß an. »Du hast recht«, sagte sie. »Darüber habe ich nie nachgedacht. Wie hat er den Generator gezündet?«
»Mit diesen Büchern.« Horace schob seinen Teller beiseite, holte einen Briefumschlag aus der Tasche und begann, ein Diagramm zu zeichnen. »Wenn er die Meme aus den Büchern dazu verwendet hat, um die einzelnen Zellen des Generators anzuschieben, musste er am Ende nur aufpassen, dass die Kupplungen den Fluss weiterleiten und die Resonanzschaukel in Gang setzen. Siehst du, wie es funktioniert haben könnte, Karla?« Er deutete auf einige Punkte des Diagramms. »Hier und hier waren die gefährlichen Kreuzungen. Die hatte er in der Maschine überbrückt. Wir knacken noch an der Frage, wie er die Meme aus den Büchern extrahiert haben könnte – es waren alles Originale, richtig?«
Karla, Raoul und Horace beugten sich über das Diagramm, doch Faustina räusperte sich. »Meine Lieben«, sagte sie mit sanftem Tadel in der Stimme, »könntet ihr dieses Fachgespräch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben?«
Horace entschuldigte sich, und Raoul warf ihr eine Kusshand zu. »Aber wer hat denn die Wächter ermordet?«, fragte Nevio.
Alle verstummten und blickten peinlich berührt auf ihre Teller. Raoul räusperte sich rau. »Ich«, sagte er.
»Raoul!«, rief Karla empört. »Es war Brad, nicht du!«
»Und ich habe auch die Maschine gebaut, in Gang gesetzt und die Tür versiegelt«, fuhr Raoul eisern fort. »Deshalb haben wir an den Tatorten keine Spuren fremden Eindringens finden können. Ermittler blenden automatisch alle Spuren aus, die sie selbst verursacht haben.«
»Du solltest nicht so denken«, mahnte Faustina. »Du bist nicht schuld daran, wenn dein Daimon …«
»Als sein Wirt bin ich nach jedem Gesetz der Welt verantwortlich für die Taten meines Daimons«, entgegnete Raoul bitter. »Wer sonst? Ich werde mich in ein paar Wochen vor der Behörde für magische Belange dazu äußern müssen.«
»Könnten wir jetzt bitte das Thema wechseln?«, sagte Karla. »Ich streite mich seit Wochen mit ihm darüber, und so langsam kann ich es nicht mehr hören.« Sie wandte sich an Raoul und fuhr fort: »Wenn du darauf bestehst, dich weiter zu zerfleischen, dann kann ich dir nicht helfen. Aber ich bin es leid. Hast du gehört? Und du kannst mich nicht daran hindern, bei deiner Anhörung dabei zu sein!«
»Ich möchte einen Toast ausbringen«, rief Nevio und sprang auf. »Lasst uns feiern, dass die Welt noch steht. Auf das Fünfte Zeitalter und die nächsten 5125 Jahre! Salute!«
Später, als sie beim Espresso und dem obligatorischen Grappa saßen und über unverfänglichere Themen sprachen, kam Faustina zu Karla und sagte leise: »Da ist ein Gespräch für dich, Karla.«
Karla sah sie an und seufzte. Sie ahnte, wer am anderen Ende wartete.
»Frau van Zomeren«, sagte eine samtweiche Stimme, »wir haben lange nichts voneinander gehört. Darf ich fragen, wie Sie sich Ihre nähere Zukunft vorstellen?«
»Santo«, erwiderte Karla mit unterdrücktem Grimm, »ich würde gerne sagen, dass es Sie nichts angeht. Aber ich respektiere Sie als Princeps der Gens, der ich notgedrungen angehöre, deshalb schicke ich Sie nicht zum Teufel.«
Der Vampir lachte gedämpft. »Sie sind erfrischend«, sagte er. »Darf ich also als Ihr Princeps erfahren, ob Sie eine vollständige Umwandlung anstreben? Und wie Ihre Pläne im Zusammenhang mit meinem Gefolgsmann Christopher Marley aussehen?«
Karla schnaubte. »Sparen Sie sich Ihre Ironie«, fauchte sie. »Ich dachte, dass ich der Gens als Generartrix wertvoller bin? Warum drängen Sie also auf meine Umwandlung?«
Perfido schwieg. Dann antwortete er mit gelinder Überraschung: »Ich dränge nicht darauf, Frau van Zomeren. Ich bin allerdings bereit, einem Mitglied meiner Gens seinen Wunsch zu erfüllen. Das ist meine Pflicht als Oberhaupt der Familie. Kit hatte mir übermittelt, dass Sie die Umwandlung wünschen.«
Karla umklammerte den Hörer des Telefons. »Das ist nicht richtig«, sagte sie. »Und ich denke auch nicht daran, mich in ein Hotel irgendwo im Hinterland abschieben zu lassen.«
Perfido lachte. »Das freut mich, Frau van Zomeren. Die Position meiner Assistentin ist nach wie vor vakant. Ich habe mittlerweile von dem Gedanken Abstand genommen, sie mit einer weißen Hexe zu besetzen. Stehen Sie zur Verfügung?«
Karla schwieg verblüfft. »Nein«, sagte sie dann und konnte ihre eigene Unentschlossenheit hören. »Nein«, wiederholte sie fester. »Was führen Sie im Schilde, Santo?«
»Nichts.« Er seufzte. »Ihr Misstrauen schmerzt mich, junge Frau. Aber ich habe Zeit. Wissen Sie mittlerweile denn, wovon Sie Ihren Lebensunterhalt bestreiten werden?«
»Ja«, schnappte Karla, »danke. Stecken Sie sich Ihre falsche Besorgnis irgendwohin, wo die Sonne nicht scheint.« Sie legte auf und schnaubte wütend.
»Ärger?«, fragte Kit, der so lautlos neben ihr aufgetaucht war wie ein Gespenst.
»Nein.« Karla wischte sich rau über das Gesicht. »Nein, Lieber«, wiederholte sie sanfter. »Aber ich muss mit dir reden. Ich komme nicht mit.«
Er nickte ohne Überraschung. »Das dachte ich mir.« Sein Blick flog zu Raoul. Er zuckte resigniert die Achseln. »Ich habe verloren, hm?«
»Nein, das hast du nicht!« Karla schluckte ihre Wut hinunter. »Es hat nichts mit dir oder Raoul zu tun. Männer! Immer meint ihr, es müsste sich alles um euch drehen!« Sie funkelte ihn an und ließ ihn stehen.
»Karla«, rief Faustina und winkte ihr zu. »Erzähl mir von deinen Plänen. Raoul sagt, du willst ein Hotel übernehmen?«
»Nein, das will ich nicht!« Karla zügelte sich, damit sie nicht schrie. »Ich werde in Zukunft die vernünftige Hälfte des Ermittlerteams ›Van Zomeren & Winter‹ abgeben. Das ist aber eigentlich Raouls Geheimnis, er wollte es euch erzählen.« Sie blinzelte dem sprachlos staunenden Raoul zu und setzte sich wieder zwischen ihn und Horace.
Raoul beugte sich zu ihr und flüsterte: »Du hättest mich vorwarnen können.« Sein Lächeln wärmte ihr Herz.
»Es war eine spontane Eingebung«, gab sie zurück. »Aber bilde dir nichts darauf ein, hörst du? Ich kann diese Partnerschaft jederzeit kündigen.«
Er drückte ihre Hand und beugte sich dann zu Faustina, die Genaueres wissen wollte. Karla hob den Blick und sah Kit an, der traurig an der Tischkante lehnte.
Es war spät, als sie aufbrachen. Karla wartete an der Tür auf Raoul, der den Jaguar holte, und sprach mit Kit. »Es bedeutet nicht, dass ich dir den Laufpass gebe«, sagte sie eindringlich. »Ich will mich aber nicht für Perfidos Zwecke einspannen lassen – noch nicht mal für ein harmloses Hotel, das ihm gehört. Warum verstehst du das nicht?«
Er hob die Hand und streichelte ihre Wange. »Ich verstehe dich doch«, sagte er sanft. »Wenn ich dich nur gelegentlich sehen darf, meine Delicata …«
Sie zog seine Hand an ihre Lippen. »Du darfst, mein Dichter.«
Der Jaguar fuhr an den Bordstein. Raoul beugte sich aus der Tür und rief: »Können wir Sie mitnehmen, Herr Marley?« Sein fragender Blick streifte Karla.
»Ich fahre zurück in die Villa«, sagte Kit zu Karla. »Kommst du mit?«
Sie schwankte. Nickte halbherzig. »Lass uns mein Auto nehmen«, sagte sie. »Ich habe nichts getrunken. Dann bin ich morgen unabhängig.« Sie öffnete die Wagentür und schob Kit ins Auto.
Auf der Fahrt sprachen sie kein Wort miteinander. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Raoul störte die Ruhe mit einem zornigen Ausruf. »Immer steht so ein Idiot in der Einfahrt!« Er hupte.
Karla blickte aus dem Fenster. Vor der Einfahrt zur Tiefgarage stand eine große schwarze Limousine mit getönten Scheiben, die ihr bekannt vorkam. Die Fahrertür öffnete sich, und ein livrierter Chauffeur stieg aus. Er kam zum Auto, beugte sich hinab und fragte: »Frau van Zomeren?«
Karla schob Kits Hand beiseite und stieg aus. »Ja?« Dann erkannte sei ihn. »Kern!«
Der Chauffeur neigte den Kopf. »Ich soll einen Gruß bestellen. Herr von Felsenstein würde sich über einen Besuch von Ihnen freuen.« Er klemmte seine Schirmmütze unter den Arm und zog eine schmale Schatulle aus der Tasche. »Aber auch, wenn Sie ablehnen, soll ich Ihnen dies hier geben. Herr von Felsenstein sagte, Sie hätten es bei Ihrem letzten Besuch bei ihm vergessen.«
Karla war sich der Blicke der beiden Männer im Auto bewusst. Sie nahm das Etui entgegen, klappte es auf und schnell wieder zu. Norxis hatte nicht aufgeschnitten, als er von Deyens Collier abfällig als »albernes Kettchen« bezeichnet hatte. »Das muss ein Irrtum sein …«, begann sie und sah das Lächeln in den Augen Kerns. Sie schluckte und verstand. Drehte sich um und sah Raouls und Kits Gesichter, die sie aufmerksam und eifersüchtig beobachteten. Drehte sich wieder zu Norxis von Felsensteins Chauffeur, der abwartend vor der Limousine stand. Wog das Etui in der Hand.
Karla grinste und warf den beiden Rivalen in Raouls Jaguar eine Kusshand zu. »Bis später«, rief sie, nickte dem Chauffeur zu und ließ sich von ihm in den Fond der Limousine helfen.
Und dort lehnte sie sich in die butterweichen Lederpolster, streckte die Beine aus und lachte laut und lange. Morgen war immer noch ein guter Tag, um über Kit und Raoul, Perfido und die Agentur »Van Zomeren & Winter« nachzudenken. Aber jetzt und hier hatte sie sich eine kleine Erholung mit jemandem, der keine Ansprüche an sie stellte, wirklich verdient.
Die Limousine trug sie wie auf Drachenflügeln durch die Nacht.