12. 19. 19. 03. 18.
Dieser Scheißkerl hatte sie einfach versetzt. Karla griff zum x-ten Mal nach ihrem Handy, wählte seine Nummer, wartete, bis die Ansage der Mailbox startete, und legte wieder auf. Sie starrte wütend die unschuldige Tasse an, die leer vor ihr auf dem Tisch stand.
Sie stand auf, warf ihren Rucksack über die Schulter und verließ das Coffee House. Sie hatte seine Adresse, und da sie ihn vorhin unter seiner Festnetznummer erwischt hatte, war er möglicherweise zu Hause. Seine Stimme hatte schläfrig und gereizt geklungen, als hätte sie ihn gerade aus dem Bett geholt – nachmittags um vier!
Dies war ein Stadtviertel, in das sie selten kam. Stille Straßen mit alten Bäumen und Bürgerhäusern, die sich hinter gepflegten Vorgärten verschanzten. Alles war ordentlich, sauber und roch nach Dienstboten und Geld. An den Türen glänzten die dezenten Schilder von Werbeagenturen, Modelabels und Anwaltskanzleien.
Sie nahm den Weg durch einen kleinen öffentlichen Park und erreichte ihr Ziel. Auch hier standen diese schönen alten Häuser mit ihren sorgsam restaurierten Fassaden. Nummer 13 – na, das passte ja. Sie stieg die Treppe zur Eingangstür empor, suchte nach dem richtigen Klingelschild und fand es. »Winter von Adlersflügel« stand da in fein geschwungener Schrift auf dem Messingtürschild.
Karla runzelte die Stirn und las die Namen auf den anderen beiden Schildern. Das eine schien einem Arzt zu gehören, auf dem anderen stand: »Grundy«. Also musste dieser Von-und-zu ihr gesuchter Dunkelmagus sein. Auch das noch.
Sie klingelte, und als sich nichts rührte, klingelte sie noch einmal, wobei sie den Daumen auf dem Knopf ließ. Nach einer Weile knackte die Gegensprechanlage. »Ja?«, fragte jemand unwirsch.
»Van Zomeren«, erwiderte Karla nicht weniger barsch.
Die Antwort ließ einen Moment auf sich warten. Dann antwortete die Stimme: »Oh. Na gut. Kommen sie rauf.« Das Türschloss summte.
Karla nahm die breite, mit Teppich belegte Treppe mit schnellen Schritten und landete vor einer weiß lackierten Holztür, die einen Spalt offen stand. Sie klopfte an und schob die Tür auf.
Eine große Eingangsdiele mit drei Türen. Karla registrierte den Parkettboden, die dezente Tapete, den echten Stuck, die indirekte Beleuchtung und die Antiquitäten. Kein Spiegel an der Garderobe. Bilder an den Wänden, nachgedunkelt. Alt. Alles wirkte edel und kostspielig. Das Einzige, was störte, war ein seltsam fauliger Geruch wie von einer übervollen Mülltonne. Das passte nicht so ganz in diese elegante Umgebung.
»Herr Winter?«, rief Karla.
»Kommen Sie rein. Linke Tür.«
Sie durchquerte die Diele. Die linke Tür führte in einen hellen, weitläufigen Raum mit bodentiefen Fenstern. Karla blieb an der Tür stehen und sah sich verblüfft um. Was auch immer sie erwartet hatte – das war es nicht.
In satten Farben glühende orientalische Seidenteppiche auf dunklem Eichenparkett, zart gemusterte Tapeten, Kristallleuchter und Stilmöbel, Bilder und Kunstgegenstände, eine Wand mit alten Büchern – alles nicht ihr Stil, aber dennoch war sie gegen ihren Willen beeindruckt.
Andererseits herrschte aber auch das absolute Chaos. Kleidungsstücke, Papiertüten und Plastikbeutel, bekritzelte Zettel und abgekaute Bleistiftstummel, Pappbecher und kostbare Kristallgläser lagen und standen Seite an Seite auf einem Tisch; daneben Teetassen, in denen ölige Pfützen standen, und Teller mit kalten und zum Teil schimmligen Essensresten, überquellende Aschenbecher neben aufgeschlagenen Büchern, Schuhe, zusammengeknüllte Verpackungen von Süßigkeiten, Fast-Food-Kartons, leere Flaschen, zerdrückte Dosen, verwelkende Blumen in einer Vase, über einer Stehlampe hing ein Hut, auf dem Boden waren Papierfetzen verteilt und es roch durchdringend nach einer Mischung aus verdorbenen Lebensmitteln, Rauch, Alkohol und Mann.
Letzterer erhob sich aus einem Sessel und nickte Karla zu. »Gehen wir nach nebenan in mein Arbeitszimmer«, sagte er.
Karla bemerkte, dass sie sich jetzt schon an seine mangelnden Umgangsformen zu gewöhnen schien. Statt sich darüber zu ärgern, musterte sie Raoul Winter ungeniert und gründlich vom Kopf bis zu den Füßen.
Er war groß, bestimmt anderthalb Köpfe größer als sie, und schlank an der Grenze zur Hagerkeit. Er trug einen ungepflegten Kinnbart, der in ebenso ungepflegte Stoppeln überging, sein viel zu langes dunkelbraunes Haar hatte sichtlich schon länger kein Shampoo mehr gesehen und hing ihm zottelig in die Stirn. Am Leib trug er eine dreckige, am Knie zerrissene Jeans und ein verwaschenes, offenes Hemd. Sie konnte seine Rippen sehen und die Narbe eine Handbreit unterhalb seines Schlüsselbeins, die aussah, als wäre er mit einem Brandeisen gezeichnet worden.
Sie ließ ihren Blick hinunterwandern zu den komplett nackten Füßen, die auf dem teuren Orientteppich standen. Nackte, schmutzige Füße. Er sah aus, als wäre er barfuß durch den Park gejoggt, und zwar nach einem Regenguss. An seinen Zehen klebte Gras, und Schlamm trocknete zwischen ihnen zu braunen Krusten.
Karla blinzelte mehrmals und räusperte sich. »Sind Sie Raoul Winter?«, fragte sie misstrauisch.
»Wen haben Sie sonst erwartet?« Er verschwand ohne ein weiteres Wort im Nebenzimmer.
Karla schüttelte den Kopf. Sie musste sich nicht mit diesem Irren auseinandersetzen. Sie konnte Obermagister Korngold anrufen und darum bitten, einem Kollegen den Fall zu übertragen. Einen Moment lang stellte sie sich die Reaktion ihres Chefs vor, dann seufzte sie und folgte dem Irren.
Das Arbeitszimmer war ein nüchtern eingerichteter Raum. Hier gab es weder Teppiche noch Antiquitäten. Ein großer Schreibtisch dominierte das Zimmer, der ebenso vollgemüllt war wie das Wohnzimmer. Winter schaltete das Deckenlicht an, das kalt und unfreundlich mit dem dämmrigen Tageslicht kollidierte, das durch die halb zugezogenen Vorhänge ins Zimmer fiel.
»Setzen Sie sich irgendwohin«, sagte Winter und wedelte unbestimmt in die Richtung einer kleinen Sitzgruppe. Karla räumte den Stapel Papier und Zeitschriften von einem der Sessel, betrachtete angewidert die halb mumifizierte Banane, die darunter zum Vorschein kam, und schob sie mit spitzen Fingern auf eine Zeitung. Sie bezwang den Impuls, den Sessel abzuwischen, und ließ sich hineinsinken.
»Entschuldigen Sie die Unordnung, meine Haushälterin hat Urlaub«, sagte Winter so beiläufig, als bestünde die »Unordnung« aus ein wenig Staub auf den Möbeln und einer herumstehenden Kaffeetasse.
Karla erwiderte nichts, sondern öffnete ihren Rucksack, um den Aktenordner herauszuziehen. »Kommen wir gleich zur Sache«, sagte sie und hielt Winter den Ordner hin.
Winter musterte den Ordner, als wäre er eine scharfe Handgranate. »Was soll ich damit?«
»Vielleicht ansehen?«, fragte Karla zurück. »Oder was machen Sie sonst mit dienstlichen Unterlagen?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und senkte das Kinn, um sie an seiner großen, scharf gebogenen Nase vorbei zu mustern wie ein Geier, der ein Stück Aas auf Essbarkeit prüft. »Ich lese keine Akten. Erzählen Sie mir, was darin steht.«
Karla hob die Brauen. »Sie lesen keine Akten«, wiederholte sie. Ihr Blick fuhr über die Berge an Papier, Notizzetteln und Büchern, die sich auch hier überall in unordentlichen Haufen türmten. »Das ist originell.«
Er kniff die Lippen zusammen und riss ihr den Ordner aus der Hand. Er schlug ihn auf und blätterte ihn flüchtig durch. Dann warf er den Ordner auf den Schreibtisch und lehnte sich auf die Tischkante. »Bitte. Ich habe ihn mir angesehen.«
Karla verdrehte die Augen. Der Mann war komplett verrückt. Die meisten Dunkelmagier liefen in irgendeiner Weise neben der Spur, aber dieser hier hatte ganz offensichtlich die Urgroßmutter aller Dachschäden.
»Wir sollen gemeinsam an diesem Fall arbeiten«, sagte sie. »Haben Sie in der Vergangenheit schon einmal mit einer meiner Kolleginnen zusammengearbeitet?«
Er sah sie nur stumm an. Hob dann die Schultern, kratzte sich unbehaglich am Ellbogen. »Ja«, sagte er. Nicht mehr. Starrte sie weiter an. Karla hatte den Eindruck, dass er von einer Sekunde auf die andere vollkommen weggetreten war. Sie dachte an die leeren Flaschen, die sie nebenan auf dem Boden gesehen hatte, den Zustand der Wohnung und des Hausherrn, zog einen Schluss und holte tief Luft, bevor sie sich erhob. »Herr Winter«, sagte sie, »es ist wahrscheinlich auch in Ihrem Sinne, wenn ich einfach gehe. Klären Sie das mit Ihrem Auftraggeber, und ich schreibe einen Bericht für meinen Vorgesetzten. Belassen wir es dabei.«
Sein leerer Blick belebte sich wieder. »Moment«, sagte er und löste sich von der Schreibtischkante. Er ging an Karla vorbei und verschwand zwischen zwei Regalen durch eine Tür. Wenig später hörte sie eine Wasserspülung.
Karla stand sprachlos vor der Tür. Er hätte doch wohl warten können, bis sie gegangen war.
Das Wasserrauschen verebbte. Sie erwartete, irgendwelche Geräusche von drüben zu hören, die verrieten, dass er sich die Hände wusch oder sonst etwas tat, aber es blieb totenstill.
Karla unterdrückte den Impuls, ihren Rucksack und den Aktenordner zu nehmen und sich einfach zu verdrücken. Sie blätterte einen Moment in einem der Bücher herum, das aufgeschlagen auf dem Tischchen lag. Es war eine Abhandlung über einige der unappetitlicheren Aspekte der Totenbeschwörung, und Karla schob es angewidert beiseite. Auf der Akademie hatte sie sich auch mit Dunkler Magie beschäftigen müssen, zumindest in der Theorie, denn ihre Professoren waren der Meinung, man solle den Gegner und seine Methoden kennen. Aber sie konnte nicht behaupten, dass dieser Teil ihrer Ausbildung ihr Vergnügen bereitet hätte.
Immer noch kein Laut von nebenan. Was war nur mit diesem seltsamen Herrn Winter von Adlersflügel los? War er in Ohnmacht gefallen? Hatte er sich aus dem Fenster gestürzt? War er zur Hölle gefahren? Oder versuchte er nur, sie loszuwerden?
Kurz entschlossen packte Karla die Türklinke und fand sich in einem großen, hell gefliesten Badezimmer wieder. Badewanne, separate Dusche, ein Designer-Waschbecken, alles vom Feinsten. Hier, im Gegensatz zu allen anderen Räumen, die sie gesehen hatte, gab es auch einen Spiegel, und vor dem stand Winter und starrte hinein. Seine Hände waren um den Waschbeckenrand gekrampft.
»Herr Winter?«, sagte Karla laut und ein wenig peinlich berührt.
Er gab mit keinem Zeichen zu erkennen, dass er ihr Eintreten registriert hatte. Seine Pupillen, die Karla im Spiegel sehen konnte, waren so geweitet, dass seine vorher goldbraunen Augen vollkommen schwarz erschienen. Er hatte die Zähne fest zusammengebissen, als wollte er verhindern, dass sich ein Schrei oder ein Stöhnen zwischen seinen Lippen hervordrängte. Sie sah die hervortretenden Sehnen an seinem Hals und die weißen Fingerknöchel und schluckte einen Fluch hinunter. Das war ein Fall aus dem Lehrbuch. Wieso hatte der Idiot den Spiegel nicht verhängt? Und wenn er ihn schon nicht verhüllte – was ja beim Rasieren durchaus unpraktisch sein musste –, wieso hatte er sich geradewegs in die Augen gesehen?
Ohne weiter nachzudenken, holte sie ihre Waffe aus dem Schulterhalfter, legte auf ihn an, entsicherte und zielte. Ihre Hände waren vollkommen ruhig. Sie gab ein wenig Druck auf den Abzug und sagte laut: »Erste und letzte Warnung: Verlassen Sie sofort diesen Mann! Ich zähle bis drei. Eins … zwei …«
Winter hob die Hände und drehte sich zu ihr um. Sein Blick, immer noch mit extrem geweiteten Pupillen, fixierte sie. Er zog die Lippen zu einem unverhohlenen Zähnefletschen zurück, und ein drohendes Knurren kam aus seiner Kehle. Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Drei«, sagte Karla und drückte ab.