12. 19. 19. 03. 18.
Sein Schädel dröhnte, und der Nacken schmerzte, als hätte er einen Schlag mit einem Bleirohr abbekommen. Er öffnete die Augen und schloss sie gleich wieder, weil das grelle Licht sich mit spitzen Dornen durch seine Augen in den Hinterkopf bohrte.
»Was …?«, murmelte er und ließ sich von der großen, blonden Fremden aufhelfen. »Was ist …?« Er hielt inne und lauschte. Da stimmte etwas nicht.
Er erwiderte den Blick der Frau. »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen?« Er rieb sich den schmerzenden Nacken.
Ohne den Blick abzuwenden, griff sie in die Tasche ihrer Lederjacke. Bei der Bewegung sah er kurz ein Schulterhalfter aufblitzen. Dann hielt sie ihre Marke hoch. Eine Magistra. Was trieb eine MID-Beamtin in seiner Wohnung?
»Van Zomeren«, sagte sie. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass das ihr Name sein musste. Er stand wackelig auf und sah sich um. Das war sein verdammtes Badezimmer. Was trieb die Beamtin in seinem Bad?
»Ich habe Gebrauch von meiner Schusswaffe machen müssen«, erklärte sie. »Geht es Ihnen gut? Benötigen Sie einen Arzt?«
»Unter mir wohnt einer«, sagte er und lachte kurz auf. »Dr. Frankenstein – äh – Frankenheim. Psychiater. Brauche ich einen Arzt? Sagen Sie es mir.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Fühlen Sie sich desorientiert? Haben Sie körperliche Ausfallerscheinungen irgendwelcher Art?«
Er schloss die Augen und ging im Geiste seine Körperteile durch. Es schien alles an Ort und Stelle zu sein. Allerdings war er ein wenig desorientiert, was daran lag, dass etwas fehlte. Etwas existenziell Wichtiges. Brad.
Er riss die Augen auf und machte einen Schritt auf die Beamtin zu. »Verdammt, was haben Sie da angerichtet?«, fauchte er. Er drängte sie grob beiseite und stürmte aus dem Badezimmer.
Sie folgte ihm gemächlich. »Was ich angerichtet habe?«, hörte er sie sagen. »Ich habe nach Dienstvorschrift VII/b/*3 einen Eindringling entfernt, der Ihr Bewusstsein und Ihren Körper übernommen hatte. Wenn Sie Grund zur Beschwerde sehen, können Sie diese über den normalen Dienstweg einreichen.«
Er schaltete das Bürokratengeschwätz stumm und ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen. Während er erbittert auf seinem Daumennagel herumkaute, ging er die Möglichkeiten durch, die ihm jetzt blieben. Er konnte sich mit der Hexe herumstreiten, wenn es sein musste bis hin zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde. Allerdings war ihm bewusst, dass seine Aussichten, damit irgendetwas zu erreichen, gleich null waren. Darüber hinaus konnte er sich ganz dunkel daran erinnern, dass er mit Tora telefoniert hatte und dass die schießwütige Magistra ein gewisses Recht hatte, sich in seiner Wohnung aufzuhalten. Oder?
»Habe ich Sie reingelassen?«, fragte er.
Sie sah ihn verblüfft an. »Ja«, erwiderte sie. »Mann, erinnern Sie sich wirklich an gar nichts? Der Inkubus muss Sie ja komplett dominiert haben.«
»Kein Inkubus«, sagte er automatisch.
Sie zog die Brauen hoch. »Na gut, der Daimon?«
»Ich ziehe den Begriff ›Genius‹ vor«, schnappte er. »Und Sie haben es wahrhaftig geschafft, Brad in den Limbus zu schicken, Sie ungeschicktes Trampeltier!« Er tastete unwillkürlich nach dem Zeichen auf seiner Brust, das sich kalt und ein wenig klamm anfühlte. Ohne Brad war er nur ein halber Mensch.
»Wer ist Brad?«, fragte sie. Ihre grauen Augen waren bei seinem Ausbruch eine Schattierung dunkler geworden, aber ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert.
»Brad ist mein ›Daimon‹. Mein Symbiont. Mein verdammter Mitarbeiter!«
Ihr Gesicht zeigte kurz einen Ausdruck der Verblüffung, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Ihr Mitarbeiter«, wiederholte sie. »Davon stand nichts in meinen Unterlagen.«
»Wir gehen damit auch nicht hausieren.« Er merkte, wie die Müdigkeit ihn ansprang. Hölle, was hatte Brad in den letzten Tagen angestellt? Er konnte sich nur bruchstückhaft erinnern.
Sie nickte langsam. »Ich habe ihn gesehen«, sagte sie. »Im Badezimmer. Er wollte mir die Kehle durchbeißen, glaube ich.«
Raoul hörte auf, sich den schmerzenden Nacken zu reiben, und lachte. »Das kann ich nachvollziehen.« Er schnüffelte und verzog das Gesicht. »Ich rieche wie ein Iltis. Lassen Sie mich kurz duschen und etwas Frisches anziehen. Würden Sie uns in der Zeit einen Kaffee kochen?«
Die Dusche tat gut. Er drehte das Wasser so heiß auf, dass er es gerade noch aushalten konnte, und seifte sich gründlich ein. Daimonen legten keinen Wert auf Körperpflege. Ob sein Wirt sauber oder schmutzig, betrunken oder halb verhungert war, interessierte Brad nicht. Schon deshalb war es wichtig, die Kontrolle zu behalten.
Er griff nach dem Handtuch und trocknete sich ab. Ein schneller Blick in den Spiegel. Raoul atmete tief ein und beugte sich vor, um sich in die Augen zu sehen. Brad, dachte er beschwörend. Pourudhâxshtay, Kumpel, wo bist du?
Natürlich meldete er sich nicht. Wenn die Hexe Brad abgeschossen hatte, war er jetzt erst mal beleidigt und hatte sich in die tieferen Schichten des Limbus verkrochen. Natürlich hatte die Waffe ihn nicht verletzen können, dafür waren die Dinger nicht gebaut. Genau genommen gab es nichts auf der Welt, was einen Daimon verletzen konnte. Nichts Materielles zumindest. Man konnte den Wirt töten, aber auch dann blieb der Symbiont unversehrt.
Raoul seufzte und löste den Blickkontakt. Es war ohnehin sinnlos, und er wollte nicht riskieren, dass am Ende ein anderer Daimon die Einladung annahm.
Er hängte das nasse Handtuch über den Spiegel, fuhr mit einem Kamm flüchtig durch die feuchten Haare und zog den Morgenmantel an, der hinter der Tür hing. Die Kleider, die er getragen hatte, waren reif für den Müll. Er machte sich im Geiste eine Notiz, dass er seine Haushälterin vorwarnen musste. Magdalena war eine Menge gewöhnt, aber wahrscheinlich würde der Zustand der Wohnung diesmal sogar ihr leidgeprüftes Gemüt überfordern.
Raoul blieb an der Tür stehen und begann erbittert zu fluchen. Die Notiz war natürlich vollkommen sinnlos, wenn Brad nicht da war, um sie entgegenzunehmen und zu speichern. Er musste sich einen Zettel suchen und einen Stift und »Magdalena anrufen« darauf notieren. Dieses dämliche MID-Weib! Hoffentlich kochte sie wenigstens einen anständigen Kaffee.
Er ging durch die Verbindungstür ins Ankleidezimmer, und gerade als er das Hemd zuknöpfte, gellte ein Schrei aus der Küche.
Winter besaß eine große, moderne, mit allem technischen Schnickschnack ausgestattete Küche – sie hatte nichts anderes erwartet. Karla machte einen großen Schritt über einen Haufen Müllsäcke und riss das Fenster auf, um Fliegen und Gestank in die Freiheit zu entlassen.
Dann sah sie sich um. Natürlich besaß dieser Herr Winter von Adlersflügel keine einfache Filtermaschine, um seinen Kaffee zu bereiten, sondern einen Apparat, der wahrscheinlich auch selbsttätig dreigängige Menüs zubereiten und danach den Abwasch erledigen konnte. Karla setzte den Kaffeefilter ein und suchte dann nach sauberen Tassen. Vergeblich.
Sie spülte zwei der am wenigsten ekligen Tassen gut aus – zumindest kam heißes Wasser aus dem Hahn – und trocknete sie durch heftiges Schütteln in der Luft einigermaßen ab. Dann sah sie sich um. Zucker. Löffel. Milch? Gab es genießbare Milch in diesem Haushalt?
Eine innere Stimme warnte sie, als sie sich dem Kühlschrank näherte. Es war ein silbernes Riesending, zweitürig, so hoch wie sie selbst, und die linke Tür öffnete sich schmatzend, als sie am Griff zog.
Karla schrie auf. Sie schmetterte die Tür wieder zu und wich an die Spüle zurück, wobei sie den Kühlschrank nicht aus den Augen ließ. Hatte es sich noch bewegt? Nein, es war tot. Ganz und gar und hundertprozentig sicher war es tot. Ein wesentlicher Teil seines Körpers fehlte, und der glasige Blick glich dem von vergammelndem Fisch auf dem Wochenmarkt.
Karla bemerkte, dass sie sich die Finger so heftig an der Hose abwischte, dass ihre Haut zu brennen begann.
Die Küchentür knallte gegen die Wand, und der Irre stand im Rahmen. Karla begegnete seinem Blick und wünschte sich, sie hätte ihren Bereitschaftskoffer dabei. Eine Austreibung hatte sie schon gemacht, aber wahrscheinlich wäre eine komplette Bannung die angemessenere Maßnahme gewesen.
Das hagere, adlernasige Gesicht des Mannes verlor seinen finsteren Ausdruck. Winter wirkte sogar ein wenig verlegen. Er hob die Hand, rieb sich über die Wange, was ein kratzendes Geräusch machte, und sagte: »Sie haben die falsche Seite vom Kühlschrank geöffnet.«
Karla fiel auf, dass er frische Kleider trug und die Haare gewaschen und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er sah nicht mehr ganz so verlottert aus. Sie riss sich von seinem Anblick los und nickte. »Wer war das? Und muss ich die Kollegen vom Mord holen, oder folgen Sie mir freiwillig zur Dienststelle?«
Seine Miene zeigte einen Moment lang völlige Verständnislosigkeit. Dann hob er die Hand und deutete grimmig auf ihre Brust: »Sie werden gar nichts, Magistra. Ich habe nichts verbrochen.«
Karla schnappte nach Luft. »Und die Leiche in Ihrem Kühlschrank? Die …«, sie schluckte ein Würgen hinunter, »angefressene Leiche? Das ist nichts?«
Er schnaubte. »Ich besitze die erforderliche Lizenz. Das da in der Kühlung ist Brads Monatsration. Ignorieren Sie sie einfach. Meine Hälfte vom Kühlschrank ist rechts.«
Karla starrte ihn sprachlos an. Dann sagte sie voller Empörung: »Ihr Daimon tötet Menschen und lagert sie in Ihrem Kühlschrank?«
Raoul schob sie beiseite und stellte die Tassen unter die Maschine. »Natürlich nicht«, erwiderte er. »Ich werde vom Leichenschauhaus beliefert.«
Karla entschied, das Thema zu wechseln.
Sie tranken ihren Kaffee im Arbeitszimmer, schweigend, während sie das heiße, bittersüße Getränk zu sich nahmen. Karla fiel auf, dass Winter aussah, als hätte er eine ordentliche Mahlzeit und ein paar Stunden Schlaf dringend nötig. Sie verdrängte mit Macht das Bild, wie er – nein, Brad – an der gekühlten Leiche nagte, und gab sich der Hoffnung hin, dass er sich wenigstens hinterher gründlich die Zähne putzte.
»Wollen wir uns über den Fall unterhalten?«, fragte sie zur Ablenkung.
Raoul Winter, der mit lang ausgestreckten Beinen in seinem Schreibtischsessel ruhte, die Hände über dem Bauch verschränkt, und mit halb geschlossenen Lidern zu dösen schien, sah auf und verzog das Gesicht. »Ich erinnere mich nicht, hat Brad die Akte gelesen?«
»Er hat einen kurzen Blick darauf geworfen. Wenn Sie sie lesen möchten …« Sie griff nach dem achtlos beiseitegelegten Ordner.
Winter schloss die Augen und winkte ab. »Heute nicht mehr«, sagte er matt. »Ich werde mich jetzt erst einmal ein paar Stunden hinlegen. Wenn wir Glück haben, ist Brad morgen wieder da, und dann können wir loslegen.«
Karla schlug auf den Tisch und beugte sich vor, um Winter direkt ins Gesicht zu sehen. »Hör zu, mein Junge«, sagte sie gefährlich leise, »wenn du meinst, mich herablassend behandeln zu dürfen, hast du dich geschnitten. Du bist ein arroganter, widerlicher, verkommener Irrer, und von deiner Sorte kenne ich mehr als genug. Wenn du versuchst, mit mir ein Wettpinkeln zu veranstalten, garantiere ich dir, dass du das Spiel verlieren wirst.«
Sie richtete sich auf, nahm ihren Rucksack und setzte kühl hinzu: »Wir sehen uns dann morgen um vierzehn Uhr, Herr Winter. Ich werde bei der MID ein Büro für uns reservieren. Danke, ich finde selbst hinaus.«
Vor der Tür machte sie sich durch ein paar Flüche Luft, zog ihr Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer und blickte mit zusammengekniffenen Augen in den dämmrigen Abendhimmel. Die Sonne war vor ein paar Minuten untergegangen. Also …
»Kit«, sagte sie, als der Anruf angenommen wurde, »ich bin gerade auf dem Weg nach Hause und dachte, ich könnte vielleicht bei dir vorbeikommen.« Sie lauschte der lakonischen Antwort und grinste. »Bis gleich.«