12. 19. 19. 03. 17.

 

Raoul blickte auf seine zitternden Finger, die das Kaffeepulver neben den Filter geschüttet hatten, als wären sie die eines Fremden. Das Zittern wurde stärker.

Mit einer achtsamen Bewegung setzte er die Kaffeedose ab und ließ sich auf den Stuhl sinken. Er legte beide Hände in den Schoß.

Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er gestern seinen Tag verbracht hatte. Vorgestern? Vor drei Tagen? Wenn der Kalender neben der Tür nicht log, dann fehlte ihm eine ganze Woche. Eine Woche, in der er mit Menschen gesprochen, gegessen, geschlafen, ein Leben gelebt hatte – und an die er sich nicht erinnern konnte. Vielleicht sollte er zufrieden damit sein, dass keine Leiche in seinem Kühlschrank lag, deren Herkunft er nicht kannte. Er sollte zufrieden damit sein, dass er zu Hause, in seinem Bett aufgewacht war – glücklicherweise allein – und nicht an einem Ort, der ihm fremd war. Das alles war schon vorgekommen.

Er atmete tief ein und aus und legte die Hände flach auf den Tisch. Zum Frühstück statt des Kaffees einen Whisky, dann waren seine Hände wieder ruhig. Noch funktionierte das. Noch.

Der Whisky tat seinen Dienst. Mit ruhigen Händen wählte Raoul Winter eine Nummer und tippte nervös auf dem Tisch herum.

Es knackte, und eine Stimme sagte: »Ja?«

»Tora-san, du hättest mich fragen sollen. Oder wenigstens vorwarnen«, sagte er ohne Begrüßung.

Die Frauenstimme am anderen Ende lachte tief und melodisch. Er hörte ein Feuerzeug. »Raoul, du sagst doch immer, dass du Überraschungen liebst.«

»Nicht diese Art von Überraschung«, erwiderte er knurrig. Seine Stimmung hatte sich in dem Moment aufgehellt, in dem er Toras Stimme hörte, aber er gedachte nicht, es ihr leicht zu machen. »Du weißt, dass ich nicht gerne mit der MID zusammenarbeite. Verdammte Bande von Bürokraten.«

Seine Gesprächspartnerin inhalierte und stieß den Atem wieder aus. Er sah die bläulichen Rauchwolken förmlich aus dem Hörer quellen. »Schatz, du wirst mir den Gefallen tun«, sagte sie.

Er verzog das Gesicht. Es musste mehr dahinterstecken als er auf den ersten Blick erkennen konnte. Tora wusste, dass er nicht ablehnen würde, wenn sie so mit ihm sprach.

»Du bist der Chef, Roshi«, antwortete er deshalb.

»Nenn mich nicht ›Roshi‹«, sagte sie. »Und ich bitte dich nur um einen Gefallen, Raoul. Es ist kein Befehl.«

Nun, genau genommen konnte sie ihm auch nichts befehlen. Er stand nicht auf den Soldlisten der Zentralen Magischen Aufklärung. Die ZMA könnte sich seine Dienste nicht leisten. Raoul lächelte schmal. »Also gut. Worum geht es?«

»Magistra van Zomeren wird dich heute oder morgen aufsuchen«, sagte sie. »Sie informiert dich über alles. Sei nicht böse, mein Junge, ich bin ein wenig in Eile.«

Er runzelte die Stirn. »Kennst du sie?«

»Sie hat einen Abschluss am Quantenmetaphysischen Institut in Freiburg und ist danach direkt zur Magisterischen Informationsdienststelle gegangen. Van Zomeren scheint eine fähige Beamtin zu sein, allerdings gibt es einen Vermerk, der sie als latente Lygophobikerin kennzeichnet. Ihr vorletzter Partner wurde von ihr verprügelt, der letzte liegt im Koma.«

Raoul verdrehte die Augen. Eine Absolventin des konservativen Magischen Instituts. Eine Weiße Hexe mit Angst vor Dunkler Magie. Also eine echte Hardliner-«Das Gleichgewicht muss gewahrt bleiben«-Hexe. Auch das noch.

»Raoul, ruf mich wieder an, wenn du mit ihr gesprochen hast.«

Raoul starrte noch eine Weile auf das Telefon. Dann legte er es mit einer sanften Bewegung auf den Tisch zurück und lehnte den Kopf an die Sessellehne. Tora war ganz offensichtlich beunruhigt. Was war los? Die Zentrale Magische Aufklärung war zwar notorisch unterbesetzt, aber für eine normale Ermittlung standen immer genügend Offiziere zur Verfügung. Wenn Tora ihn höchstpersönlich aktivierte, dann brannte Rom.

Das Telefon klingelte, als er sich gerade ins Bad zurückziehen wollte. Einen Moment lang war er versucht, es einfach klingeln zu lassen, aber dann ging er zurück und nahm ab.

»Herr Winter?«, sagte eine ihm unbekannte Frauenstimme. Sie klang misstrauisch. »Raoul Winter?«

»Am Apparat.«

»Karla van Zomeren. Ich bin …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie. Das war nicht sonderlich höflich, aber er fühlte sich nach der letzten Nacht schrecklich zerschlagen und war dementsprechend gereizt. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und unterdrückte ein angewidertes Stöhnen. Eine Dusche. Frische Kleider. Er musste dringend ein ernstes Wort mit Brad reden.

»… Ihnen das recht?«, hörte er noch, als er aus seinen Gedanken auftauchte, dann kam eine Pause.

»Äh, ja«, sagte er. Alles wäre ihm recht, wenn sie ihn dann nur in Ruhe ließ.

»Gut.« Sie wartete auf eine Antwort.

»Gut«, sagte Raoul. Er legte auf.

Last days on Earth: Thriller
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