12. 19. 19. 10. 17.
Raoul hockte auf der Tischkante und sah zu, wie Faustina ihre Messer schärfte. Das singende Geräusch des Wetzstahls hatte etwas Beruhigendes.
»Du siehst schrecklich aus«, sagte die Vampirin und musterte ihn streng. »Raoul, solltest du nicht besser darüber nachdenken, wie du diesen Demonio loswirst?«
Er schüttelte sacht den Kopf. »Ich kann ihn nicht loswerden. Und ich will es nicht.« Er legte die Hände um sein Knie. »Tina, was ist mit Karla? Kannst du ihr nicht helfen?«
Faustina griff zum nächsten Messer. »Nein«, sagte sie. »Karlas körperliche Veränderungen können wir nicht rückgängig machen. Sie will aber um keinen Preis zu uns gehören. Dieses Dilemma kann niemand für sie lösen.« Sie legte das Messer beiseite und wischte ihre Hände an einem Tuch ab. »Wenn du ihr helfen willst, Raoul, dann überzeuge sie davon, dass sie sich der vollständigen Verwandlung unterwirft.« Sie sah ihn beschwörend an. »Schau, wie gut es Nevio seitdem geht. Er hat sich auch so lange dagegen gesträubt, aber nun ist alles in Ordnung.«
»Das ist kein Weg für sie«, murmelte Raoul. »Sie ist durch und durch eine Weiße Hexe.«
»Nicht mehr.« Faustina hängte die Messer mit leisen Klackgeräuschen an eine breite Magnetleiste. »Der Weiße Zweig hat sie ausgestoßen. Sie kann dieses Feld nicht mehr anzapfen. Dieses morphische Ding, das die Hexen alle anbeten.«
Raoul stieß ein Ächzen aus. »Etwas Schlimmeres konnte man ihr nicht antun«, sagte er. In so einer Lage wäre er mit Sicherheit lange nicht so gefasst und gelassen wie Karla.
Ihr müdes, hoffnungsloses Gesicht gaukelte vor seinem inneren Blick. Gefasst? Gelassen? Wahrscheinlich eher resigniert und zu Tode erschöpft.
Faustina seufzte und legte ihre Schürze ab. »Raoul, kümmere dich um sie. Brad war keine gute Gesellschaft für jemanden, der so verletzt ist.«
Karla saß immer noch so da, wie er sie verlassen hatte. Der gequälte Gesichtsausdruck war einer friedlichen, entspannten Miene gewichen. Sie schien zu schlafen. Raoul blieb unschlüssig neben ihr stehen. Er wollte sie nicht aufwecken.
Während er noch überlegte, seufzte sie leise und schlug die Augen auf. Ihr Blick aus verhangenen grauen Augen traf sein Gesicht. Sie lächelte. »Raoul«, sagte sie. »Einen Augenblick lang hatte ich befürchtet, ich hätte alles nur geträumt. Aber du bist es wirklich. Was machen wir jetzt?«
Er reichte ihr die Hand und half ihr auf. »Feierabend«, sagte er. »Morgen erzählst du mir alles, was ihr beide ausgeheckt habt – aber heute kann ich nicht mehr denken.«
Er fuhr langsam durch die nächtliche Stadt. Das orangefarbene Licht der Straßenbeleuchtung ließ Karlas Gesicht weicher und weniger blass erscheinen. Sie starrte in die Dunkelheit, die sich jenseits der Lampen ausbreitete. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, ihnen das Handwerk zu legen«, sagte sie unvermittelt.
»Den Vampiren? Perfido?«, fragte Raoul verständnislos.
Karla sah ihn verblüfft an. »Was? Nein, aber nein. Santo und seine Geschäfte, das ist ein Ding für sich.« Sie zuckte die Achseln. »Ich stehe nicht auf seiner Lohnliste, falls du das befürchtest. Habe seinen Ring noch nicht geküsst. So weit runter bin ich noch nicht.« Ihre Miene war grimmig. »Nein, ich rede von den Drachen und ihren Weltuntergangsplänen.« Sie blickte wieder hinaus. Raoul konnte aus dem Augenwinkel erkennen, dass sie den Kopf drehte und dann in den Rückspiegel sah. »Wir werden übrigens verfolgt«, bemerkte sie ruhig.
Raoul folgte ihrem Blick. Weit hinter ihnen waren die Scheinwerfer eines Autos zu sehen, sonst war die Straße leer.
»Warum denkst du, dass er uns verfolgt?«
Karla sah zum Seitenfenster hinaus. »Ich weiß es. Er folgt uns, seit wir ins Auto gestiegen sind. Der Wagen stand vor Nevios Restaurant.«
Raoul kniff die Augen zusammen, aber im Rückspiegel waren nur die beiden aufgeblendeten Scheinwerfer zu erkennen. »Du musst bessere Augen haben als ich«, sagte er.
»Habe ich«, erwiderte sie kurz. »Drei Insassen, einer davon ist ein Mensch. Die anderen – keine Ahnung.« Sie öffnete ihren Rucksack und wühlte darin herum. »Bist du bewaffnet?«
»Nur mit meinen Händen und dem Stab.« Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. »Du?«
Sie fauchte erbost. »Sie haben mir alles abgenommen. Ich werde dir keine große Hilfe sein, falls sie uns überfallen wollen.« Sie zog einen Drudenfuß aus einer Seitentasche des Rucksacks und hängte ihn um. »Meine Kräfte sind nicht mehr der Rede wert«, sagte sie, »aber ich kann sie hiermit wenigstens noch ein bisschen verstärken.«
»Sind wir jemandem auf die Füße getreten?« Raoul entschied, einen Umweg zu machen. Vielleicht war es nur ein Zufall, dass der Wagen ihnen folgte.
»Das da hinten sind keine Drachen«, erwiderte Karla. »Oder hast du schon mal einen von ihnen in einem Pkw gesehen?«
»Du vergisst den Bücherdieb«, erinnerte Raoul und bog erneut ab. Die Scheinwerfer folgten ihnen immer noch. »Das war kein Drache. Du erinnerst dich, dass die Spürhündin ihn als Wirt erkannt hat?«
Karla schloss die Hand um den Drudenfuß. »Ein Handlanger«, überlegte sie. »Ein Mietgangster. Davon gibt es jede Menge.«
»Der für einen Drachen arbeitet?« Raoul grunzte. »Es wäre möglich.« Jetzt waren sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt. Der Verfolger war weg.
»Nein, er ist noch hinter uns«, hörte Raoul Karla flüstern. »Er wartet.«
»Gut.« Raoul trat aufs Gas und fuhr nun geradewegs das letzte Stück zur Wohnung. Er ließ den Jaguar in eine Parklücke gleiten und stellte den Motor ab. »Und jetzt?«
»Wir steigen aus. Im Schatten hinter der Laterne bleiben wir stehen, und du tust so, als könntest du den Hausschlüssel nicht finden. Wir sind beide angetrunken.« Er konnte ihre Zähne im Dunkeln schimmern sehen. »Vielleicht fummeln wir auch ein bisschen. Je abgelenkter wir wirken, desto besser. Und dann sehen wir, was passiert.«
Raoul nickte mit einem flauen Gefühl im Magen. Was auch immer mit Karla in den letzten Monaten geschehen sein mochte – es hatte ihr nicht den Schneid abgekauft.
Sie stiegen aus. Raoul schwankte weisungsgemäß um den Wagen herum und half Karla beim Aussteigen. Sie lachte laut und hängte sich an seinen Arm. »Vermeide das Licht«, wisperte sie. »Ich möchte nicht, dass wir ein Ziel abgeben.«
Raoul spürte mehr, als er es sah, dass der andere Wagen ein Stück die Straße hinunter mit abgeblendeten Scheinwerfern angehalten hatte. Er umklammerte seinen Stab. Innerhalb einer Nanosekunde konnte er die Sigille aktivieren, die jede Form von physischem Angriff abwehrte. Er verstaute das Zeichen in einem Winkel seines Nicht-Bewusstseins und vergaß es.
Sie überquerten die Straße und traten ein Stück hinter der Laterne wieder auf den Bürgersteig. Dort blieben sie stehen. Raoul konnte über Karlas Schultern hinweg die dunkle Silhouette ihres Verfolgers erkennen. Er flüsterte »Nichts bewegt sich« in ihr Ohr und umarmte sie dabei mit gespielter Leidenschaft.
Mit nur teilweise gespielter Leidenschaft, wie er sich eingestehen musste. Sie roch gut. Sie fühlte sich gut an. Sein Körper reagierte mit unerwarteter Heftigkeit auf ihre Nähe.
»Nun küss mich schon«, befahl sie laut und schickte ein betrunken klingendes Kichern hinterher.
Er beugte sich vor und küsste sie. Einige versunkene Augenblicke lang vergaß er, dass sie eigentlich den Köder für ihre Verfolger spielten und genoss das Gefühl der weichen, sanften Lippen, die seinen Kuss erwiderten.
Dann spürte er, wie Karla sich in seinen Armen versteifte. »Sie kommen«, hauchte sie. »Kannst du etwas erkennen?«
Ohne den Kopf zu heben, blickte er auf. Durch die Dunkelheit zwischen den Straßenlaternen bewegten sich Gestalten mit lautloser Vorsicht auf sie zu.
»Zwei«, flüsterte Raoul.
Karla löste ihren Griff um seine Hüfte. Er spürte, wie sie nach ihrem Drudenfuß tastete. »Der Mensch ist links von dir«, sagte sie leise. »Das andere ist ein Untoter.«
Er ließ die Lider gesenkt. In seinem Nicht-Bewusstsein glühte die vorbereitete Sigille, wartete darauf, dass er sie losließ. Er schenkte ihr keinerlei Beachtung, lenkte seinen Willen von ihr ab. Lauschte.
Die schattenhaften Gestalten kamen näher. Und näher. Karla stöhnte, murmelte und flüsterte und wand sich in seinen Armen. Raoul hatte Mühe, sich zu konzentrieren.
Dann waren die beiden Männer neben ihnen, und der Untote streckte den Arm aus. In seiner Hand schimmerte Metall. »Magier«, sagte er scharf. »Lass die Braut los! Ich will deine Hände sehen.«
Raoul tat erschreckt, machte einen Satz zurück, was ihn in die Nähe des anderen Mannes brachte, und stammelte: »Was denn? Das muss eine Verwechslung …«
Karla kreischte schrill und fuchtelte scheinbar panisch mit den Händen. Der Mann mit der Waffe fluchte und versuchte, sie beiseitezuschieben, weil sie ihm den Weg versperrte. Raoul war inzwischen rückwärts gegen den zweiten Mann geprallt, hatte ihm den Ellbogen in den Leib gestoßen und ihn zum Wanken gebracht.
»Pass auf die Beißerbraut auf«, sagte eine dumpf klingende Stimme hinter Raouls Rücken. Der Wankende fing sich und griff nach Raouls Arm.
Der andere drehte sich hastig um, denn Karla hatte inzwischen einen Bindezauber gewirkt. Raoul sah, wie das schwach schimmernde Geflecht des Zaubers sich über den Mann senkte. Der machte eine heftige Handbewegung, und das Netz zerriss. Der Angreifer fluchte und schlug zu. Karla versuchte, dem Schlag auszuweichen, aber die Faust des Mannes streifte ihre Schläfe. Sie geriet ins Taumeln und brach betäubt zusammen.
Die Pranken, die Raoul gepackt hielten, waren zu stark, es gelang ihm nicht, ihren Griff mit körperlicher Kraft zu brechen. Er trat nach hinten aus, traf irgendeinen Körperteil und nutzte die Ablenkung, um die vorbereitete Sigille freizulassen.
Einen Moment lang verstummten alle Geräusche. Eine Glocke aus Stille und Reglosigkeit senkte sich über die Straße, fror alles bis hin zu dem dunklen Verfolgerauto ein.
Das Zeichen leuchtete in Raouls Augen und ließ die beiden Angreifer erstarren. Raoul riss sich mit einem Stöhnen los, drehte seinem Angreifer den Arm auf den Rücken und zwang ihn zu Boden. Eine zweite Sigille, die er für Notfälle in einem Winkel seines Nicht-Bewusstseins vergessen hatte, band ihn und nagelte ihn auf dem Gehweg fest.
Der Untote regte sich. Er hob den Kopf, schüttelte ihn benommen. Sein Blick suchte und fand Raoul. Er hob langsam, wie gegen einen starken Widerstand, die Waffe, zielte und schoss. Raoul, der sich nach seinem auf den Boden gefallenen Stab bückte, konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren. Karla, die gerade wieder auf die Beine kam, schrie und warf einen Zauber gegen die Hand des Mannes. Auch dieser Spruch war zu schwach, um etwas Großes zu bewegen, aber er reichte aus, dass seine Hand die Waffe ein wenig verriss.
Ein Hammer schlug gegen Raouls Schulter und warf ihn zurück. Der Mündungsblitz blendete ihn und ließ Nachbilder auf seiner Netzhaut tanzen.
Der Schmerz kam mit Verspätung – heiß wie kochende Lava, reißend wie der Biss eines Wolfs. Raoul keuchte und ging in die Knie.
Karla schrie wie eine Furie und sprang den Untoten mit der Pistole an. Er ging unter ihrem Ansturm zu Boden, knallte mit dem Kopf auf den Gehweg und blieb betäubt liegen. Raoul sah die gebleckten Zähne, die spitzen, behaarten Ohren, die scharfen Nägel – ein Wurdelak. Wie kam der hierher? Vertretern dieser Art begegnete man doch sonst nur im Osten Europas …
Er biss die Zähne zusammen und ignorierte den Schmerz in seiner Schulter. Mit der Hand seines unverletzten Armes griff er in die Jacke des Mannes und durchsuchte ihn hastig.
Karla, die das Gleiche mit dem bewusstlosen Wurdelak getan hatte, kam an seine Seite. »Lass mich«, sagte sie. »Verdammt, er hat dich getroffen!« Ihr schuldbewusster Blick schmerzte Raoul wie ein Schlag.
»Du konntest nichts tun«, sagte er. Und stöhnte unterdrückt, weil die Bewegung den Schmerz aufflammen ließ.
»Wie lange hält der Bann?«, fragte Karla.
»Keine Ahnung«, erwiderte Raoul und tastete nach einem Halt. »Spätestens, wenn ich umkippe, ist er frei.«
Karla packte ihn um die Taille. »Stütz dich auf mich«, befahl sie. »Ins Haus.«
»Krankenhaus?«, fragte Raoul. Seine Knie gaben nach. Der Ärmel seiner Jacke war nass, und er fühlte, wie Blut an seinen Fingern heruntertropfte. Er kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit. Da war noch etwas, das er aus den Augen verloren hatte …
»Ins Haus«, wiederholte Karla. »Da ist noch der dritte Mann. Im Wagen. Sobald der Bann erlischt …«
Hinter ihnen flammten Scheinwerfer auf, ein Motor heulte. Karla packte fest zu, schleppte Raoul zur Haustür. Er ließ den Schlüssel fallen, aber sie fing ihn auf, rammte ihn ins Schloss, stieß die Tür auf, dass sie gegen die Wand knallte, zerrte Raoul über die Schwelle und warf sich gegen die Tür, um sie zu schließen.
Eine Gewehrsalve erschütterte das Türblatt und rollte donnernd durch den Hausflur. Dann quietschten Reifen, ein Auto entfernte sich mit heulendem Motor. Karla hatte sich flach auf den Boden fallen lassen und schützte ihren Kopf mit den Händen.
»Stahlverstärkt«, murmelte Raoul. »Keine Sorge, da geht nichts dur…«