12. 19. 19. 04. 00.
Er stand am Waschbecken und sah zu, wie rötlich gefärbtes Wasser gurgelnd in den Abfluss lief. Seine Hände brannten vor Kälte. Die Nagelbürste, die auf der Seifenschale lag, trug rote Spuren.
Wie war er nach Hause gekommen? Er steckte in seinem Bademantel. Die Kleider, die er am Abend getragen hatte, lagen in einem unordentlichen Haufen in der Ecke des Badezimmers. Das Hemd lag obenauf, und er konnte Blutspritzer darauf erkennen.
Raoul atmete tief ein und schüttelte benommen den Kopf. Dann hob er den Blick und sah in den Spiegel.
Hallo, Raoul.
Das vertraute Grinsen. Die spöttisch funkelnden Augen. Blut am Kinn. Jetzt fuhr die Zunge aus dem Mund und leckte es ab.
»Hallo, Brad. Wo bist du so lange gewesen?«
Hier und da. Achselzucken.
»Was ist geschehen? Ich erinnere mich an einen Dhampir …«
Erneutes Achselzucken. Unwichtig. Wir haben Arbeit. Trockne dich ab.
Raoul folgte der Anweisung, ohne weiter nachzudenken. Was geschehen war, war geschehen. Brad konnte auf sich – und ihn – aufpassen.
Er warf das nasse Handtuch auf die Kleider und ging ins Arbeitszimmer. Es war dunkel, die Morgendämmerung noch ein paar Stunden entfernt. Er setzte sich an den Schreibtisch, legte die Füße auf die Platte und lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sessels. Seine Hand griff zur Fernbedienung der Stereoanlage. Wenig später donnerte ein Wagnerorchester aus den Lautsprechern und ließ die Fensterscheiben klirren. Morgen würde er sich wieder die Beschwerden seiner Mieter anhören dürfen.
Können ja ausziehen, wenn ihnen das nicht passt. Brad lachte und drehte die Lautstärke noch ein wenig auf.
Raoul war zu müde zum Streiten. »An die Arbeit«, sagte er.
Ich habe deine neue Partnerin getroffen. Lecker.
»Hör auf damit. Sichte die Unterlagen der MID und die Informationen, die Tora mir heute Abend gegeben hat.«
Uh. Die böse alte Hexe. Brad lachte.
»Keine Hexe.« Raouls Augen schlossen sich. Er schlief ein.
Und erwachte in seinem Bett, mit brummendem Schädel und Lidern, die Tonnen wogen. Er setzte sich auf, blieb eine Weile auf der Bettkante sitzen, untersuchte mit vorsichtigen geistigen Fingern sein Bewusstsein.
Brad war da, er konnte ihn spüren. Wie ein heißer, schwerer Brocken Urgestein lag er zusammengerollt und ruhte. Raoul wusste bis heute nicht, ob Daimonen schliefen, aber er kannte diese Ruheperioden, die dem sehr nah zu kommen schienen. Wenn Brad eine große Menge an Informationen hatte verarbeiten müssen, dann lag er manchmal drei Tage am Stück so da, kaum ansprechbar, knurrig, einsilbig.
Raoul stand auf und hielt sich einen Moment lang am Bettpfosten fest. Er war so unsicher und schwindelig auf den Beinen, als hätte er eine ausgedehnte Sauftour hinter sich. Was hatte Brad in den wenigen Stunden der Nacht und des Vormittags noch getrieben?
Nach einer ausgiebigen Dusche lichtete sich der Nebel in seinem Kopf. Er ging in die Küche und bereitete sich einen extra starken Mokka zu. Dann schob er zwei Scheiben Brot in den Toaster und überflog die oberste der Zeitungen, die auf der Spülmaschine lagen. Brad liebte Zeitungen.
Der Toast sprang aus dem Schlitz, und Raoul bestrich ihn mit Butter. Er nahm Kaffee und Toast mit ins Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Was hatte Brad ihm an Material bereitgestellt?
Er trank mit geschlossenen Augen seinen Kaffee und sichtete seinen Gedächtnisinhalt. Da war die komplette MID-Akte und zusätzlich alles, was aus Brads Wissensspeicher der letzten Monate stammte. Zeitungsmeldungen, Gerüchte, ungesicherte Berichte aus dem Netzwerk der Daimonen.
Dann der Block mit Toras Material. Raoul knurrte leise und biss in seinen Toast. Die MID hatte ihre Magistra nur unzureichend informiert. Es ging also nicht nur um Diebstähle. Es waren Menschen gestorben, und die Umstände ihres Todes waren ungewöhnlich.
Die Türklingel riss ihn aus der Konzentration. Er öffnete widerwillig die Augen und ging zur Tür.
»Ja, bitte?«, knurrte er in die Sprechanlage.
»Karla van Zomeren. Darf ich Sie kurz stören?«
Er schüttelte seine Verblüffung ab und drückte auf den Türknopf. »Kommen Sie rauf.«
Raoul ging in die Küche und stellte eine frische Tasse unter den Kaffeeautomaten. Er sah an sich herab. Morgenmantel und eine ausgefranste Hose. Nicht gerade die perfekte Garderobe, um einen Gast zu empfangen. Aber er hatte keine Lust, sich anzukleiden. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare, band seinen Pferdeschwanz neu und ging zur Tür.
Karla sah so übernächtigt aus, wie er sich fühlte. Sie warf einen Seitenblick auf sein Räuberzivil, und ihre Mundwinkel zuckten. »Habe ich Sie aus dem Bett geholt? Das tut mir leid.«
»Kein Problem«, sagte er. »Kaffee?« Er hielt ihr die Tasse hin.
»Darf ich mich setzen?«
Er zuckte die Schultern und wies auf die Tür zum Wohnzimmer.
Karla ging voraus. Er hörte sie lachen. Dann folgte er ihr und sah den vollgestellten Tisch und den ohne Ton laufenden Fernseher (ein Nachrichtenkanal). Neben dem Sessel standen leere Flaschen, auf der Armlehne ein überquellender Aschenbecher (Brad rauchte wie ein Schlot, darin war er Tora ähnlich), auf dem Tisch lagen zwischen Zeitungen und zerknüllten Chipstüten die Reste eines chinesischen Take-away-Essens und ein umgekipptes Glas, aus dem Rotwein auf den Teppich geflossen war.
Raoul seufzte. Das erklärte seinen Brummschädel.
»War es eine nette Party?«, fragte Karla süffisant.
Raoul knurrte und machte den Fernseher aus. »Setzen Sie sich«, sagte er schroff. »Was wollen Sie von mir?«
Karla wählte die breite Ottomane, die vor dem Fenster stand, und ließ sich mit einem kleinen Schnaufen hineinsinken. »Der Kaffee ist gut«, sagte sie in versöhnlichem Ton. »Und danke, dass Sie Zeit für mich haben.«
Er nickte steif und setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel.
Karla starrte in ihre Tasse, als wollte sie aus dem Kaffeesatz lesen. »Ich brauche jemanden, der sich auf der dunklen Seite auskennt«, sagte sie unvermittelt. »Vor ein paar Wochen hätte ich in so einem Fall Fokko angerufen, aber …« Sie sah auf und begegnete seinem Blick. »Wir sind Partner«, sagte sie, und es klang defensiv und ein wenig wütend. »Ich brauche einen Rat. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir uns bis zu einem gewissen Grad auch vertrauen können …« Ihre Stimme verklang. Ihr Mienenspiel zeigte Abwehr, Zorn, Misstrauen, Ratlosigkeit.
Als Raoul nichts erwiderte, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, stellte sie ihre Tasse mit einem Knall auf den Tisch und stand auf. »Es war eine dumme Idee. Entschuldigen Sie die Störung.«
Er sprang auf und hielt sie fest. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte er. »Ich bin es nicht mehr gewöhnt, mit jemandem zusammenzuarbeiten. Meine Manieren sind wohl nicht die besten.« Er lächelte, und das schien sie zu überraschen. Sie blinzelte zweimal, nickte dann kurz und wortlos.
Er schob sie wieder auf die Ottomane. »Es ist gut, dass Sie da sind«, sagte er. »Ich habe einige neue Informationen über unseren Fall, die Sie interessieren werden. Aber zuerst sind Sie an der Reihe.«
Karla blickte unschlüssig auf ihre Tasse. Dann hob sie den Kopf, atmete tief ein und sagte: »In Ordnung. Könnte ich vorher noch einen Kaffee bekommen?«