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Der einsetzende Herbst brachte nur tote Spuren, frustrierende Recherche und langweilige Materialsichtungen mit sich. Sie wussten nicht, warum dieser Mann ihnen ein Killerkommando auf den Hals gehetzt und wer ihn dann ermordet hatte.

Der Zentralen Magischen Aufklärung war es immerhin gelungen, die Identität des Ermordeten herauszufinden, aber damit war der Fall zu den anderen ungeklärten Fällen ins Archiv gewandert. Es gab Wichtigeres, als den Mord an einem unbedeutenden Dealer, Schmuggler und Glücksspieler zu klären.

Am Tag des Balls saßen sie in Raouls Arbeitszimmer und kauten zum x-ten Mal die Fakten durch. Karla kritzelte ein Blatt Papier voll und starrte zwischendurch geistesabwesend aus dem Fenster. Raoul, der einen Stapel Notizen vor sich liegen hatte, die er akribisch durchging, räusperte sich gereizt. »Noch mal zurück zu deinem Informanten«, sagte er unvermittelt. »Wo hast du ihn kennengelernt?«

Karla gähnte. Sie rieb sich über die Augen, fuhr mit beiden Händen durch die Haare und streckte sich. »Sonny? Einer unserer V-Kobolde hat mir den Tipp gegeben.«

»Hm«, machte Raoul unzufrieden und hakte etwas ab.

Karla stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah ihn an. »Das hast du mich jetzt schon dreimal gefragt, Langer«, sagte sie. »Was ist los? Altersbedingte Ausfallerscheinungen?«

Raoul erwiderte ihren Blick nicht. Mit finsterer Miene sortierte er weiter die Notizen vor sich. Karla wartete.

Schließlich seufzte sie und lehnte sich zurück, um wieder aus dem Fenster zu blicken. Ihre Finger schabten sacht über die Narben ihrer Armbeuge. Es war Zeit. Morgen, spätestens übermorgen war ein Termin mit Maurizio fällig. »Wenn das Gespräch mit Felsenstein auch nichts bringt, steige ich aus«, sagte sie. »Wir vergeuden unsere Zeit.«

Raoul hob den Kopf. »Und der Weltuntergang?«

Karla verzog das Gesicht. »Manchmal frage ich mich, ob wir einem Hirngespinst nachjagen. Erinnerst du dich an all die Katastrophen, die zum Jahrtausendwechsel über uns hereinbrechen sollten? Das morphische Feld war damals so stark, dass die Zahl der Vulkanausbrüche, Erdbeben, Stürme und technischen Katastrophen wirklich messbar angestiegen ist. Als die Welt dann nicht unterging, war alles wieder friedlich.«

Raoul starrte sie an. »Das war etwas völlig anderes. Du selbst hast mich davon überzeugt, dass dieses Ding hier schon seit Jahrzehnten vorbereitet wird.« Er griff nach einem der Ordner, schlug ihn auf und hielt ihn Karla unter die Nase. »Da. Die neuesten Meldungen. Ein Hurrican hätte um Haaresbreite New York zerstört. Wenn die vereinigten Hexen und Magier der USA sich nicht an der Ostküste versammelt und dafür gesorgt hätten, dass das Ding abdreht, dann wäre die Apokalypse dort schon heute Vergangenheit. In Paris brennen die Banlieues, Vandalen haben den Louvre gestürmt und unschätzbare Werte vernichtet. Rund um den Globus geht die Post ab. In den USA muss inzwischen das Militär der Polizei beistehen, damit sie die Ausschreitungen in den Griff bekommen. Russland hat seine Grenzen geschlossen und Italien vor ein paar Stunden den Ausnahmezustand ausgerufen!«

Karla wandte den Blick ab. »Ja, sicher«, sagte sie müde. »Raoul, ich weiß einfach nicht weiter. Mein Konto ist leer, ich bin nach wie vor ohne Job und müsste mich dringend um mein Leben kümmern.«

»Na, dann freu dich doch. Wahrscheinlich brauchst du dir über das nächste Jahr keine Gedanken mehr zu machen«, knurrte Raoul und warf den Ordner auf den Tisch. Er sprang auf und ging hinaus.

Bis zum Abend gingen sie einander aus dem Weg. Karla lag auf ihrem Bett und ließ die Gedanken wandern. Es war still unter dem Dach. Die kaum jemals abreißende Geräuschkulisse des Autoverkehrs nahm sie schon seit Jahren nicht mehr bewusst wahr. Auf dem Dach kratzten Vogelfüße, eine Taube gurrte. Auf dem Speicher nebenan raschelte etwas – Mäuse? –, und gelegentlich hörte Karla, dass etwas leise summte oder klickte. Sie versuchte, das Geräusch einzuordnen, aber noch während sie darüber nachdachte, schlief sie ein.

Es war dunkel im Zimmer, als die Türklingel sie weckte. Sie fuhr hoch, einen Augenblick lang orientierungslos. »Ja?«, rief sie und kämpfte sich hoch. »Was ist?«

»Bist du angezogen?«, kam gedämpft die Antwort.

Karla hockte auf der Bettkante und schüttelte die Benommenheit ab. »Wie viel Uhr ist es?« Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Tür. Raoul stand im Flurlicht, und Karla starrte ihn benommen an. »Wow!«, sagte sie dann. »Ich bin geblendet. Treten Sie ein, edler Magus.«

Raoul ließ das Monokel aus dem Auge fallen, klemmte den Zylinder in die Armbeuge und grinste. »Du siehst auch entzückend aus, Holdeste. Aber ich fürchte, der gestrenge Horace wird dich so nicht einlassen.« Er bürstete mit einer affektierten Handbewegung über das seidenglänzende Revers seines Fracks und rümpfte die Nase.

Karla lachte und winkte ihm, er solle sich setzen. Sie verschwand im Bad. »Ich hab verschlafen«, rief sie. »Aber keine Sorge, ich bin schnell.«

»Das hoffe ich.« Sie hörte, wie Raouls Stab gegen ein Möbelbein klopfte. »Ein wenig Verspätung ist aber in Ordnung, dann erzielen wir den gewünschten großen Auftritt.«

Karla pfiff vor sich hin, während sie sich ankleidete und frisierte. »Raoul?«, rief sie. »Seit wann trägst du Augengläser?«

Sie hörte sein tiefes Lachen. »Eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Das Monokel ist aus Elfenkristall.«

Karla löschte das Licht im Bad und trat ins Wohnzimmer. Raoul stand neben der Tür und sah ihr entgegen. Er machte eine großartige Figur im Frack. Sein sauber gestutzter schwarzer Bart glänzte über der blendend weißen Hemdbrust, die Weste saß ohne ein Fältchen, er trug Handschuhe und auf Hochglanz polierte Lackschuhe. Wenn er einen Umhang getragen hätte, wäre der Bilderbuchmagier perfekt gewesen.

Sein Blick ruhte dunkel und glühend auf ihr. »Du siehst hinreißend aus«, sagte Raoul und machte einen Schritt auf sie zu, um ihre Hand an seine Lippen zu heben.

»Du auch«, erwiderte sie.

An der Tür fiel Karla ein, dass sie etwas vergessen hatte. »Unsere Eintrittskarte«, rief sie. »Raoul, das Collier!«

Er grinste, hob seinen Zylinder, zeigte ihr, dass er leer war, drehte ihn um, klopfte mit dem Stab dagegen und die glitzernde Halskette fiel in Karlas Hände. »Du bist ein Spinner«, schimpfte sie.

Raoul nahm das Collier an sich und legte es ihr an. »Jetzt aber los«, sagte er. »Die Kutsche wartet.«

»Elfenkristall«, sagte Karla. Sie hatten auf der Fahrt ihr Vorgehen besprochen, sie würden weitgehend improvisieren müssen. Keiner von ihnen wusste, wie dieser Norxis von Felsenstein auf sie reagieren würde.

»Ja?«, fragte Raoul und schloss den Jaguar ab. Er öffnete den Kofferraum und zog ein weißgefüttertes Cape heraus, das er sich um die Schultern legte, und komplettierte das Ganze mit einem weißen Seidenschal. Karla gluckste.

Er folgte ihrem Blick und hob eine Braue. »Wenn schon theatralisch, dann richtig.«

»Das machst du nur, damit Horace sich freut.«

»Richtig.« Er reichte ihr den Arm. »Was wolltest du wissen?« Er klemmte das Monokel ins Auge und sah sie starr an.

»Das Ding da. Was bewirkt es?«

Er ließ es fallen und rief den Aufzug. »Ich möchte keine unliebsame Überraschung erleben. Wenn jemand eine Waffe trägt, werde ich es erkennen.«

Karla folgte ihm in die Kabine. Die Tür glitt zu. »Eine Waffe? Auf einer Gesellschaft, die dein Freund gibt?«

Raoul reckte das Kinn. »Das habe ich alles schon erlebt. Beim letzten Mal hat Brad mich gerade noch retten können. Ein Typ, der mir einen längeren Gefängnisaufenthalt zu verdanken hat, hatte seine Freundin unter das Personal geschmuggelt, und die ist mit einem Basilisken auf mich losgegangen.«

»Uh«, machte Karla angewidert.

Die Tür glitt auf, und Horace empfing sie. Er wünschte ihnen einen guten Abend und nahm Raoul das Cape, den Zylinder, den Seidenschal und die Handschuhe ab. Karla glaubte, einen zufriedenen Schimmer in den Augen des Butlers zu erkennen.

Ein livrierter Diener geleitete sie stumm zum Ballsaal. Die Flügeltüren standen weit offen, und von drinnen war Musik und Gelächter zu hören. Karla blieb an der Tür stehen und orientierte sich. Kein zweiter Ausgang. Die großen Fenster waren mit Vorhängen geschlossen, eins oder mehrere von ihnen schienen aber offen zu stehen, denn ein leichter Luftzug brachte den Geruch von Regen mit.

Es waren vielleicht achtzig Gäste anwesend, die zwischen Tischen und einem mit Kerzen illuminierten Buffet standen und plauderten. Karla war geblendet von all dem Glanz, der von ihnen und der Einrichtung ausging. Sie war Quass dankbar, dass er ihr das Collier geliehen hatte. Beim Anblick der Geschmeide, die die anwesenden Damen um Hals, Finger und Handgelenk trugen, hätte einen Juwelendieb wahrscheinlich der Schlag getroffen. Sie drehte sich zu Raoul, doch sein Blick ließ sie verstummen. »Was ist?«, fragte sie leise.

Ein kaum wahrnehmbares Knurren drang aus seiner Kehle. »Kannst du es nicht sehen?«

»Würde ich dann fragen?«, erwiderte sie gereizt.

Er drehte sich, sodass er sie vor dem Saal abschirmte, und reichte ihr sein Monokel. »Schau es dir an.«

Karla hob das Glas ans Auge und warf einen Blick an seiner Schulter vorbei auf die Gäste. Sie schnappte nach Luft.

»Drachen«, flüsterte sie. »Sie sind allesamt Drachen!«

Sie gab ihm hastig das Monokel zurück und sah wieder hin. Natürlich. Wieso hatte sie das beim Eintreten nicht bemerkt? Wahrscheinlich hatte das Gefunkel der alles überstrahlenden Edelsteine sie zu sehr abgelenkt.

»Da kommt Quass«, sagte Raoul erleichtert.

Ein großer, kräftig gebauter Mann mit grauer Lockenmähne und aristokratischem Löwengesicht steuerte auf sie zu. Karla warf einen hastigen Blick zu Raoul. Das war Quass von Deyen?

»Frau van Zomeren«, sagte der Mann mit der Samtstimme des Drachen. Er verbeugte sich und gab ihr einen formvollendeten Handkuss. »Ich freue mich, dass Sie meiner kleinen Gesellschaft das Glanzlicht aufsetzen! Darf ich Ihnen ein Kompliment für Ihre Garderobe aussprechen? Und Sie besitzen wirklich Geschmack, was Ihre Schmuckauswahl angeht.«

»Herr von Deyen«, erwiderte Karla gefasst, »Danke für die Einladung – und die freundliche Leihgabe.«

Der Drache neigte kurz den Kopf, dann wandte er sich Raoul zu und gab ihm die Hand. »Formvollendet, mein Freund«, sagte er. »Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen.« Er beugte sich ein wenig vor und murmelte: »Norxis ist noch nicht eingetroffen, aber er kommt noch. Er wird es nicht wagen, mich vor den Kopf zu stoßen. Schon gar nicht, wenn der gesamte Dragons Club versammelt ist.« Er lächelte. »Er will mir den Vorsitz abspenstig machen. Dafür muss er solche Gelegenheiten wie heute nutzen.«

»Alter Intrigant«, erwiderte Raoul herzlich.

»Ich – oder er?« Der Drache legte seine Hand auf Raouls Arm und drehte sich zum Saal. »Kommt, ich stelle euch vor.«

Last days on Earth: Thriller
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