12. 19. 19. 11. 02.
Karla wusste, dass Raoul die Gelegenheit nutzen würde, wenn sie ihn um Hilfe bat, sich aus dem Kleid zu schälen. Der Ausdruck, mit dem er sie während der Anprobe angesehen hatte, bot wenig Interpretationsspielraum. Einen Moment lang hatte sie gezögert, aber dann ihre Bedenken beiseitegeschoben. Raoul stand hinter ihr. Seine Hände berührten ihre Schultern und glitten dann auf der Suche nach dem Reißverschluss an ihrer Hüfte hinunter. Karla lehnte sich erwartungsvoll ein wenig zurück. Einen Atemzug lang berührten sich ihre Körper, dann spürte Karla, wie Raouls Finger den Reißverschluss packten und öffneten. Das Kleid glitt raschelnd an ihr herab und fiel auf ihre Füße. Sie drehte sich um, hob die Arme, um Raoul zu umarmen, aber er trat im gleichen Moment einen Schritt zurück und murmelte: »Bitte.«
Karla sah ihn erstaunt und ein wenig verletzt an und kreuzte die Arme vor der Brust. »Danke«, erwiderte sie kühl.
Er nickte steif und wandte sich zur Tür. »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte er. »Lege mich ein wenig hin.« Die Tür schlug hinter ihm zu.
Karla stand da und schwankte zwischen Zorn, Kränkung und Erleichterung. Dann hängte sie das Kleid auf und begann die neue Wohnung zu beziehen.
Eine Stunde später stand sie in Raouls Küche und suchte nach einem kalten Getränk. Aus dem Badezimmer drang das Rauschen von Wasser, und im Arbeitszimmer begann das Telefon zu klingeln.
Raoul kam aus der Dusche, als sie gerade den Hörer auflegte. Karla grinste ihn an und hob den Daumen. »Sonny hat möglicherweise den Auftraggeber des Wurdelaks aufgespürt.«
Raoul schüttelte das Wasser aus seinem Ohr. »Guter Mann«, sagte er. Karla sah, dass sein Blick glasig wurde. Brad war in der Leitung.
Karla wartete, ob sie eingreifen musste, aber nach einigen Atemzügen klärte sich Raouls Blick, und er begann zu lachen. »Brad auch«, sagte er. »Dann finden wir mal heraus, wer von beiden recht hat.«
Karla breitete schon den Stadtplan aus und fuhr mit dem Finger darüber. »Hier, irgendwo im Gewerbegebiet am Hafen.« Sie kniff die Augen zusammen. »Die Straßennamen kenne ich alle nicht. Da verschlägt es einen ja nie hin.«
Raoul sah ihr über die Schulter. »Betriebsgelände, Lagerhallen, Containerflächen, stillgelegte Firmen …« Er runzelte die Stirn. »Brad?« Seine Hand fuhr in ziellosen Kreisen über den Plan und landete auf einem Punkt im Hafen. Raoul sah Karla fragend an. Sie nickte.
»Dann los.« Er stand schon an der Tür, sichtete den Inhalt seiner Tasche und griff nach seinem Stab.
Es war schon dunkel, als sie das Gewerbegebiet erreichten. Tagsüber herrschte hier reger Verkehr – Lastwagen, Arbeiter, Lieferanten – aber nach Feierabend war dieser Ort menschenleer.
Sie parkten irgendwo im Gelände und stiegen aus. Sie gingen schweigend die Straße hinunter. Rechts und links lagen Grundstücke in tiefer Dunkelheit. An manchen der flachen Gebäude flammten Scheinwerfer, die einen Gewerbehof in kalkiges Licht tauchten. Außer ihren Schritten war nichts zu hören. Aus der Ferne wehten Fetzen von Musik, es roch nach Brackwasser, über allem lag das stete Brummen von der Autobahnbrücke. Irgendwo heulten Wölfe – wahrscheinlich war hier ein beliebter Treffpunkt für junge Werwolfrüden.
Es war ein endlos langer Schlauch von Straße, und es dauerte einige Minuten, bis sie das Grundstück fanden. Karla musterte die rostzerfressenen Containergebäude. Eine Speditionsfirma.
Raoul kniete auf dem Boden und zeichnete eine Sigille in den Staub. Karla sah, wie er mit seinem Stab eine Beschwörung wob. Sekundenlang hing die Zeichnung wie ein Geisterbild aus hellen Linien in der Luft zwischen ihnen, dann verblasste sie. Raoul atmete aus und zerstörte die Zeichnung mit dem Fuß.
Karla hatte sie im gleichen Augenblick vergessen. Sie sah zu Raoul auf. »Ich kann es tun, wenn du mir sagst, was es bewirkt.«
Er zog eine Braue empor. »Du kannst was tun?«
»Die Sigille.« Karla verschränkte die Arme. »Tora-san hat mir gezeigt, wie man sie vergisst.«
Raoul lachte auf. »Das hat sie? Eben mal zwischen Tür und Angel? Dafür habe ich drei harte Jahre gebraucht.«
Karla griff nach seinem Arm und drückte ihn. »Du hast dir die falsche Schule ausgesucht.«
»Ich will den Kerl finden, ohne dass er zuerst auf uns aufmerksam wird.« Er wandte den Kopf und lauschte. Dann fuhr er fort: »Die Sigille dient dazu, ihn zu orten und für ein paar Minuten aus der Zeit zu nehmen. Ich habe einen kleinen Schnüffelzauber, der uns verraten wird, wo sich ein organisches Wesen aufhält.«
Karla nickte. »Ich löse die Sigille aus, wenn wir ihn gefunden haben. Einverstanden?«
Raoul nickte und blickte auf den Gebäudekomplex. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, sah zum Himmel, klopfte mit dem Fuß einen komplizierten Rhythmus und bewegte die Hände dazu.
Dann löste sich ein Lichtschimmer von seiner Hand, breitete sich aus und legte sich wie ein geisterhaftes Netz über die Container vor ihnen. Karla sah fasziniert zu, wie die einzelnen Maschen nacheinander heller schimmerten und wieder erloschen. Das Netz löste sich auf, zog sich zusammen und blieb schließlich als kleiner Nebelfleck an der Wand eines Containers hängen.
»Dort?«, flüsterte sie. Raoul schnaufte und stemmte die Hände auf die Knie. Er nickte.
»Saubere Arbeit.« Sie klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Kleiner Schnüffelzauber«! Das war die Untertreibung des Jahres gewesen, dachte sie dabei.
Karla wartete, bis Raoul sich wieder erholt hatte, und lief dann voraus. Im tiefen Schatten neben der Metallwand blieb sie stehen und beruhigte ihren Atem. Sie konnte immer noch den Rest des Zaubers sehen, der an der abblätternden Farbe haftete. In dem Raum dahinter hielt sich möglicherweise der Mann auf, der ihnen die Killer auf den Hals gehetzt hatte.
Karla legte die Hände auf die Wand und spürte den hässlichen, scharfen Schwingungen des Metalls nach. Das Metall behinderte sie bei der Sondierung des Raumes, aber dennoch hätte sie zumindest spüren müssen, ob sich im Inneren des Containers ein Lebewesen aufhielt. Sie wandte Raoul den Blick zu und schüttelte den Kopf.
Er lehnte sich neben sie, berührte mit dem Vogelkopf seines Stabes die Wand und flüsterte ein paar Silben. Der Vogelschnabel flammte grellweiß auf und erlosch wieder. Es roch nach Hitze und glühendem Metall, und ein Rauchwölkchen stieg von einem kleinen Loch auf, durch das schwaches Licht aus dem Raum dahinter in die Nacht fiel.
Raoul wartete, bis die Ränder des Loches sich abgekühlt hatten, und blickte hindurch. Einen Moment lang stand er reglos da, dann hörte Karla ihn tonlos pfeifen. Er löste sich von der Wand, sah sich um, deutete auf die Tür des Containers. Karla folgte ihm schweigend. Was auch immer er gesehen hatte, es hatte ihn wütend gemacht. Seine Schultern in der dunklen Jacke waren angespannt.
Raoul stieß die Tür auf und trat ein. Er versperrte Karla die Sicht, aber sie hörte ihn fluchen. Dann stand auch sie in dem Raum und sah sich um: Da waren mehrere billige Schreibtische, Aktenschränke, ein Sicherungskasten, Lampen und Regale mit Warenproben, an den Wänden hingen Stadtpläne, eine Landkarte, ein Dienstplan, mehrere Plakate und ein Haufen Haftnotizen.
Raoul kniete sich hin. Jetzt konnte sie sehen, was ihn so wütend gemacht hatte: zwischen zwei Schreibtischen lag jemand reglos auf dem Boden.
Sie kniete sich neben Raoul und half ihm, den Mann umzudrehen, aber der starke Blutgeruch, der von ihm ausging, und das Fehlen jeder Spur von Essentia verrieten ihr schon genug.
Das war nicht der erste Tote, den Karla zu Gesicht bekam. Sie musterte ohne Emotion die durchgeschnittene Kehle und den starren Blick der Leiche.
Raoul durchsuchte die blutdurchtränkte Jacke des Mannes. Er fand die Brieftasche des Toten und breitete den Inhalt auf dem Boden aus. Geld, ein paar Quittungen, ein Foto, Briefmarken, ein kleiner Schlüssel. Kein Ausweis, kein Führerschein. Er hob den Kopf und sah sie an. »Wir haben ihn gefunden.« Er reichte ihr das Foto.
Karla erkannte sich und Raoul auf einem verwackelten Schnappschuss, auf der Rückseite stand Raouls Adresse. »Wieder eine Sackgasse«, sagte sie erbittert.
Raoul durchsuchte die Hosentaschen des Toten. »Keine Ausweispapiere.«
»Raoul!« Karla hielt seine Hand fest. »Sind hier Spuren? Kannst du etwas erkennen?«
Raoul sah sich um. Karla konnte spüren, wie seine magischen Sinne sich durch den Raum tasteten. Er stand auf und drehte sich um die eigene Achse. »Es ist wie bei den beiden Leichen im Frühjahr«, sagte er. »Kein Anzeichen dafür, dass sich hier in den letzten Stunden jemand aufgehalten hat.« Er lachte auf. »Aber wer auch immer das getan hat: Er war voller Blut, als er sich wieder entmaterialisierte.«
»Was denkst du, wie lange ist er schon tot?«
»Ich bin kein Pathologe. Aber das Blut sieht noch frisch aus, und ich glaube nicht, dass er während der Geschäftsstunden umgelegt wurde.«
Karla hockte wieder neben dem Toten und beugte sich dicht über die Wunde. »Das ist ein unsauberer Schnitt, wie von einem stumpfen oder schartigen Werkzeug.«
»Möglicherweise Zähne? Klauen?« Raoul musterte die klaffenden Ränder und die zerfetzte Luftröhre.
Karla stand auf und wischte die Hände an einem Taschentuch ab. »Wir müssen den Mord melden.« Sie blickte sich um. »Die Spurensicherung wird uns verfluchen.«
Raoul hatte schon sein Handy am Ohr. »Winter«, sagte er. »Ich habe eine Leiche für euch.« Er gab den Ort durch und beschrieb kurz, was sie vorgefunden hatten. »Ich habe am Tatort leider schon herumgepfuscht«, sagte er dann. »Bringt einen Rekonstrukteur mit.« Er lauschte, runzelte die Stirn, knurrte: »Ja, ich warte auf euch«, und schaltete das Telefon aus.
»Danke«, sagte Karla, erleichtert, dass ihr die Konfrontation mit ihren ehemaligen Kollegen erspart blieb.
Raoul biss sich auf die Wange, dann griff er wieder zum Telefon. »Tora?«, sagte er. »Wir haben ein Problem.«
Karla hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie trampelten hier auf dem Tatort eines Mordes herum, aber sie waren Ermittler. Sie hätten es besser wissen müssen.
Raoul beendete das Gespräch und deutete zur Tür. »Hau ab«, sagte er. »Fahr nach Hause! Ich komme nach.«
Karla zögerte. Sie war nicht scharf darauf, die Fragen der Ermittler beantworten zu müssen. Aber sie wollte Raoul auch nicht im Stich lassen. »Wie kommst du nach Hause?«
Er schob sie zur Tür. »Ich nehme ein Taxi oder lasse mich fahren.« Er zögerte, beugte sich zu ihr und gab ihr einen schnellen Kuss. »Geh! Es ist einfacher für mich, wenn du gar nicht erst dabei warst.«