12. 19. 19. 10. 18.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Karla fuhr zusammen und tarnte ihr Erschrecken mit einem strahlenden Lächeln. »Ah«, sagte sie erfreut. »Horace, Sie kommen gerade recht. Ich fürchte, ich habe mich verlaufen. Wo ist die Bibliothek?«
Der Butler wies ihr schweigend den Weg.
Raoul sah sie besorgt an. Der Drache blickte versonnen ins Kaminfeuer und ließ die Smaragde des Colliers leise durch seine Klauen klicken.
»Entschuldigung«, sagte Karla. Dann räusperte sie sich und sagte: »Horace hat mich auf frischer Tat in Ihrem Arbeitszimmer ertappt, Herr von Deyen.«
Raouls Augen öffneten sich weit, aber er sagte nichts. Der Drache wandte ihr seinen Kopf zu, musterte sie nachdenklich. Ein spöttischer Funke glomm in seinen Augen. »Haben Sie sich im Bad gelangweilt?«, fragte er mit seiner sanften Stimme.
»Nein, ich war neugierig und habe Ihre Gastfreundschaft ausgenutzt.« Karla erwiderte den Drachenblick mit Vorsicht. Sie hatte darüber gelesen, dass man ihnen nicht direkt in die Augen sehen sollte, deshalb achtete sie darauf, seine Stirn ein wenig oberhalb des funkelnden Blickes zu fixieren.
»Sie sind von einer erfrischenden, wenn auch tollkühnen Ehrlichkeit«, sagte Quass und gab seinem Butler einen Wink, sie allein zu lassen. »Was bezweckten Sie mit der Hausdurchsuchung?«
»Wir haben ein paar Fragen an Sie, Herr von Deyen«, erwiderte Karla unbeirrt. »Was wissen Sie über den Weltuntergang?«
Raoul hustete demonstrativ. Karla konnte sich vorstellen, dass die Situation für ihn peinlich und unangenehm war, aber Angriff war die beste Verteidigung.
»Weltuntergang. Armageddon. Der Tag X. Ragnarök.« Der Drache lachte leise. »Eine schöne, inspirierende Vorstellung. Tabula rasa. Aller Schmutz weggewaschen und ausgeglüht, die Erde ist wieder so unbewohnt und rein wie zu Anbeginn der Zeit. Erfreut dieses Bild nicht auch Ihre Sinne, Frau van Zomeren? Wäre es nicht an der Zeit, diesem maroden Globus, der unter der Last seiner Bewohner ächzt, in den Zustand der Unbeflecktheit und Jugendfrische zurückzuversetzen?«
Karla ließ sich wieder in ihren Sessel sinken und trank einen Schluck Wasser, um ihre Sprachlosigkeit zu überspielen.
»Was soll das?«, fragte Raoul scharf, »Quass, du redest irre!«
Der Drache lachte. »Ihr Menschen«, sagte er, »nehmt euch so schrecklich wichtig. Was wollt ihr von mir wissen? Ob ich ein verrückter Wissenschaftler bin, der vorhat, die Erde und ihre Bewohner pünktlich zum Jahreswechsel in die Luft zu jagen?«
»Hör auf, dich lustig zu machen«, sagte Raoul müde. »Quass, wir haben Hinweise gefunden, dass jemand genau so etwas plant. Seit Jahrzehnten. Jemand mit einem sehr langen Atem. Mit unendlich großer Geduld und unerschöpflichen finanziellen Mitteln. Jemand, der die organischen Geschöpfe dieser Welt hasst. Jemand, der möglicherweise einmal einen großen Einfluss hatte und sich nun seinen Platz mit anderen teilen muss – und dem das nicht gefällt.« Er verstummte und starrte in sein Glas.
Der Drache ließ ein amüsiertes Grunzen hören. Sein Blick, der immer noch auf Karla geruht hatte, schwenkte zu Raoul. »Und du denkst, ich wäre derjenige?«
»Nein«, sagte Raoul heftig. »Das denke ich nicht. Ich kenne dich, Quass. Du gibst gerne den Zyniker, aber in deinem Herzen, falls du so etwas besitzt, bist du ein Menschenfreund.«
»Oh«, murmelte der Drache pikiert. »Ich möchte dich bitten, solch eine Äußerung niemals in der Öffentlichkeit zu tätigen. Das ist rufschädigend.«
Karla schenkte Raoul einen Seitenblick mit hochgezogener Braue und wandte sich wieder an Quass: »Was ist das für eine Maschine in Ihrem Arbeitszimmer?«
Der Drache stieß eine verblüfft wirkende kleine Rauchwolke aus. »Sie sind aber wirklich eine emsige Schnüfflerin, junge Frau«, sagte er. »Es grenzt an Unverschämtheit, was Sie hier aufführen.«
»Ja, und das tut mir in gewisser Weise auch leid«, erwiderte Karla. »Sie sind Raouls Freund, und ich nutze Ihre Gastfreundschaft aus …«
»Sie überdehnen sie schamlos, wollten Sie sagen«, unterbrach der Drache.
Karla vergaß die Regeln und erwiderte seinen Blick direkt. Tief in den kugeligen violetten Augen strahlte ein helles, schmerzhaft scharfes Licht, das sie erstarren ließ. Etwas packte ihren Verstand mit unbarmherzigen Klauen. Karla wehrte sich schwach gegen die Sondierung, aber das machtvolle Drachenwesen war zu stark für sie. Ihr Bewusstsein wurde seziert, begutachtet und wieder zusammengesetzt, dann gab der Drache sie frei. Karla sank zusammen.
»Was hast du mit ihr gemacht?«, hörte sie Raoul in weiter Ferne rufen.
»Nichts, was dauerhafte Schäden hinterlässt«, antwortete Quass. »Du kennst die Prozedur. Sie ist ein wenig unangenehmer, wenn man sich ihr nicht freiwillig aussetzt, das gebe ich zu. Aber ich habe nur das mit ihr gemacht, was sie zuvor mit meinem Privatissimum getrieben hat. Eine oberflächliche Durchsuchung.«
Karla schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und richtete sich wieder auf. »Könnte ich etwas zu trinken bekommen?«
Quass nickte und schenkte ihr eine großzügige Portion aus der staubigen Cognacflasche ein. Karla, die Cognac hasste, kippte ihn mit Todesverachtung hinunter und ignorierte das Ächzen, das aus Raouls Kehle kam.
»Gut, damit wären wir wohl quitt«, sagte sie und blickte auf die Nüstern des Drachen. »Was ist das für eine Maschine?«
»Hartnäckig, deine Freundin«, sagte Quass amüsiert. »Was denken Sie, was es sein könnte?«
Karla stützte das Kinn in die Hand. Der Cognac hatte ein warmes Feuer in ihrem Magen entzündet und füllte ihren Mund mit einem angenehmen Aroma von Holz und Orangen. »Sie beschäftigen sich mit Magie. Ich habe die Bücher in Ihrem Arbeitszimmer gesehen – das waren keine Sammlerstücke.«
»Richtig.«
Karla bemerkte den verwunderten Blick, den Raoul seinem Freund zuwarf. Hatte er das nicht gewusst? Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schüttelte dann aber den Kopf. Sein Blick wanderte von Quass zu Karla und wieder zurück.
Karla fuhr fort. »Bei Ihrer Beschäftigung mit diesen Themen haben Sie eine Beschränkung festgestellt. Ich denke, dass die Chaosmagie für Sie keine großartige Hürde bereitgehalten hat …«
»Läppisch«, warf der Drache fröhlich ein. »Das könnte jedes Kind. Entschuldige, Raoul.«
Der Chaosmagier zog die Brauen zusammen und schwieg.
»Alchemie – das ist nichts weiter als Kochen nach Rezept.« Karla tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Zähne. »Aber bei der Vertiefung in die Weiße Magie dürften Sie auf Probleme gestoßen sein. Die morphischen Felder werden streng bewacht.«
Quass lachte laut und lange. »Liebes Kind«, sagte er schließlich und schenkte sich und Raoul nach, sah Karla dann fragend an. Sie schüttelte den Kopf. »Mein liebes Kind. Die hohe Meinung, die Sie von den Möglichkeiten Ihrer Zunft haben, spricht für Sie – aber leider auch für Ihre Naivität. Das Unterfangen, die Sheldrake-Energie dieses Universums zu verwenden, verlangt mir keine große Anstrengung ab.« Er kicherte leise. »Allerdings muss ich zugeben, dass es eine große Erleichterung für manches magische Werk bedeutet, wenn man die benötigten Felder kurzerhand selbst erzeugt, statt sie zuerst mühsam orten und anzapfen zu müssen.«
»Ein Generator«, sagte Karla. »Aber seine Konstruktion und Funktionsweise erschien mir fremd.«
Der Drache seufzte leise. »Freund Raoul. Du musst, bevor wir mit dieser Konversation – oder sollte ich es besser ›Verhör‹ nennen? – fortfahren, leider etwas tun. Bürgst du für deine Freundin?«
Raoul sah Karla mit einer Intensität an, die beinahe schmerzhaft war. »Ich bürge für sie. Sie ist loyal, klug und verschwiegen.«
»Meine Güte!«, entfuhr es Karla. »Was haben Sie vor? Wollen Sie mir beichten, dass Sie die Weltherrschaft anstreben?«
Der Drache lachte nicht, wie sie es erwartet hatte. »Sie haben dort in meiner Abstellkammer etwas gesehen, was es offiziell nicht gibt: den Prototyp eines Memplex-Generators.«
Karla konnte nicht an sich halten, sie lachte laut heraus. »Da haben Sie sich einen Bären aufbinden lassen. So etwas kann nicht funktionieren!«
»Klärt mich auf«, warf Raoul ein und beugte sich vor. »Was ist ein Memplex?«
Karla lachte immer noch. »Ein Memplex-Generator«, schnaufte sie. »Damit haben sie uns in der Ausbildung veräppelt.« Sie schüttelte den Kopf und trocknete sich die Augen. »Du weißt, was ein Mem ist?« Raoul schüttelte den Kopf. Quass trank und schnaubte vergnügt Funken.
»Ein Mem ist die Einheit, in der Gedanken gerechnet werden. Ein Mem ist so etwas wie ein einzelner Gedanke, eine Idee. Wenn du mehrere Meme miteinander vernetzt, dann entsteht ein Memkomplex – oder Memplex.« Sie wartete, bis Raoul nickte, und fuhr dann fort: »Jedem morphischen Feld liegt ein Memplex zugrunde. Je größer dieser Memplex ist, desto stärker das Feld.«
»Der Glaube an einen Gott«, sagte Raoul tastend. Karla nickte.
»Religionen lassen starke Felder entstehen. Aber auch profane Weltanschauungen oder Meinungen – wenn nur genügend Leute sie teilen – funktionieren so.«
»Ein Memplex-Generator wäre also eine Maschine, die künstliche Glaubenskonstrukte erzeugt?«
»So in etwa.« Karla grinste. »Das ist natürlich Humbug. Du brauchst organische Gehirne, um morphische Felder zu schaffen. Die Generatoren, wie sie zum Beispiel die MID verwendet, sind keine echten Erzeuger – sie sammeln und verdichten schwache Felder nur zu einem starken.« Sie wurde ernst. »Das Böse an dieser Weltuntergangsgeschichte ist der starke Memplex, der dadurch erzeugt wird, dass so viele Individuen daran glauben. Die Feldstärke hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, wie es sonst nur stabile und mitgliederstarke religiöse Gemeinschaften erreichen.«
Raoul sah Quass fragend an. Der Drache lächelte. »Wenn sie es sagt. Sie ist die Fachfrau.«
»Karla …«
»Nein«, sagte sie energisch. »Es funktioniert nicht. Das wird dir jede Hexe bestätigen. Es kann nicht funktionieren!«
Raoul seufzte. »Aber angenommen – nur einmal ganz hypothetisch! –, es funktionierte doch. Was hätte das für Konsequenzen?«
Der Drache sagte: »Das Interessante an Memplexen ist ihre ausgeprägte Fähigkeit, sich zu verbreiten. Ein einzelnes Mem braucht sehr lange, um sich in vielen Gehirnen zu verankern – ein Memplex schafft das unter Umständen rasend schnell. Und er wächst.«
»Es wäre gefährlich, so etwas künstlich zu erzeugen«, sagte Karla nachdenklich. »Wer Memplexe herstellen kann, kann damit Gedankengebäude erzeugen, die Gültigkeit erlangen. Religionen, Kulte, Weltanschauungen …« Sie schnappte nach Luft. »O nein«, sagte sie. »Bei Thors Testikeln!«
Raoul legte das Gesicht in die Hände. »Die Weltuntergangsstimmung.« Er atmete langsam ein und wieder aus. »Es besteht also die Möglichkeit, dass so ein Memplex-Generator das alles erzeugt?«
»Nicht die Katastrophen selbst«, erwiderte Karla. »Die müssen immer noch auf anderem Wege bewirkt werden. Aber dabei hilft dann wieder die Sheldrake-Energie – und so ein Generator müsste unglaubliche Mengen davon erzeugen.«
Sie schwieg und starrte ins Kaminfeuer. Die Reflexe der Flammen in den violetten Augen des Drachen schmerzten in ihrem Kopf. Seine Bewusstseinsvisitation hatte sie ordentlich durchgeschüttelt und einen kleinen, penetranten Schmerz hinter den Augen hinterlassen. Sie rieb unwillkürlich über ihre Stirn. Was hatte er gesehen? Musste ihr irgendetwas davon peinlich sein? Ja. Wenn er wirklich gesehen hatte, was in den letzten Monaten alles mit ihr geschehen war, dann war das sogar ungeheuer peinlich.
Sie hob den Blick und zwang sich, dem Drachen gerade in die Augen zu sehen. Was haben Sie gesehen?, fragte sie lautlos.
Die Bürgschaft, die Raoul für Sie abgegeben hat, wäre nicht nötig gewesen, erwiderte der Drache. Seine Stimme dröhnte in ihrem Kopf wie eine Glocke. Ich habe das nur getan, um seine Einstellung zu Ihnen zu überprüfen. Sie sind ein bemerkenswertes Exemplar Ihrer Spezies. Wenn er Sie seine Freundin nennen darf, ist er zu beneiden.
Karla senkte den Blick, der Gedankenkontakt brach ab. Sie legte die Hände an die Wangen. »Wer hat diesen Generator gebaut?«, fragte sie.
Quass antwortete nicht. Er blies kleine Flammen in den Kamin und sah zu, wie sie sich mit dem Feuer verbanden.
»Quass«, sagte Raoul eindringlich. »Du musst uns helfen. Wenn du nicht selbst dahintersteckst, dann ist es möglicherweise ein anderer Drache. Du kannst nicht wollen, dass die Welt untergeht!«
Der Drache seufzte einen langen Feuerstoß, der das Kaminfeuer geradezu explodieren ließ. Weit über ihren Köpfen sprang ein Lüftungssystem an und saugte die Flammen ab. »Lass mir Zeit, darüber nachzudenken«, bat er. »Der Mensch, der den Generator gebaut hat, ist ein wenig scheu. Ich möchte ihn nicht unnötigerweise exponieren.«
Karla knurrte frustriert. »Ist er ein Hexer oder ein Dunkelmagier?«
»Weder – noch.«
»Das geht nicht. Er muss der einen oder der anderen …« Karla unterbrach sich. »Ein Versatiler?«
Der Drache bestätigte ihre Vermutung weder, noch dementierte er sie. Er schwieg und atmete Flammen. »Ich bin müde«, sagte er. »Gesellschaftsmüde. Seid so freundlich, Raoul und Raouls Freundin, und geht.«
Raoul erhob sich und griff nach Karlas Arm. Sie folgte ihm widerstrebend. »Wenn er weiß«, flüsterte sie, »wer dahinterstecken könnte …«
»Lass ihn.« Raoul drückte besänftigend ihre Hand. »Er wird uns helfen.«
Sie gingen zur Tür, und kurz bevor sie die Bibliothek verließen, sagte Quass: »Ich werde eine Gesellschaft geben. Einen Wohltätigkeitsball. Norxis von Felsenstein wird anwesend sein.«
Raoul blieb auf der Schwelle stehen. »Du bist ein Genie.«
»Ich weiß.« Die Stimme des Drachen bebte vor unterdrücktem Gelächter. »Die Einladungen gehen morgen raus. Ich hoffe, du besitzt einen Frack, mein Freund. Und Sie ein Abendkleid.«
Die Tür schloss sich hinter ihnen. Der schweigsame Butler wartete bereits in der Diele und hielt ihre Jacken bereit.