12. 19. 19. 03. 19.
Alex, der Leiter des Æthernets, winkte Karla schon ungeduldig. »Die Warteliste ist lang, Schätzchen. Eine Minute später, und ich hätte deine Zeit jemand anders gegeben.« Er schob sie zur Liege. »Ausatmen, Luft anhalten«, kommandierte er, setzte ihr die Maske auf und drehte gleichzeitig am Regler des Apparates neben ihr. Der Ætherdampf drang in ihre Maske, Karla atmete ihn tief ein und spürte beinahe augenblicklich seine benebelnde Wirkung. Die Maske bedeckte das gesamte Gesicht, dämpfte die Geräusche und nahm ihr vollkommen die Sicht. Sie lag im Dunkeln und kämpfte mit der Beklemmung, die ihr diese Prozedur immer bereitete. Alex schnallte sie auf der Liege fest und befahl: »Zählen!« Sie hörte, wie er den Vorhang um die Liege zuzog.
Folgsam zählte sie von hundert rückwärts. Irgendwo verhaspelte sie sich und begann von vorne. Dann war sie im Æthernet, eingeklinkt in die »Gemeinschaft der Suchenden«, wie Alex das Net spöttisch nannte.
Wie immer musste sie gegen die Desorientierung ankämpfen und die Angst, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Im Æthernet existierten die Daimonen in ihrem körperlosen Zustand. Sie spürte die Gegenwart des diensthabenden Netztechnikers wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit und Kälte, in der sie eine Unzahl gestaltloser, sich im stummen Tanz umeinander windender Daimonen und hinter ihnen verborgen noch schrecklichere Wesen spüren konnte.
Karla schottete ihr vor Angst kreischendes Bewusstsein gegen diese Wesenheiten ab und dockte mit einer geistigen Streckbewegung am Knotenpunkt des Netztechnikers an.
»Willkommen«, sagte die körperlose Stimme. »Wonach suchst du?«
Karla musste sich zurückhalten, um nicht nach Raoul Winter zu fragen.
»Vittore Perfido«, sagte sie. »Alles zu seinen Aktivitäten im letzten halben Jahr. Dann brauche ich eine Auflistung der Kunstdiebstähle seit …«, sie überlegte schnell, »… seit Dezember letzten Jahres. Schwerpunkt: Bücher und Kultgegenstände.« Sie lachte, weil ihr ein Gedankenblitz kam. »Und die Verbindung zwischen beiden Anfragen.«
»Bewilligte Zeit?«
»Eine Stunde.«
»Dann ist dein Kontingent voll.«
Sie spürte, wie der Netzknoten des Technikers in einem schnellen Tempo zu pulsieren begann. Sie trieb in der Dunkelheit. Der Techniker nahm jetzt Kontakt mit anderen Hexen auf und verband sich mit ihnen zu einem Metaknoten. Nur so konnte das gesammelte Wissen angezapft werden.
Die unzähligen kleinen Netzknoten leuchteten wie Sterne. Die Dunkelheit des Ætherraums zwischen diesen Leuchtpunkten war angefüllt mit Bewegung, Leben, Wesenheiten aus Æther und Bosheit. Sie glaubte, hinter dem pulsierenden Netzknoten eine oder mehrere dieser Wesenheiten erkennen zu können. Widerliche Manifestationen, die ihre klebrigen Fäden nach ihr ausstreckten. Daimonen, die sich neugierig näherten.
Ein Daimon kam heran. Seine Sinnesfäden strichen über ihren Ætherkörper, und sie zwang sich, nicht zurückzuweichen, was sie in ihren materiellen Körper zurückgeworfen hätte.
»Geh weg«, dachte sie. »Hau ab! Ich will nichts von dir.«
Der Daimon ließ sich nicht ablenken. Seine Sinnesfäden, die wie kleine elektrische Entladungen prickelten und brannten, krochen über ihren Ætherkörper und drangen in ihn ein.
Karla zog sich so eng zusammen, wie sie konnte. Diese Art von Annäherung hatte sie in der Theorie abzuwehren gelernt, doch sie konnte sich vor lauter Panik nicht erinnern. Die Energiefäden des Daimons umfingen sie immer dichter. Sein Ætherkörper verschmolz mit ihrem, und sie spürte die Belustigung, mit der er ihren Abscheu registrierte.
»Wie ist dein Name?«, dachte sie, um Fassung ringend. Endlich war ihr der erste Schritt der Abwehr wieder eingefallen.
Die Antwort war voller Hohn: »Finde ihn heraus, Hexe!«
Er wusste, was sie war. Also musste er sie kennen.
»Brad«, dachte sie. Wer sonst? Sie hatte ihn abgeschossen, er musste eine Mordswut auf sie haben.
»Das ist nicht mein Name.« Der Daimon gab ein körperloses Kichern von sich. Er schien ihre Angst und ihren Ekel zu genießen wie einen besonderen Leckerbissen.
»Dein Menschenname ist Brad«, dachte Karla. »Du gehörst Raoul Winter. Lauf zu deinem Herrchen zurück, kleiner Daimon, und belästige keine fremden Leute.«
Seine Energiefäden zogen sich enger. »Das ist nicht mein Name«, wiederholte er. Genauso stur wie sein Wirt.
»Im Namen des Æthers, aus dem du kommst und zu dem du zurückkehren wirst«, intonierte Karla. »Im Namen des ewigen Gleichgewichts und des Ersten und Obersten Memplexes, der dich geschaffen hat: Kehre zu deinem Wirt zurück, Daimon, der von ihm den Namen Brad erhalten hat. Kehre zu Raoul Winter zurück oder vergehe hier und jetzt im ewigen Æther!«
Einen schreckerfüllten Augenblick lang fürchtete sie, einen Fehler in der Beschwörung gemacht zu haben. Waren Daimonen überhaupt Memplex-Konstrukte?
Die Sinnesfäden des Daimons lockerten sich widerwillig. »Du weist mich zurück?«
»Ich weise dich zurück«, dachte Karla erleichtert.
Wieder verfestigte sich der Griff. Die Fäden durchzogen ihren Ætherkörper wie Schimmel einen Käse. »Du brauchst mich«, lockte der Daimon. »Ich kann dir Information geben – jederzeit, ganz zu deiner Verfügung. Wissen. Macht.«
Karla bemerkte, dass ihr realer Körper zu hyperventilieren begann. Die Verlockung war echt, bei allem Ekel und aller Furcht. »Du hast bereits einen Wirt. Du gehörst Raoul Winter«, erwiderte sie, während sie ihren Widerstand bröckeln fühlte.
Der Daimon begann sie zu umschmeicheln wie ein Liebhaber. Seine Berührungen hatten aufgehört zu prickeln und brennen, sie wurden sanft und zärtlich. »Ich gehöre dem, der mich ruft. Ich bin kein Sklave, Hexe.«
Sie hielt den Atem an. »Nein«, dachte sie. »Es widerspricht dem, woran ich glaube. Weiche zurück, Daimon!«
»Schade«, dachte der Daimon. Seine Energiefäden lockerten sich gemächlich. »Wenn du es dir anders überlegen solltest – ich komme, wenn du mich rufst.« Sein Energiekörper entfernte sich langsam. »Soll ich dir meinen Namen verraten?«
»Nein«, keuchte Karla entsetzt. »Hau endlich ab, Brad!«
»Wir sehen uns wieder, schöne Hexe«, hörte sie ihn noch flüstern, dann war sie allein.
Karlas Ætherkörper zitterte derart, dass sie seine drohende Auflösung befürchten musste. Das würde eine unangenehm abrupte Rückkehr in ihren materiellen Körper bedeuten und den Verlust von einer wertvollen Stunde Daimonenzeit. Sie zwang sich zur Ruhe und rezitierte im Geiste die erste Seite der Dienstvorschrift für bösartige geistige Annäherungen. So knapp wie gerade eben war sie noch nie einer geistigen Infiltration entkommen.
Der Netztechniker kehrte zurück und mit ihm die von ihr angeforderten Informationen, die jetzt in einem steten, machtvollen Strom in ihr Bewusstsein zu fließen begannen. Es würde Tage dauern, sie alle zu sichten und einzuordnen, aber darauf freute Karla sich. Das war Arbeit, die sie verstand und die sie von dem beunruhigenden Erlebnis mit Raouls Daimon ablenken würde.
Als Nächstes spürte sie, wie jemand die Gurte löste, mit denen sie an ihre Liege geschnallt war.
»Du hast gestöhnt«, sagte Alex und säuberte ihre Maske mit routinierten Bewegungen. »Ich hätte dich fast aus dem Netz geholt. War etwas?«
Karla richtete sich auf und rieb über die Druckstellen an ihren Armen. »Alles in Ordnung«, erwiderte sie nur. Hinter ihren Augen stach der Schmerz wie mit heißen Nadeln.
Sie machte sich auf den Weg ins Untergeschoss. Dort befanden sich die gesicherten und abgeschirmten Labors.
Sie öffnete die rot lackierte Tür, auf der »Unbedingt anklopfen!« stand. Marlene, die hinter dem Empfangspult des hallenartigen Raumes saß, lächelte und rügte sanft: »Du weißt doch, meine Liebe, dass du vorher klopfen solltest.«
Karla zwang sich, zurückzulächeln und eine Entschuldigung zu säuseln. Die mollige Hexe griff nach dem Medaillon, das Karla ihr reichte, und schob es in das Lesegerät. »Wie ich sehe, musst du einhundertsieben Punkte ausgleichen. Du solltest ein wenig mehr Selbstbeherrschung üben, meine Liebe.«
»Danke, Marlene«, fauchte Karla nun doch und riss ihr das Säckchen mit den aromatischen Essenzen aus der Hand.
Karla trug ihre Ausrüstung zum anderen Ende der Halle, wo ein Feuer in einer Bronzeschale brannte. Die Holzkohle war gut durchgeglüht und bereit für das Räucherwerk.
Karla setzte sich auf den niedrigen Hocker und inhalierte die aufsteigenden Dämpfe. Sie schloss die Augen und suchte nach dem Feld, das durch den Generator hinter der Hallenwand erzeugt wurde.
Durch die konservative Gruppierung innerhalb des Weißen Zweiges war damals einen Aufschrei der Empörung gegangen, als der Generator installiert worden war. Künstlich erzeugte morphische Felder, das konnte nicht im Sinne des Ewigen Gleichgewichts sein! Aber der Generator funktionierte im Grunde auch nicht anders als ein natürliches morphisches Feld – nur dass er die MID unabhängig machte von den schwer zu kontrollierenden Stimmungen der natürlichen Felderzeuger.
Karla seufzte und richtete ihre Gedanken auf das künstliche Feld. Lass deine Woche Revue passieren und denk an all die Situationen, in denen das Gleichgewicht gestört war. Stell sie dir vor und ändere sie. Gleiche aus. Beruhige. Glätte.
Es kostete sie mehr als eine Stunde, bis alles wieder im Lot war. Sie nahm das Tuch, auf dem die Utensilien lagen, und knotete alles zu einem unordentlichen Bündel zusammen. Es ordentlicher abzugeben, war nicht nötig, Marlene musste die Gegenstände erst rituell reinigen, bevor sie wieder ausgegeben werden konnten.
Karla drückte den Knopf, der den Generator ausschaltete, löschte das Licht und verließ die Halle.