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Raoul hockte vor der Tür und hielt sich den Kopf. Ihm war übel, sein Schädel wummerte – wahrscheinlich hatte es Brad wieder mal grauenhaft übertrieben.

Er richtete sich auf und versuchte, seinen verschwimmenden Blick zu fokussieren. Wo war er? Ein dunkler Korridor, eine Tür, eine Treppe. Er saß vor Karlas Wohnung auf dem Boden und zitterte vor Kälte.

»Brad?« Nicht, dass er mit einer Antwort gerechnet hätte. Raoul ächzte und zog sich am Treppengeländer in die Höhe. An was konnte er sich erinnern? Wie lange trieb Brad schon wieder sein Spielchen mit ihm?

Er lehnte sich an das Geländer und schloss die Augen. Es war … Dezember. Karla reiste mit ihrem Vampirliebhaber durch die Weltgeschichte. Quass war für niemanden zu sprechen. Er selbst hatte noch versucht, herauszufinden, wer … was …

Raoul rieb sich über die Augen. Er konnte sich nicht erinnern. Etwas war geschehen, und danach hatte Brad ihn für eine längere Periode aus dem Verkehr gezogen. Es hatte mit Tora zu tun, aber sein Gedächtnis lieferte nur Bruchstücke, die er nicht einordnen konnte.

Er schrak hoch, als jemand seinen Namen rief. »Brad? Raoul?«

Er beugte sich über das Treppengeländer und krächzte: »Hier. Wer ist da … Karla? Ich dachte, du bist irgendwo in Asien.«

Er hörte, wie seine Wohnungstür zufiel. Jemand kam mit energischen Schritten die Treppe hinauf. Karlas blasses, entschlossenes Gesicht hob sich, um ihn anzusehen. Sie runzelte die Stirn. »Ich hatte Brad doch angewiesen, auf dich aufzupassen.«

Raoul war selbst überrascht über die Erleichterung, die ihn bei Karlas Anblick durchströmte. Jetzt wurde alles gut. Er lächelte sie an, und mit einer kleinen, verwirrten Verzögerung erwiderte sie sein Lächeln und reichte ihm die Hand.

»Du warst schon einmal hier«, sagte er. Ein verschwommenes Bild, wie sie auf ihm kniete. Er hatte sie für einen seiner Verfolger gehalten und dann … und dann …

»Streng dich nicht an, Raoul«, sagte sie leise. Sie legte kurz den Arm um seine Taille und drückte ihn an sich. Er sah die dunkle Verfärbung auf ihrem Wangenknochen. Jemand hatte sie geschlagen?

»Nichts von Bedeutung«, wehrte sie ab. »Raoul, konzentriere dich. Wir müssen die Speichertür öffnen. Hast du einen Schlüssel?«

Er blinzelte verwirrt. »Zu dieser Tür?« Wenn sein Kopf nicht so schrecklich schmerzen würde, es fiel ihm ungeheuer schwer, sich zu konzentrieren. »Nein«, sagte er langsam. »Nein, ich fürchte, ich weiß nicht, wo der Schlüssel sein könnte.«

Karla hatte sich schon vor die Tür gekniet und versuchte, durch das Schlüsselloch zu blicken. »Zugeklebt«, murmelte sie. Sie legte die Hände auf das Türblatt und schloss die Augen. »Magisch versiegelt«, sagte sie nach einer Weile und blickte auf. Raoul erwiderte ihren Blick hilflos.

»Komm her, Langer«, sagte sie sanft. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Es wird alles gut, das verspreche ich dir. Komm jetzt, ich brauche deine Fähigkeiten.«

Er kniete sich neben sie. Wie gerne hätte er sie umarmt, sein Gesicht in ihrem Haar vergraben und über nichts mehr nachgedacht …

»Verdammt, konzentriere dich!«, rief Karla. »Wie kann ich diesen Zauber hier lösen?«

Raoul spürte dem Bann nach. Es war ein kompliziert gestricktes Netzwerk aus Chaosmagie, Runenzauber und ineinander verschränkten quantenmagischen Strömen. Das Bravourstück eines Meistermagiers. »Dazu reichen meine Fähigkeiten nicht aus.«

Karla ließ ein unterdrücktes Schnauben hören. »Langer, wenn du wüsstest …«, sagte sie. »Kannst du den Urheber erkennen?«

Raoul versenkte sich tief in den Zauber. Die Signatur war deutlich zu erkennen und ergab keinen Sinn. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Wer auch immer das gewirkt hat, er hat meine Signatur gefälscht. Man sollte denken, dass ich meinen Speicher gut gesichert habe.« Er sah Karla fragend an. Sie lächelte schwach, und ihre Augen blickten eigentümlich nervös, als lauschte sie auf etwas Entferntes, von dem sie nichts Gutes erwartete.

»Du kannst sie also nicht öffnen?«

Er breitete entschuldigend die Hände aus. »Nein. Es tut mir leid.«

Karla nickte abwesend. Sie befühlte das Schloss. »Es hat wahrscheinlich wenig Sinn, es mit einem Brecheisen zu versuchen.«

»Nein. Ich glaube nicht, dass Werkzeuge den Zauber zerstören können.« Raoul bohrte in der Türfüllung herum und schüttelte den Kopf. »Alles verstärkt, bis in die Wände hinein.«

»Verdammter Perfektionist.« Karla erläuterte nicht, wen sie damit meinte. Sie fasste in ihre Tasche und holte ein unscheinbares graues Plastikkästchen heraus. »Dann werde ich das hier vergeuden müssen, in der Hoffnung, dass es funktioniert.« Sie stellte das Kästchen vor die Tür und schob Raoul zur Treppe und ein paar Stufen abwärts. »Geh lieber in Deckung«, wies sie ihn an. »Ich habe keine Ahnung, welche Wucht das Ding hat. Leg dich hin. Halt dir die Ohren zu.« Sie kauerte sich neben ihn und reckte den Hals. »Ich versuche es mit einer kleinen Entladung.« Ihre Hand beschrieb eine verschlungene Kurve in der Luft und deutete dann auf das Kästchen. Ein Funke löste sich von ihren Fingerspitzen und traf das Gehäuse. Es puffte leise, und eine kleine Rauchfahne stieg auf. Es roch nach verschmortem Plastik.

»Das war zu schwach.« Karla wiederholte die Geste, und dieses Mal sah Raoul den Blitz, der das Kästchen traf. Es geschah nichts. Er wollte sich aufrichten und Karla fragen, was sie bezwecken wollte, als mit einer lautlosen schwarzen Explosion die Welt für einen Moment stehen blieb. Licht, Luft und Zeit verschwanden. Raoul schwebte in einer grauen Zwischenwelt, in der jeder Sinneseindruck fehlte.

Dann fiel er schwer in seinen Körper zurück, seine Ohren dröhnten, und er spürte, wie Blut aus seiner Nase schoss. Karla lag halb unter ihm begraben auf dem unteren Treppenabsatz. Sie hustete und rappelte sich auf. Beide waren übersät mit Staub, Mörtel und Holzpartikeln.

»Was war das?«, fragte Raoul und presste den Ärmel gegen seine Nase. Karla humpelte die Treppe hinauf und inspizierte das Loch in der Wand, wo eben noch die Tür gewesen war.

»Schwarzraum-Energie«, erklärte sie. »Bleib, wo du bist. Ich sehe mich drinnen kurz um.«

Raoul folgte ihr. Sie sah sich um, schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Ihr wachsamer, misstrauischer Blick verwirrte ihn. Und waren da Schritte unten, in seiner Wohnung? Kam jemand hinter ihm die Treppe hinauf? Er fuhr herum, aber anscheinend hatte er es sich nur eingebildet. Er schauderte.

Karla war inzwischen über die Trümmer gestiegen und stand im Speicher. Sie fluchte unterdrückt, der Lichtschalter knackte, dann leuchtete die Deckenlampe auf. Ihr gelbliches, schwaches Licht beschien einen monströsen Mechanismus, der den kompletten hinteren Teil des lang gestreckten Raumes ausfüllte. Ein dumpfes Brummen ging von ihm aus und noch etwas, das sich nicht hörbar, sondern wie ein spürbarer Druck auf die Schläfen legte.

»Was ist das?«, rief Raoul fasziniert aus und näherte sich dem Apparat.

»Bleib stehen«, sagte Karla scharf. »Halt die Hände still, Raoul. Bleib dort an der Tür. Ich will nicht, dass du dich dem Generator näherst, hörst du?«

Ihr Befehlston ließ Raoul verharren. »Generator?«, fragte er. »Ist das der Memplex-Generator, dessen Existenz du vermutet hast?«

Karla ging um den Mechanismus herum. »Gekoppelt, genau wie Horace es gesagt hat«, hörte Raoul sie murmeln. »Das Ding ist riesig. Ich habe keine Ahnung, wie ich es … Bleib stehen! Stehen bleiben, verdammt!«

Raoul, der sich dem Generator genähert hatte, starrte auf die Pistole, die sie auf ihn richtete. Er hob den Blick, sah Karla fassungslos an. Sie fixierte ihn mit eisiger Miene. »Wenn du nicht willst, dass ich dir eine Kugel in den Kopf jage, bleibst du stehen und rührst keinen Finger«, sagte sie.

Was passierte hier gerade? Drohte Karla wirklich, ihn zu erschießen? Raoul wusste nicht, wie ihm geschah.

Hinter ihm knarrte eine Diele. Jemand hatte den Speicher betreten. Raoul wagte es, den Kopf zu drehen, und sah die Großmeisterin auf sich zukommen, und auch sie richtete eine Waffe auf ihn.

»Seid ihr beide verrückt geworden?«, rief er heiser.

»Halt den Mund, Winter«, erwiderte die Großmeisterin. »Van Zomeren, beweg dich!«

Karla nickte und verschwand hinter der Maschine. Raoul hörte sie unterdrückt fluchen.

Er wandte den Blick von dem Generator und sah Tora an. Sie erwiderte seinen Blick ohne einen Funken Sympathie. »Keine Mätzchen«, sagte sie warnend. »Denk nicht, ich würde zögern abzudrücken.«

»Was habt ihr vor?«, fragte Raoul. »Das hier – ist das dein Werk? Die Tür war meisterhaft gesichert. Das kann nur jemand bewirkt haben, der überragende Kräfte besitzt.«

Die Großmeisterin verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln. »Raoul Winter«, sagte sie, »du bist ein verdammter Idiot.« Mehr nicht. Dann ließ ein Ausruf Karlas sie den Kopf wenden. »Findest du es heraus?«, fragte sie.

»Ich denke, ja«, kam die gedämpfte Antwort. »Ich muss in das Ding hinein, aber ich habe gerade eine Art Wartungsklappe gefunden.« Etwas schepperte zu Boden.

Raoul nutzte den Moment der Unaufmerksamkeit. Er machte einen Schritt auf den Generator zu und sah verblüfft, wie seine Hand sich hob und eine Abdeckung öffnete, hinter der ein Bedienfeld sichtbar wurde.

Er hörte, wie Tora »Nein!« schrie und ein Schuss knallte. Eine unsichtbare Faust schlug sein Bein unter ihm weg, er knickte ein und hielt sich an der Maschine fest. Immer noch bewegten sich seine Finger selbsttätig, glitten über das Bedienfeld und betätigten Knöpfe, Regler … Raoul öffnete den Mund, um zu schreien. Sein Bein – was war mit seinem Bein? Er krümmte sich keuchend, als der Schmerz einsetzte.

Dann stand Tora-san über ihm und richtete die Pistole auf ihn. »Es tut mir leid«, sagte sie und drückte ab. Der Schuss traf ihn wie eine Dampframme in die Brust und schleuderte ihn gegen die Maschine.

Er hörte Karla schreien. Sie tauchte hinter dem Generator auf und kam mit aufgerissenen Augen auf Tora zu. »Verdammt, war das nötig?«, schrie sie. »Ich weiß, wie man das Ding …«

Er hörte nicht mehr zu. Wie erstaunlich, aber es tat nicht weh. Sein Blut durchnässte seine Kleider, floss auf den Boden. Er lag auf dem Rücken und starrte auf die schwache gelbe Lampe über seinem Kopf. Schwach. So schwach …

Leb wohl, Dummkopf, hörte er Brad flüstern. War nett mit dir. Fahr zur Hölle …

Etwas riss. All die kleinen Wurzeln und Verbindungen, die ihn und Brad zu einer Einheit machten. Er konnte spüren, wie jede einzelne zerfetzt wurde, wie sein Daimon sich Stück für Stück von ihm löste. Ein Daimon verließ seinen Wirt nur, wenn dieser im Sterben lag …

Das schwache gelbe Licht wurde dunkler und erlosch.

Last days on Earth: Thriller
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