12. 19. 19. 03. 19.

 

Mick saß an Karlas Schreibtisch, hatte die Füße gegen die Kante gestemmt und aß ein dick belegtes Brot. Mick saß immer an Karlas Schreibtisch, weil sie so aus dem Fenster sehen konnte.

»Runter von meinem Stuhl«, sagte Karla und stellte ihren Rucksack und den Pappbecher mit Kaffee auf Micks Butterbrotpapier. Sie legte die Zeitung daneben, die sie unten am Kiosk gekauft hatte, und hängte ihre Jacke an den Haken.

Mick räumte ohne Murren den Platz und ließ nur ihre Krümel da.

Karla wischte mit der Hand über die Fläche, hob die Braue, als sie einen Kaffeering auf einem Bericht des Labors entdeckte, und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie zog den Deckel vom Becher ab und wartete, bis der Dampf sich verzogen hatte. Dabei warf sie einen flüchtigen Blick auf das Titelblatt der Boulevardzeitung. »Neuer Supervulkan in Kasachstan entdeckt«, verkündete die Schlagzeile in Rot. Darunter stand wenig kleiner: »Wird so unser Ende aussehen?« Unter der Schlagzeile prangte eine Fotomontage, die eine brennende, unter Lava verschwindende Großstadt zeigte.

Karla nippte an dem Kaffee, verbrannte sich die Zunge und griff nach der Schere, um den Artikel auszuschneiden.

Mick, die inzwischen an ihrem Tisch Platz genommen hatte, gluckste. »Wieder etwas für deine unheilvolle Sammlung, Kassandra?«

Karla würdigte sie keiner Antwort. Stattdessen griff sie nach einer Sichthülle und tütete den Ausschnitt ein, beschriftete das Ganze ordentlich mit dem Datum und heftete die Hülle ab. Dann blätterte sie den Rest der Zeitung durch, aber es gab keine weiteren Weltuntergangsmeldungen.

»Erzähl schon«, sagte Mick, die gelangweilt in einer Akte herumkritzelte. »Wie ist dein neuer Partner? Wann bekomme ich ihn zu sehen?«

»Wenn die Hölle einfriert«, murmelte Karla und sagte lauter: »Er ist irre. Du willst ihn nicht kennenlernen, glaube mir.«

Mick lachte. »Die Dunklen sind alle irre«, gab sie vergnügt zurück. »Das gehört bei denen zur Grundausstattung, sonst wären sie ja nicht auf der dunklen Seite gelandet. Also, erzähl schon! Wie sieht er aus?«

Karla schüttelte den Kopf. Der gestrige Nachmittag war in ihrer Erinnerung noch zu frisch, um darüber lachen zu können. Sie murmelte etwas von »eilige Sache« und vertiefte sich in ihre Notizen zum Wunderland-Fall. Er ließ ihr keine Ruhe.

Vittore »Santo« Perfido war der schwärzeste Hut, der ihr je begegnet war. Er war vor ungefähr acht Jahren aus dem Nichts  in der Stadt aufgetaucht und hatte systematisch die gesamte organisierte und unorganisierte Verbrecherszene unter seine Regie gebracht. Inzwischen gab es kein Vergehen mehr, in dem er nicht seine Finger hatte: vom einfachen Einbruch bis zur komplizierten Erpressernummer, von der Geldwäsche zum Bluthandel, von der Prostitution zum illegalen Glücksspiel – es gab nichts, was er nicht kontrollierte oder wo er zumindest seinen Profit herausschlug.

Seine Verbindung zu den terroristisch erscheinenden Anschlägen, die Karla und Fokko ihm in mühevollster Kleinarbeit hatten nachweisen wollen, war nach wie vor eine Vermutung, die in der Dienststelle niemand so recht teilen wollte. Allein Fokko hatte ihrem Instinkt vertraut. Aber nun lag er mit einem Schädelbruch im Krankenhaus.

Sie biss sich unschlüssig auf die Lippe und malte Kringel um ein paar Stichworte. »Bluthandel«, »Prostitution«, »Glücksspiel«. Kringel, Kreuzchen, Ausrufezeichen. Sie musste nur den Hörer abnehmen. Oder am Abend Kit fragen.

Er musste Verbindung zu Perfido haben, auf die eine oder andere Weise. Christopher Marley, ihr Geliebter. Sie sprachen nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, über ihre Tätigkeiten, die so entgegengesetzt waren, wie man sie sich nur denken konnte. Kit betrieb ein Casino, einen Nachtclub und ein Bordell, alles nobel, teuer, exklusiv, keine dunklen Hinterzimmer und schmuddligen Absteigen. Die High Society verkehrte bei Kit. Aber Karla wusste, dass es kein halbseidenes Etablissement in dieser Stadt gab, das nicht Schutzgelder bezahlte oder auf andere Weise in Perfidos Hand war. Kit Marley machte da sicherlich keine Ausnahme.

Karla strich die Kringel und Kreuzchen energisch aus und griff nach dem Telefon. »Mick, kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte sie, während sie wählte. »Ich brauche diese Akte aus dem Archiv. Und frag Alex bitte, ob ich heute Nachmittag Daimonenzeit buchen kann.«

Mick grummelte ein bisschen, aber sie stand auf und nahm den Zettel, den Karla ihr reichte. Sie war eine nette, hilfsbereite junge Magistra, die ihre ältere Kollegin insgeheim bewunderte. Karla fühlte sich ein wenig schlecht, dass sie das manchmal ausnutzte, aber sie wollte für dieses Telefonat ungestört sein.

»Spreche ich mit Vadim Sonofabiˇc?«

»Ja, am Apparat«, sagte eine rostig klingende Stimme. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Karla van Zomeren«, antwortete sie. »Herr Sonofabiˇc, ich bin auf der Suche nach ein paar Informationen für einen Artikel.«

»Sie sind Reporterin?« Die Stimme ließ Misstrauen erkennen. Karla seufzte lautlos. »Genau genommen schreibe ich an einem Buch«, beeilte sie sich, die Lüge in eine andere Richtung zu schieben. »Der Artikel ist für eine Fachzeitschrift bestimmt.«

»Ein Buch. So.« Der Mann überlegte. »Was wollen Sie wissen?«

»Ich möchte das nicht gerne am Telefon besprechen. Könnten wir uns treffen?«

Zu ihrer Überraschung lachte er. »Treffen. Das hat sich schon lange kein hübsches Mädchen mehr von mir gewünscht. Sie sind doch hübsch, oder?«

Karla verdrehte die Augen. Ein süßholzraspelnder Gestaltwandler, das hatte ihr noch gefehlt. »Meinen Geschmack treffe ich jedenfalls«, sagte sie kühl. »Wie wäre es mit Montag? Im River Café? Wissen Sie, wo das ist?«

»An der Promenade«, erwiderte der Mann. »Dort verkehren Nichtmenschen.« Seine Stimme klang missbilligend. Karla hätte beinahe gelacht. Er war selbst ein verdammter Gestaltwandler! Es gelang ihr, die Fassung zu bewahren und das Date festzumachen. Dann legte sie auf, lehnte sich zurück und grinste zur Decke empor.

»Worüber lachst du?« Mick kam herein.

»Ich hab bloß gute Laune«, erwiderte Karla und ordnete ihre Gesichtszüge. »Habe ich Daimonenzeit?«

»Hast du. Wann kommt dein Neuer?«

»Der kommt nicht.« Karla beugte sich über ihre Notizen. Sonofabiˇc bekam einen Haken und den Zusatz, wann sie ihn treffen wollte. Sie überflog ihre Fragen und notierte sich alles, was sie bei Omnipedia nachschlagen musste. Eine Stunde Daimonenzeit war erschreckend wenig, wenn man sich nicht mit den oberflächlichen Antworten zufriedengeben wollte.

»Du hast aber einen Termin mit ihm gemacht?« Mick ließ nicht locker. Sie lehnte nun lässig an der Fensterbank.

Karla legte ihren Stift beiseite und verschränkte die Arme. »Ich habe einen Termin mit ihm gemacht, den er nicht einhalten wird«, erklärte sie geduldig. »Ich werde eine halbe Stunde auf ihn warten, und dann gehe ich zum Chef und bitte darum, mich einstweilen ohne Partner arbeiten zu lassen.«

Mick sah aus dem Fenster. »Das ist gegen die Vorschriften.«

Karla erwiderte nichts. Sie kannte die Vorschriften so gut wie Mick – wahrscheinlich sogar besser, weil sie schon deutlich mehr Zeit damit verbracht hatte, gegen einen Haufen davon zu verstoßen. »Wie auch immer«, sagte sie schroff, »der Irre wird nicht auftauchen.«

»Hm«, machte Mick und starrte weiter aus dem Fenster. »Was fährt er eigentlich für ein Auto?«

»Woher soll ich das wissen? Mick, Schätzchen, lass mich doch einfach arbeiten, ja?«

Ihre Kollegin ließ sich nicht beirren. Sie klebte an der Fensterscheibe und schielte in den Hof. »Wie sieht er aus? Erzähl mal, du hast noch gar nichts gesagt!«

Karla stieß entnervt Luft durch die Nase. »Er ist größer als ich, dürr wie eine Zaunlatte und sieht aus wie ein Penner.«

»Schade, dann ist er es nicht.«

»Wer?«

»Der Typ, der da unten gerade aus seinem Jaguar gestiegen ist.«

Karla holte tief Luft, um ein Donnerwetter loszulassen, als ein Klopfen sie unterbrach. »Ja, bitte?«, rief sie ungeduldig.

»Verzeihung, ich suche Magistra van Zomeren.«

Karla riss ihren Blick von Micks breitem Grinsen los und sah zur Uhr. Der Kerl war pünktlich auf die Sekunde erschienen.

Sie seufzte und drehte sich um. »Herr Winter …« Sie verstummte. Und schluckte. »Äh«, sagte sie. »Äh, ich – ich habe mich noch nicht um unseren Arbeitsraum gekümmert. Wenn Sie einen Moment hier warten würden? Ich bin gleich zurück.« Sie rettete sich an ihm vorbei aus der Tür und spürte seinen amüsierten Blick im Nacken.

Draußen lehnte sie sich einen Moment gegen die Wand und ordnete ihre Gedanken. Warum hatte sie erwartet, dass er auch heute aussehen würde wie ein Penner? Der Mann, der jetzt in ihrem Büro stand, trug einen dunklen, dreiteiligen Maßanzug unter einem schmal geschnittenen Wollmantel. An den Füßen glänzten Lederschuhe, das blendend weiße Hemd schmückte eine dezente Krawatte mit silberner Nadel, ein Silberring schimmerte am Finger, in der Hand hielt er einen ebenholzschwarzen Stock mit silbernem Knauf, der wie ein Vogelkopf geformt war, und ein breitkrempiger Hut vervollständigte das Bild aus dem Modejournal für den extravaganten Dandy-Magier.

Das adlernasige Gesicht unter der Hutkrempe war tadellos rasiert, der eckige Kinnbart sauber gestutzt, und die tiefen Ringe unter seinen Augen waren zu Schatten verblasst, die dem langen Gesicht einen melancholischen Ausdruck verliehen.

Karla stieß sich von der Wand ab. »Die ganze Show zieht er doch nur ab, um mich zu ärgern«, grummelte sie.

Last days on Earth: Thriller
titlepage.xhtml
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_000.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_001.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_002.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_003.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_004.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_005.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_006.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_007.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_008.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_009.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_010.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_011.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_012.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_013.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_014.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_015.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_016.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_017.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_018.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_019.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_020.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_021.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_022.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_023.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_024.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_025.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_026.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_027.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_028.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_029.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_030.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_031.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_032.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_033.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_034.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_035.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_036.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_037.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_038.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_039.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_040.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_041.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_042.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_043.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_044.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_045.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_046.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_047.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_048.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_049.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_050.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_051.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_052.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_053.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_054.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_055.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_056.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_057.html