12. 19. 19. 04. 03.
Raoul kehrte in seine Wohnung zurück und telefonierte. Als Erste rief er Tora an. »Roshi«, sagte er ohne Einleitung, »ich sitze in der Scheiße. Wie groß ist dein Einfluss beim Weißen Rat?«
Seine Lehrerin hörte ihn geduldig an. Dann schwieg sie eine Weile. »Nein«, sagte sie bedauernd. »Nein, mein Junge. Ich fürchte, dass ich dir nicht helfen kann. Deine Freundin hat sich in eine Ecke manövriert, aus der sie niemand herausholen kann.«
»Was soll das heißen?«
»Was ich gesagt habe. Es ist das Recht der MID, sich zu vergewissern, dass ihre Magistra nicht auf der falschen Seite gelandet ist.«
»Das ist doch dummes Zeug!« Raoul fuhr frustriert mit der Hand durch seine Haare. »Karla ist eine gesetzestreue Weiße Hexe. Loyal bis zur Sturheit. Sie würde niemals …«
»Sie hat!«, unterbrach Tora ihn. »Raoul, du kennst die Regeln nicht, denen die Hexen unterworfen sind. Ein winziger Schritt vom schmalen Pfad der Tugend, und es ist vorbei. Wahrscheinlich wird sie suspendiert und dann einer dieser unglaublich langwierigen Reinigungszeremonien unterworfen, bevor sie wieder in den Dienst zurückkann, das arme Ding.« Tora lachte.
Raoul knirschte mit den Zähnen. »Das wird sie nicht überleben«, sagte er. »Sie hat die Zeit nicht mehr, irgendwelche Rituale über sich ergehen zu lassen, Tora. Und, was noch schlimmer ist, ich habe so ein Gefühl, als hätten wir diese Zeit nicht!«
»Wie meinst du das?«
»Wir sind einer seltsamen Sache auf der Spur. Ich kann dir nicht sagen, worum es geht, aber alles läuft auf eine groß inszenierte Katastrophe hinaus.« Raoul wagte sich auf dünnes Eis. Nichts davon war belegt, Karla und er hatten aberwitzige Spekulationen angestellt.
Erstaunlicherweise reagierte Tora mit tödlichem Ernst auf seine verrückte Behauptung. »Was habt ihr?«, fragte sie.
»Ein Diagramm, einen Haufen von Daten, die Kurven ergeben, die allesamt auf einen Punkt in der Zukunft hinauslaufen. Eine Reihe von Ziffern, so etwas wie einen Code. Und ein dummes Gefühl.«
»Melde dich bei mir, wenn du mehr weißt«, sagte Tora. »Ich werde sehen, ob ich etwas für deine Freundin tun kann. Aber erhoffe dir nicht zu viel. Der Weiße Rat sieht Einmischungen in seine inneren Angelegenheiten nicht gerne.«
Das Gespräch mit Quass von Deyen verlief ähnlich unbefriedigend. Der Drache war ungewöhnlich wortkarg und schlecht gelaunt. »So?«, sagte er nur, als Raoul ihm von Karlas Verhaftung erzählte. »Dumme Sache. Was habe ich damit zu tun?«
»Quass, du bist ein Drache«, erwiderte Raoul geduldig. »Du kennst alle maßgeblichen Leute in der Stadt. Du kannst Druck ausüben.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil wir auch nach deinen beschissenen Büchern suchen?«, explodierte Raoul. »Weil irgendetwas vor sich geht, das mich verflucht nervös macht? Weil ich dein verdammter Freund bin und dich darum bitte? Shasshtrax, sei nicht so squlossl stur, Quass!«
Zu seiner Überraschung begann der Drache zu lachen. »Raoul, ich wusste nicht, dass du Sstroyxl sprichst.«
Raoul lockerte den Griff um sein Telefon und atmete tief durch. »Verzeihung. Ich habe mich im Ton vergriffen. Und ich kann in eurer Sprache gerade mal ein bisschen fluchen.«
»Aber deine Aussprache ist exzellent für jemanden mit einer so unbeweglichen Zunge und einem dermaßen weichen Gaumen.« Offensichtlich amüsierte Quass die Vorstellung, dass ein Mensch die Drachensprache beherrschte. »Also gut«, sagte er. »Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass es mich nichts angeht, was der Weiße Zweig treibt, aber wenn es dir so überaus wichtig ist, werde ich mich bei Gelegenheit einmal umhören.«
»Ich bin dir sehr dankbar, Quass.« Raoul biss sich auf die Lippe. »Ich stehe in deiner Schuld. Xanass.«
Quass schnappte hörbar nach Luft. »Das solltest du nicht … Du kannst ja nicht wissen, was das bedeutet, Mensch. Ich habe es nicht gehört.«
»Xanass«, wiederholte Raoul. »Und ich weiß sehr wohl, was das bedeutet.«
»Das Wort bindet mich ebenso wie dich«, erwiderte der Drache. Alles Lachen war aus seiner Stimme gewichen. »Du bezahlst damit einen hohen Preis für das Mädchen. Ist sie dir so teuer?«
Raoul rieb sich über die Schläfe. »Ja. Ich glaube – ja.«
»Nun gut.« Quass seufzte. »Ich werde ein paar Leute anrufen. Aber versprich dir nicht zu viel davon, Raoul. Ich bin nicht annähernd so einflussreich, wie du dir einzubilden scheinst.«
Raoul ließ das Telefon fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Er legte die Stirn an die Fensterscheibe. Das kalte Glas kühlte seinen Kopf und seine Gedanken.
Du bist verrückt, sagte Brad. Vollkommen irre. Wie konntest du uns nur dem Drachen überschreiben?
»Halt den Mund«, murmelte Raoul. Er wandte sich vom Fenster ab und ging in die Küche. Im Eisfach musste noch eine Flasche Wodka liegen. »Ich habe ihn damit verpflichtet, mir zu helfen.«
Du Idiot. Du hast uns damit zu seinem Leibeigenen gemacht. Er könnte von uns verlangen, uns aus einem Hochhaus zu stürzen. Oder den Generalmagister zu erschießen. Wir müssten es tun.
»Quass würde das niemals ausnützen«, erwiderte Raoul scharf und zog den Wodka unter einer Packung Eis hervor. »Und es ist, wie er schon gesagt hat, eine gegenseitige Verpflichtung. Er hätte es nicht annehmen müssen.«
Wenn er abgelehnt hätte, wäre es das Ende eurer Freundschaft gewesen. Ihr hättet euch nie wieder sehen dürfen.
»Ich weiß. Es war unfair.« Raoul schraubte die Flasche auf und schenkte sich ein Glas ein. Er kippte es hinunter und schloss die Augen. Es war nicht vernünftig, jetzt zu trinken.
Der Code, nach dem du mich gefragt hast, hörte er Brad sagen. Schon mal was von der Langen Zählung der Maya gehört?
Raoul schüttete das Glas erneut voll. Der Alkohol beruhigte seine unter Hochspannung stehenden Nerven. »Was ist das?«
Brad schnurrte vor Wohlbehagen. Der Daimon liebte es, seinen Wirt mit Informationen zu füttern. Die Maya haben ein kompliziertes Kalendersystem entwickelt, das sich aus den Bewegungen der Sterne ergibt. Die lange Zählung umfasst 5125 Jahre, und das vierte Zeitalter des Maya-Kalenders endet am 21. Dezember. Es wird einen Haufen interessante astronomische Ereignisse geben, die zu diesem Zeitpunkt stattfinden. Du erinnerst dich an den Zahlencode? 12 Baktun 19 Katun 19 Tun 17 Uinal 19 Kin. Das ist das Datum, an dem das vierte Zeitalter endet.
»Weltuntergang«, murmelte Raoul und schenkte sich nach.
Nette Vorstellung, hm? Für euch Menschen wahrscheinlich ziemlich beängstigend.
Raoul dachte über Brads Worte nach. Die Lektüre von Karlas Weltuntergangsalben hatte ihm zum ersten Mal wirklich bewusst gemacht, in welchem Zustand sich die Welt befand. Es brannte an allen Ecken. Verschwörungstheorien und apokalyptische Szenarien beherrschten das Bild. Und das Schlimmste daran war, dass es niemandem auffiel. Die rasende Talfahrt war schon seit Jahren im Gang, und seit Jahren mehrten sich die Anzeichen, dass die Welt und ihre Bewohner zunehmend aus dem Gleichgewicht gerieten. Aber all das war inzwischen die Normalität.
Raoul zwang sich, den Verschluss auf die Flasche zu schrauben. Er sah, dass seine Finger zitterten. Hatte er Angst? Das war doch lächerlich!
»Ja, ich habe Angst«, flüsterte er und starrte die Flasche an. Er hatte noch nicht so viel getrunken. Er würde ein Taxi nehmen. Es war ohnehin noch zu früh, um im Hotchpotch aufzukreuzen. Das Glas klirrte, und der Wodka gluckerte hinein. Hast du gehört, Brad? Ich habe eine Scheißangst!
Der Daimon schwieg.
»… eine Scheißangst. Hast du gehört, Brad?« Raoul kniete auf dem Boden seines Badezimmers und hörte das Echo seiner eigenen Stimme. Er fühlte sich zittrig und desorientiert. Was hatte er gerade tun wollen? Anrufen. Nein, fortgehen. Er wollte in diesen Nichtmenschen-Schuppen in der Altstadt.
Raoul kämpfte seine Übelkeit nieder und rekapitulierte die letzten Stunden. Karla saß in einer Arrestzelle der MID. Er hatte Faustina angerufen und bei Tora-san um Hilfe gebeten, und dann hatte er Quass in eins dieser komplizierten Schuld-Gegenschuld-Verhältnisse gezerrt, wie sie nur ein Drachengehirn ersinnen konnte. Also hatte er alles in Bewegung gesetzt, was in Bewegung zu setzen war.
Er stöhnte und zog sich am Waschbecken in die Höhe. Der Wodka war ein Fehler gewesen. Er drehte den Wasserhahn auf und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Mit der Routine langjähriger Übung band er blind seine Haare zum Zopf und fuhr sich prüfend mit den Fingerspitzen über die Wangen und den Kinnbart.
Raoul öffnete die Badezimmertür und erkannte erleichtert, dass es immer noch dunkel war. Das Schlafzimmer lag im Dämmerlicht, aber er konnte sehen, dass überall Sachen verstreut lagen. Brad hatte Raouls kurze Abwesenheit offensichtlich genutzt, um das zu tun, was er am besten beherrschte: Durcheinander erzeugen. Daimonen waren entropische Wesen, das Chaos war ihr Lebensraum, und sie fühlten sich am wohlsten bei jeder Form von Auflösung und Unordnung.
Durch das halb geöffnete Fenster wehte für diese Jahreszeit erstaunlich schwülwarme Luft herein. In den letzten Stunden schien sich ein Gewitter zusammengebraut zu haben. Raoul ließ mit einer Handbewegung die kleine Stehlampe neben der Tür aufleuchten, um nicht über eine von Brads Hinterlassenschaften zu stolpern, und öffnete den Schrank. Er nahm eine Jeans vom Bügel. Zu aufgetakelt sollte man im Hotchpotch lieber nicht erscheinen, wenn man nicht den ganzen Abend auf seine Brieftasche aufpassen wollte.
Raoul bückte sich, um zum Outfit passende Schuhe aus der Schublade zu holen, und starrte verblüfft ein Paar kleine Turnschuhe an, die neben seinen Sneakers standen. Er richtete sich auf und musterte den Schrankinhalt. Das war nicht seine Hose. Dort lagen ordentlich zusammengelegt zwei T-Shirts und ein Sweatshirt, die er definitiv nicht kannte. Und in dem Fach darunter konnte er Wäsche erkennen, die eindeutig einem weiblichen Wesen gehörte.
Wann hatte Brad dieses Zeug hier versteckt? Und wem seiner Teilzeit-Amouren gehörte es? Der kleinen Rothaarigen, die immer ihre Schminkutensilien über das ganze Bad verteilte?
»Brad?«
Der Daimon gab keine Antwort. Wahrscheinlich streifte er durch den Æther und tankte Informationen. Raoul würde später ein ernstes Wort mit ihm reden. Die Kleider mussten verschwinden. Dafür stand schließlich der Schrank im Ankleidezimmer, in dem Brad Kleider und Wäsche für seine Freundinnen verwahrte.
Raoul zog sich an, schnürte seine Sneakers und blieb dann einen Moment lang auf der Bettkante sitzen. »Du wirst alt, Junge«, sagte er halblaut. »Ein paar Gläser Wodka, und du fühlst dich, als hätte dich jemand drei Wochen lang als Fußabtreter benutzt.«
Mit einem resignierten Schnaufen stand er auf und öffnete die Schlafzimmertür. Er griff nach seinem Stab, der im Papierkorb steckte (wie betrunken war er eigentlich? Er fühlte sich verkatert, aber nicht wirklich alkoholisiert) und nahm seine Lederjacke vom Haken neben der Eingangstür.
Als Raoul die Hand nach der Türklinke ausstreckte, hörte er, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und das Schloss aufschnappte. Er sprang zurück und drückte sich hinter der Tür an die Wand.
Der Eintretende warf seinen Schlüsselbund auf die Ablage und ging ins Wohnzimmer. Raoul konnte kurz eine schlanke, hochgewachsene Silhouette erkennen, die einer großen Frau zu gehören schien – oder einem jungen Mann mit nicht allzu breiten Schultern.
Dann war der Eindringling im Arbeitszimmer und hantierte dort herum. Raoul packte seinen Stab fester und schlich hinter dem Fremden her.
Als er das Zimmer betrat, verschwand der Fremde gerade im Schlafzimmer. Raoul lief schnell und lautlos hinter ihm her. Die kleine Stehlampe neben der Tür brannte noch, und in ihrem Licht sah er, wie der Eindringling seine Jacke auszog und aufs Bett warf. Das warme Licht der Lampe schimmerte auf blondem Haar und beleuchtete ein beinahe durchsichtig blasses Gesicht mit spröden Linien, einem zornigen Mund und müden grauen Augen.
»Karla!«, sagte Raoul verblüfft. »Wie …«
Sie fuhr herum, fauchte: »Du hast wieder ein solches Chaos im Arbeitszimmer gemacht, es ist zum Kotzen!«, und war mit zwei langen Schritten im Badezimmer verschwunden.
Raoul schüttelte sich kurz wie eine Katze, die einen Wassertropfen abbekommen hat, und ging hinter ihr her. »Wo kommst du …?«
Seine Frage wurde von einer Hand unterbrochen, die seine Schulter ergriff und ihn heranzog, einer zweiten, die sein Kinn packte, und schließlich endgültig von einem Mund erstickt, der seine Lippen mit einem energischen, wütenden Kuss schloss. Raoul wollte zurückzucken, aber sein Verstand wurde von seinem Körper überstimmt, der erstaunlich gelassen und routiniert auf das seltsame Ereignis reagierte. Seine Hände machten sich selbstständig auf den Weg und legten sich um ihre Hüften. Während sein Verstand Salti schlug, erwiderten seine Lippen den Kuss, als hätten sie das schon tausendmal getan.
»Verdammt«, murmelte er in den Kuss hinein. »Wie lange?«
Sie ließ ihn los, schob ihn von sich fort, musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Der harte, angespannte Ausdruck machte einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und Verlegenheit Platz. »Raoul?«, fragte sie. »Hat er dich wirklich endlich …?« Sie sprach nicht weiter, denn anscheinend entdeckte sie etwas in seiner Erscheinung, das ihre Frage beantwortete. Sie stieß einen Laut aus, der zwischen Stöhnen und Lachen lag und zog Raoul in eine feste Umarmung. »Er hat dich endlich freigelassen«, raunte ihre Stimme in sein Ohr. Sie roch nach Kaffee und Kräutershampoo, und ihr kühler, kantiger Körper lag vertraut und fremd zugleich in seinen Armen. »Ich habe schon nicht mehr damit gerechnet. Raoul, er ist so ein Scheißkerl.«
»Du hast mit Brad geschlafen«, sagte er. In seinem Kopf drehte sich alles. »Wie konntest du nur … Wie … wie lange?«
Sie entließ ihn aus der Umarmung und wischte sich kurz und ärgerlich über die Augen. »Vier Monate.«
Raoul ließ sich auf die Badewannenkante sinken. »Vier …«
»Und zwei Wochen.« Karla hockte sich vor ihn und nahm seine Hand. »Ich habe dafür gesorgt, dass er dich nicht vollkommen runterarbeitet. Er hat regelmäßig gegessen, sich gewaschen, und ich habe mir alle Mühe gegeben, ihn vom Saufen abzuhalten.« Sie verzog das Gesicht. »Was er außer Alkohol alles so zu sich nimmt, ist beinahe noch schlimmer. Raoul, dein Daimon ist ein Breitband-Junkie.«
»Das sind sie alle«, sagte er automatisch. »Wir haben Sommer.« Er versuchte, seinen Verstand davon abzuhalten, zu kreischen und gegen Wände zu laufen. Und dann begann er zu zittern. »Scheißangst«, keuchte er, bevor seine Muskeln sich verkrampften und die Zähne sich so fest aufeinanderpressten, dass es schmerzte. Sein Blickfeld verengte sich, bis er wie durch einen Tunnelausgang nur noch Karlas besorgtes Gesicht sah. »Klapp mir nicht zusammen«, hörte er sie sagen.
Sein Herz raste. Eine solche Panikattacke hatte er schon einmal erlebt, aber damals war Tora an seiner Seite gewesen und hatte ihn mit ruhiger Stimme hindurchgeleitet. Es hatte paradoxerweise geholfen, dass sie dabei eine Waffe auf ihn gerichtet hielt, deren Mündung genau auf seine Stirn zielte.
Karla verschwand, er hörte durch das laute Summen in seinen Ohren Wasser rauschen. Dann schlug ihm ein eiskalter, nasser Lappen ins Genick. Er keuchte, kippte nach vorne. Arme fingen ihn auf, und er fand sich an Karlas Brust gelehnt auf dem Boden wieder. Das Licht kehrte zurück, das Zittern ließ nach. »Sommer«, ächzte er. »Steht die Welt noch?«
Karlas Arme griffen fester zu. Er spürte ihren Herzschlag, ihren Atem. Ihre Hände waren kühl. »Sie steht noch«, erwiderte sie. »Aber alles wird schlimmer. Brad hat es eingrenzen können. Wir glauben zu wissen, was dahintersteckt.«
Raoul fuhr mit den Händen über sein Gesicht und seinen Kopf. »Ich muss den Anschluss wiederfinden.« Er drehte sich zu ihr um. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Ausdruck, den er nicht zu deuten wusste. Blass war sie, hohlwangig und dünn, als wäre sie krank. Das ärmellose schwarze Top, das sie trug, ließ ihre helle Haut noch weißer erscheinen. Ihre Armbeugen und die Haut an der Innenseite der Handgelenke waren übersät mit winzigen Narben, die im Licht glänzten. Raoul riss seinen Blick davon los und fixierte ihn wieder auf ihr Gesicht. Sie sah so fremd aus, dass er zurückwich. »Was bist du?«, fragte er unwillkürlich. »Bist du …«
Das Lächeln, das ihr Gesicht erhellte, löste die Spannung. »Menschlich«, sagte sie. »Immer noch. Komm, gib mir die Hand.« Sie packte fest zu und zog ihn auf die Füße. »Ich war drei Tage fort. Er hat dich wieder hungern lassen.« Sie lenkte ihn zur Tür hinaus. »Er weiß, dass er deswegen einen Höllenärger mit mir bekommt, aber ich glaube, er genießt das.«
Der Druck ihrer Hand war so beruhigend wie seltsam. Es hatte in seinem Leben so wenig körperlichen Kontakt zu anderen Menschen gegeben, dass er nun Mühe hatte, diese Berührung zu ertragen. Wie seltsam war es gewesen, sich von Karla küssen und berühren zu lassen – ihren Kuss und ihre Berührungen zu erwidern.
Karla schob ihn zum Tisch in der Küche. »Hinsetzen! Ich mache dir ein Spiegelei auf Brot. Das kann ich.« Sie grinste. »Ich bin eine lausige Köchin, Langer.«
Sie holte die Pfanne heraus, stellte das Gas an und ging dann zum Kühlschrank, um die Eier herauszunehmen. Raoul sah zu, wie sie die Tür öffnete, und stieß ein ersticktes »Nein« aus. Die falsche Tür. Brads Seite …
Karla ließ sich nicht davon beirren. Sie beugte sich vor und holte ein Paket Eier und eine angebrochene Packung Frühstücksspeck aus dem Kühlschrank. Raoul sah, dass er voller normaler Lebensmittel stand. Milch, Wasser, Butter, zwei Pfirsiche, eine Packung Toastbrot …
»Was ist mit Brads Ration?«, krächzte er.
Karla warf ihm einen Blick zu. »Scheißkerl«, sagte sie. »Dieser verrückte, sadistische …« Sie kniff die Lippen zusammen und schlug energisch zwei Eier in die Pfanne.
Raoul schloss die Augen und stützte den Kopf in die Hände. »O nein. Du willst nicht sagen, dass er die ganze Zeit …« Bilder sprangen vor seinen Augen auf. Jedes Mal, wo er versehentlich die falsche Tür geöffnet hatte. Die widerliche Prozedur, die verrottenden Reste zu entfernen und den Kühlschrank zu säubern, ehe die frische Lieferung kam. All die Male, wo sich Raoul vor dem Kühlschrank wiedergefunden hatte, den Geschmack von Blut und verwesendem Fleisch im Mund …
Karla gab einen mitfühlenden Laut von sich. »Soll ich sie von beiden Seiten backen?«
Er beugte sich vor und würgte. »Ich weiß nicht, ob ich etwas herunterbringe.«
Sie ließ die Eier auf eine gebutterte Scheibe Brot gleiten und stellte ihm den Teller hin. »Hier. Wir gehen nachher noch richtig essen, zu Nevio und Faustina. Die beiden werden sich freuen, dass du wieder da bist.«
Er überwand sich und schob einen Bissen in den Mund. Das Ei war heiß und etwas versalzen, aber es schmeckte köstlich.
Sie sah ihm beim Essen zu, mit einer undeutbaren Miene, die Augen düster verschattet. »Du musst ihn loswerden«, sagte sie halblaut. »Er ist der Boss in eurer Beziehung. Du weißt das.«
Raoul zog die Schultern schützend empor. Das hätte Tora sagen können. »Wir sind …«, sagte er und schob den Teller weg. »Wir sind eine Person, Karla. Du kannst uns nicht mehr auseinanderdividieren. Er ist ich, ich bin er. Es ist …« Er suchte nach Worten und hob dann die Hände, verschränkte die Finger ineinander und schloss sie zur Faust. »Nicht mehr zu ändern.«
Sie stützte das Kinn in die Hand. »Scheiße.«
Raoul lachte bitter auf und erhob sich. »Gehen wir ins Arbeitszimmer?«
Karla räumte den Teller in die Spülmaschine, wischte sich die Hände ab und folgte ihm. Er warf ihr verstohlene Blicke zu. Sie sagte, sie sei ein Mensch. Immer noch. Aber wenn er sie so draußen auf der Straße getroffen hätte, wäre er ohne Zweifel davon ausgegangen, dass er eine Nachtgeborene vor sich hatte. Sie bewegte sich wie ein Vampir, sie schien schärfere Sinne zu haben, die Dunkelheit in der Wohnung schien ihr nicht aufzufallen, sie sah aus, als hätte sie seit Monaten kein Sonnenlicht gesehen …
»Hast du mit Brad geschlafen?«, kam er zu der Frage zurück, die sie nicht beantwortet hatte. Er dachte an die Kleider in seinem Schrank. Sie gehörten Karla, ohne Zweifel.
Sie hob die Schultern. »Ist das wichtig?«
Er schluckte. »Nein«, erwiderte er rau. »Doch, für mich … wir beide sind ja nur Kollegen, kein … ach, ich weiß es nicht, Hölle und Teufel!«
Karla sah ihn kühl an. »Ich sage dir, es gibt tausendfach Wichtigeres als diese Frage.« Sie zog den zweiten Stuhl an den Schreibtisch, der mit Papieren und Ordnern übersät war. »Du wirst dich bei deinem Drachenfreund melden müssen«, sagte sie, während sie mit schnellen Griffen Ordnung in das Chaos brachte. »Er hat jede Woche mindestens einmal hier angerufen. Er macht sich Sorgen. Und Faustina auch. Und natürlich Tora-san – sie hat mir einige wirklich üble Dinge angedroht, wenn ich nicht gut auf dich achte.«
Raoul nickte wieder. Das war es, damit hatte sie seine Freunde aufgezählt. Quass und Faustina. Tora. War da noch jemand? Er erinnerte sich nicht.
Er bemerkte, dass Karla ihn beobachtete. »He«, sagte sie erstaunlich sanft, »Sei froh, dass du wieder an der Oberfläche bist. Ich bin es jedenfalls!«
Raoul sortierte seine Gedanken. Sie nahm Anrufe für ihn entgegen. Sie hantierte in seiner Küche herum, als wäre es ihre eigene. Kleider von ihr in seinem Schrank. Ihr Schlüsselbund auf der Ablage neben der Tür. »Du wohnst hier?«
Karla hörte auf, Papiere zu stapeln. »Ich hätte dich fragen müssen. Aber ich kann mir meine Bude im Moment nicht leisten, und Brad meinte, ich könnte genauso gut hier …«
Raoul lehnte den Kopf zurück und starrte an die Decke. »Womit wir wieder beim Thema wären.« Er schnaubte und begann zu lachen. »Ich habe eine Mitbewohnerin. Na. Ist mal was Neues. Lieber du als die Sorte, die Brad sonst so anschleppt.«
Er senkte den Blick und sah, wie sich ihr Gesicht verschloss. Seine Worte hatten sie verletzt. Raoul schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich bin ein Idiot. Aber mir fehlen vier Monate meines Lebens, und ich bin vollkommen desorientiert. Die MID hatte dich festgenommen. Ich habe sämtliche neun Höllenkreise für dich in Bewegung gesetzt. Und Brad hat mich am selben Abend aus dem Verkehr gezogen. Was ist passiert?«
Karla starrte auf ihre Hände nieder. »Das ist keine Geschichte, die ich gerne erzähle«, sagte sie. »Danke, dass du mich rausholen wolltest.« Sie biss sich fest auf die Lippe. »Santo hat es von Faustina erfahren und hat sich um mich gekümmert. Kerberos reiße ihm die Eier ab!«
»Wer ist Santo?«
Jetzt endlich hob sie den Kopf und sah ihn an, und er erschrak vor der Resignation ihres Blickes, die noch stärker war als die eiskalte Wut in ihrer Stimme. »Vittore Santo Perfido. Das Oberhaupt der hiesigen Nachtgeborenen. Mein hekateverfluchter Princeps.«