12. 19. 19. 04. 00.
»Und dann hatte dieses Kieselsteingehirn schon Fokko seinen Totschläger auf den Kopf gedroschen, ehe ich vom Boden wieder hochkam.« Karla bemerkte, dass das Pärchen am Nebentisch zu ihr hinsah, und schob mit den Stäbchen die Reste aus ihrer Schale in den Mund. Die süßscharfe Soße brannte am Gaumen und sie genoss den Nachgeschmack des Ingwers.
Raoul hatte das Kinn in die Hand gestützt und sah sie an. In der Schüssel zwischen ihnen schimmerte gelblich ein Curry und leuchtete ein roter Rest von Chili-Ingwer-Soße, und neben Karlas Teller klebte Reis auf dem Tischtuch. Sie pickte ihn mit den Stäbchen auf und warf ihn auf das Serviertablett. Dann deutete sie auf die Curry-Reste. »Mögen Sie das noch?«
Raoul schüttelte den Kopf und schob ihr die Schüssel hin.
»Es hat Ihnen nicht geschmeckt«, sagte Karla vorwurfsvoll. Wenn sie mit Fokko hier essen gegangen war, dann waren die Schüsseln immer blankgeputzt zurück in die Küche gegangen, und vorher hatte Karla zusehen müssen, dass sie sich ihren Anteil sicherte.
Raoul blinzelte, als wäre er schläfrig. »Nein, nein«, murmelte er. »Es war wirklich köstlich. Vor allem die Siebenunddreißig mit allem …« Er duckte sich und ließ Karlas Serviette über sich hinwegfliegen.
»Trinken wir noch einen Kaffee?« Karla war es peinlich, dass sie ihm jetzt auch noch von ihrem katastrophalen letzten Einsatz mit ihrem alten Partner erzählt hatte. Was ging ihn das an? Und was sollte er schon dazu sagen? Herzliches Beileid?
»Sie vermuten, dass Perfido dahintersteckt«, sagte Raoul. »Aber warum sollte er versuchen, Sie zu töten? So etwas zieht doch unweigerlich eine Aufmerksamkeit des Magisteriums mit sich, die er sich auf keinen Fall wünschen würde.«
Karla winkte ihrer Kellnerin. »Wir sind ihm zu sehr auf die Pelle gerückt«, erwiderte sie. »Ich war so unglaublich dicht dran, ihm die Explosion in der Wunderland-Diskothek nachzuweisen. Und wenn er das gewesen ist, dann hängt er auch in dem Kaufhaus-Ding drin, denn das trug die gleiche Handschrift.«
»Und jetzt bietet er Ihnen einen Job an?« Raoul hob die Brauen. »Das klingt für mich nicht logisch.«
Die Kellnerin brachte den Kaffee in winzigen Tassen. Karla kannte das Gebräu und schaufelte drei Löffel Zucker hinein, während Raoul ihr fasziniert dabei zusah. »Und Sie?«, fragte Karla und nippte vorsichtig. Heiß. Sehr heiß.
»Ich? Ich bin langweilig.« Raoul nahm das Tässchen und trank. Karla wartete auf den Schmerzenslaut, aber da kam nichts. Er setzte die leere Tasse ab und runzelte die Stirn. »Schmeckt ja grauenhaft.«
»Sie haben zu wenig Zucker reingetan.« Er musste einen asbestausgekleideten Rachen und eine Zunge aus Blei haben. Karla riss ihren Blick von seinem Mund los und ließ ihn zu seinen Augen emporwandern. Dunkler Bernstein, überschattet von schwarzen Wimpern.
»Langweilig?«, sagte sie. »Wenn Sie langweilig sind, bin ich Groucho Marx.«
Er grinste. »Wo ist Ihr Schnurrbart, Groucho?«
Karla lehnte sich zurück. »Nun kommen Sie schon. Erzählen Sie mir eine schmutzige Anekdote aus Ihrer wilden Jugend.«
Er lächelte nicht. Sein Gesichtsausdruck war so finster wie der des Porträts in seinem Wohnzimmer. »Ich bin nicht interessant«, sagte er, und Karla wunderte sich über die Schärfe in seiner Stimme. »Ich bin, was Sie sehen. Magier und Suchender.«
Nun stützte sie ihr Kinn in die Hand. »Suchender?«
Er zeichnete mit seinem Kaffeelöffel Linien aufs Tischtuch. »Jeder Magier ist ein Suchender.«
»Ist das so?«
»Würden wir uns sonst mit der Hohen Kunst beschäftigen?«
Karla schüttelte den Kopf. Das war ihr viel zu abgehoben. »Ich bin Hexe, weil ich die Fähigkeit besitze, eine zu sein. Und ich bin zur MID gegangen, weil ich gerne Rätsel löse.«
Er lachte. »Also habe ich recht: Sie sind eine Suchende.«
»Wenn Sie wollen.« Karla verspürte keine Lust auf Wortklaubereien. »Und Ihr Daimon? Wie gehört der ins Spiel?«
Seine Miene wurde ausdruckslos. »Er ist eine Hilfe. Ein Werkzeug. Nichts weiter.«
Karla schniefte skeptisch. Was sie bis jetzt von Brad gesehen hatte, machte allerdings einen vollkommen anderen Eindruck auf sie.
Sie sah auf die Uhr. »Ich muss los. Bringen Sie mich zu meinem Auto zurück?« Sie zog ihre Geldbörse aus der Jackentasche.
Raoul beugte sich vor und legte seine langfingrige Hand um ihr Handgelenk. »Darf ich das erledigen?«
Karla ließ die Berührung zu und erwiderte seinen Blick. »Es hat Ihnen doch noch nicht einmal geschmeckt.«
Er hielt immer noch ihre Hand fest. »Doch, das hat es. In Ihrer Gesellschaft zu dinieren war ein großes Vergnügen.«
»Dinieren«, lachte Karla. Sie zog ihre Hand zurück und steckte das Portemonnaie wieder ein. »Na gut. Heute sind Sie dran, Langer, und beim nächsten Mal ich.«
Sie fuhren durch die nächtlichen Straßen zurück zu Raouls Wohnung. Karla war still und nachdenklich. Sie hatte es vor sich hergeschoben, aber nun musste sie sich dem Gespräch mit Kit stellen. Sie fürchtete sich vor der Auseinandersetzung. Und noch mehr fürchtete sie sich vor dem, was sie erfahren würde und mit Sicherheit nicht wissen wollte. Kit und sie hatten alles Berufliche so weit wie möglich aus ihrer Beziehung herausgelassen. Mit dem, was sie von Perfido erfahren hatte, würden sie nun den sicheren Grund verlassen und schwankenden Boden betreten.
Karla seufzte. Sie würde sich heute Nacht der Frage stellen müssen, um deren Beantwortung sie sich schon seit zwei Jahren drückte. Liebte sie Kit Marley? Und falls sie ihn liebte – wie weit war sie bereit, dafür zu gehen?
Der Vampir saß an seinem Schreibtisch und brütete über einem Wust von Papieren, Kontobüchern und Rechnungen. Karla hatte sich immer darüber amüsiert, dass Kit diese Sachen nicht an einen seiner Angestellten delegierte. Er hatte einen Buchhalter und einen zweiten Geschäftsführer – warum, bei Kokopellis Buckel, ließ er die nicht den Papierkram erledigen?
»Kontrolle«, sagte er, ohne aufzublicken. Natürlich hatte er gespürt, dass sie hereingekommen war – wahrscheinlich schon, als sie unten durch die Haustür getreten war. Und natürlich wusste er, was sie gerade dachte, obwohl es dazu keiner Vampirsinne bedurft hätte. Sie zog ihn nämlich jedes Mal auf, wenn sie ihn bei seiner Büroarbeit erwischte. Ein Vampir, der Buchführung machte!
Kit sah auf und lächelte. »Du bist zu lesen wie ein offenes Buch.«
Karla schlug die Augen nieder und biss die Zähne zusammen. Wenn dem so war, dann brannte hier gleich die Hütte. Sie drehte sich um und legte ihre Jacke über einen Stuhl. »Hallo, Kit.«
»Hallo, meine Liebste.« Seine Stimme, so samtweich und zärtlich, dass sich ihre Nackenhärchen aufrichteten wie unter einer sanften Berührung. »Du hast mich gestern versetzt. War es etwas Schlimmes?«
Karla legte ihren Rucksack ab und drehte sich um. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Wieso fühlte sie sich jetzt schon in der Defensive? »Wie man es nimmt«, erwiderte sie in neutralem Ton. »Ich hatte einen anstrengenden Tag.«
Seine Augen weiteten und verengten sich sofort wieder. Karla konnte sehen, wie er Witterung aufnahm. Ein Raubtier. Sie verlor es gelegentlich aus den Augen, weil Kit so sanft sein konnte, so zartfühlend und so liebevoll. Aber er war ein verdammtes, blutgieriges, kaltblütiges Raubtier wie alle Vampire, und es wäre ein Riesenfehler von ihr, das jemals zu vergessen.
»Du hattest einen anstrengenden Tag«, wiederholte er und lehnte sich zurück. Sein Gesicht lag nun vollkommen im Schatten, und sie konnte nur den Tonfall und Klang seiner Stimme als Gradmesser seiner Stimmung nehmen. »Und das hat dich daran gehindert, mich abends anzurufen und mir mitzuteilen, dass du nicht kommen kannst.«
Sie hob die Schultern. »Kit, es tut mir leid. Ich hätte dich nicht einfach versetzen dürfen.«
»Nein, das hättest du nicht.« Seine Stimme klang so neutral, als läse er ihr aus der Zeitung vor. »Aber es ist nun mal geschehen. Ich nehme deine Entschuldigung an.«
Karla biss die Zähne zusammen. »Kit, verdammt, tu nicht so herablassend. Ich habe mich über etwas geärgert, was mit dir und deinen Geschäften zu tun hat. Du hast mir nie erzählt, wie gut du Perfido kennst.«
Kit veränderte seine Haltung nicht. Seine Hand, die entspannt auf dem Tisch geruht hatte, schloss sich langsam zur Faust und öffnete sich wieder. »Santo Perfido«, sagte er. »Was hast du mit ihm zu schaffen?«
»Er hat mich vor deiner Tür von seinen Gorillas abfangen und zu sich bringen lassen«, sagte sie. Ihre Stimme schwankte ein wenig. Die Wut, die sie empfand, war zu groß. »Er hat mir angeboten, für ihn zu arbeiten. Und dann hat er seinen lieben, alten Freund Christopher Marley grüßen lassen. Wir sollen bei Gelegenheit mal auf einen Drink zu ihm kommen.« Ihre Beherrschung sprang in Stücke. »Verdammt, Kit, das hättest du mir sagen müssen!«
Kit griff nach dem Füllfederhalter, der offen auf seinen Papieren lag, und schraubte ihn sorgfältig zu. »Es tut mir leid, dass du mit Santo zusammengestoßen bist.« Seine Stimme war so beherrscht und ruhig, dass sie ihn am liebsten gepackt und geschüttelt hätte. »Ich werde ihn bitten, sich bei dir zu entschuldigen.«
Es verschlug ihr den Atem. »Kit, du redest von einem der skrupellosesten und rücksichtslosesten Verbrecher, die unsere Stadt kennt.« Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast.«
Kit schwieg.
»Christopher, rede mit mir!« Karla beugte sich über den Tisch. Er saß vollkommen reglos da. Sein Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt. Dann öffnete er den Mund und sagte: »Quod me nutrit me destruit.«
Karla starrte ihn verständnislos an. »Was?«
»Was mich ernährt, zerstört mich.« Er lächelte schwach. Seine dunklen Augen waren wie tiefe, lichtlose Höhlen.
Das war die Inschrift auf seinem Porträt. Karla wandte sich ab, fuhr mit beiden Händen durch ihre Haare. »Du machst mich wahnsinnig, Kit. Was willst du mir jetzt damit sagen?«
»Santo ist mein Princeps.«
Sie wartete, dass er fortfuhr, aber Kit schwieg. Karla holte tief Luft. »Das heißt?«
Er spielte mit einem Briefbeschwerer aus Marmor, schob ihn über den Tisch, fühlte mit den Fingern darüber. »Ich möchte darüber nicht reden.«
»Kit!« Karla ballte die Fäuste. Grundregel Nummer eins für den Umgang mit Vampiren hatte sie während ihrer Ausbildung eingehämmert bekommen: Mach sie nicht wütend! Sie sind stärker, schneller, skrupelloser als du. Bleib ruhig. Sei geduldig. Appelliere an ihre Vernunft. Und mach sie nicht wütend!
»Du kannst mich nicht so abspeisen. Perfido ist verdächtig, eine Reihe von Verbrechen begangen zu haben, deren Aufklärung zu meiner Arbeit gehört. Er ist schuld daran, dass Fokko Tjarks im Koma liegt! Er hat versucht, mich zu beeinflussen!« Sie merkte, dass sie ihn anschrie.
Kit saß reglos in seinem Stuhl. Seine Miene war kalt wie die Nacht. »Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen«, sagte er beherrscht.
Karla spürte die Glut unter der kühlen Fassade und atmete tief durch. »Ich habe kein Recht, dich anzuschreien. Aber du hattest kein Recht, mich zu belügen.«
»Ich habe dich nicht belogen!«
»Was heißt das, er ist dein Princeps?« Erster. Das Wort »Fürst« stammte aus dieser Wurzel.
»Das geht euch Taggeborene nichts an!« Jetzt wurde auch er etwas lauter. Seine Hand ballte sich um den Briefbeschwerer. Karla sah, wie seine Knöchel weiß wurden. Mach sie nicht wütend …
»Wenn du Wert darauf legst, eine Taggeborene in deiner Nähe zu haben, dann wirst du damit leben müssen, dass sie Fragen stellt und Antworten erwartet!« Ihre zornige Zunge war schneller als die mahnende Vernunft.
Der Briefbeschwerer zerbröselte in Kits Händen zu Staub und Marmorsplittern. Ehe Karla auch nur eine Bewegung machen konnte, war er schon schattengleich und schnell wie ein Gedanke an ihrer Seite, hatte ihre Arme gepackt und hielt sie mit einem knochenbrechenden Griff umklammert. Karla hatte ihn noch nie zuvor so in Rage erlebt. Seine Augen waren groß und tiefschwarz, das Gesicht weiß vor Zorn, und seine Lippen entblößten Zähne, die spitz und gefährlich vor ihren Augen schimmerten.
»Kit«, sagte sie gepresst, »du willst mir nicht wehtun.«
Er fauchte nur. Regel eins: Mach sie nicht wütend! Regel Nummer zwei: Zeig niemals deine Panik! Karla hatte selten Angst, aber in diesem Augenblick wurden ihr die Knie weich. Sie haben sich im Umgang mit uns Menschen unter Kontrolle, aber wehe, wenn sie die einmal verlieren sollten. Du kannst ihnen nichts anhaben. Sie sind stärker, schneller, blutgieriger als wir.
»Kit!« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie trat nach ihm, verdrehte ihren Körper, bis sie sich beinahe selbst die Schulter auskugelte. Sie hatte schon größere, muskulösere Männer auf die Matte geschickt, aber der Vampir besaß Kräfte, die menschliche Fähigkeiten weit überstiegen. Beinahe mühelos rang er ihren Widerstand nieder und schleuderte sie zu Boden. Dann war er über ihr, eine Gestalt aus Schatten und stählerner Gewalt, glühendem Zorn und scharfen Zähnen.
Karla wehrte sich mit aller Kraft, aber es war, als kämpfte sie gegen eine Naturgewalt. Er bog ihre Arme nach hinten und zwang sie, ihre Kehle zu entblößen. Niemals, solange sie sich liebten, hatte er von ihrer Halsschlagader getrunken. Es war zu gefährlich. Er hatte seinen Hunger meist an ihrem Handgelenk gestillt, weil das eine Stelle war, die seinen Durst nach ihrem Blut nicht zu stark anheizte.
Aber jetzt war er vollkommen außer Kontrolle und schnappte wie ein wilder Hund nach ihrem Hals. Sie wand sich und keuchte vor Anstrengung. Wenn es ihm gelang, ihre Haut zu ritzen, würde sie sich nicht mehr gegen ihn zur Wehr setzen können. Das betäubende Sekret schimmerte in wasserklaren Tröpfchen auf seinen Eckzähnen. Er war bereit zu töten.
Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals. Ein letzter Versuch, ihn abzuwerfen, scheiterte. Sie bog ihren Kopf zur Seite, riss ihn hoch, stieß mit ihm nach seiner Nase, aber er knurrte nur und wich aus. Wenn sie jetzt eine Waffe in Reichweite gehabt hätte, hätte Karla sie, ohne zu zögern, benutzt.
»Christopher!«, schrie sie, dann lag seine Hand um ihre Kehle und erstickte jedes weitere Wort, schnürte ihr den Atem ab. Sie gurgelte und kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben.
Seine Lippen legten sich auf ihren Hals, etwas ritzte ihre Haut. Ihre Glieder wurden schlaff, und sie spürte die Wirkung des Giftes durch ihre Adern brennen. Schwere, erstickende Dunkelheit senkte sich wie ein Sargdeckel auf sie. Ein kurzer, scharfer Schmerz an ihrem Hals, dann spürte sie nichts mehr.