12. 19. 19. 10. 18.

 

Sie schwiegen beide, während sie im Aufzug hinunterfuhren. Als die Tür des Aufzugs aufglitt, sagte Raoul: »Das war eine unbedachte Aktion, Karla.«

In seiner Stimme schwang keinerlei Vorwurf mit, deswegen reagierte sie nicht weniger gelassen. »Ich weiß. Es war spontan, und es hat Ergebnisse gebracht.«

Er nickte mit einem Gesichtsausdruck, der nicht besonders glücklich wirkte. »Ich glaube nicht, dass Quass derjenige ist, den wir suchen.«

Karla zuckte die Achseln. »Vielleicht deckt er ihn. Ich kenne ihn nicht gut genug, um das zu beurteilen. Du?«

Raoul setzte zu einer Antwort an. Schüttelte dann resigniert den Kopf. »Er ist ein Drache.«

Sie fuhren zum Hotchpotch. Karla trommelte mit den Fingern gegen das Glas der Seitenscheibe. »Ein Memplex-Generator«, sagte sie. »Unglaublich.«

»Und ein Versatiler, der die Dinger baut. Das wird Tora nicht gefallen. Sie hat immer gegen die gekämpft, die Versatile für eine latente Gefahr halten und sie am liebsten irgendwo einsperren würden.«

»Das ist aber die Wahrheit«, entgegnete Karla heftig. »Wer sich an keinerlei Regeln hält und zu keiner Gemeinschaft gehören möchte …« Sie brach ab und rieb sich über die schmerzende Stirn. »So etwas wie ich«, setzte sie bitter hinzu. »Eine Gefahr für die Gesellschaft.«

Raoul berührte sacht ihre Schulter. »Nicht«, sagte er.

Karla schüttelte den Anfall von Selbstmitleid ab und nickte. »Du hast recht.« Sie rieb sich wieder über die Stirn. Die Kopfschmerzen wurden bohrend. »Hat er das mit dir auch gemacht?«

Raoul warf ihr einen schnellen Blick zu. »Ja«, sagte er. »War nicht angenehm. Aber du kommst an einen Drachen nicht anders heran. Er hätte dich wahrscheinlich auch sondiert, wenn du nicht in seinen Sachen rumgeschnüffelt hättest. Sie sind von Natur aus misstrauisch.«

»Paranoid, meinst du.« Karla ließ die Hand sinken und seufzte. »Na gut. Ein Memplex-Generator. Ich muss doch völlig irre sein, wenn ich an die Existenz eines solchen Geräts zu glauben beginne.«

»Es war ihm ernst damit.« Raoul parkte den Jaguar unter einer trüben Laterne. Sein besorgter Blick musterte die heruntergekommene Fassade des Hauses, vor dem sie standen. »HOT-POTCH« behauptete die knallbunte, zahnlückige Leuchtreklame des Lokals, die rhythmisch vor sich hin flackerte.

Karla grinste in sich hinein und öffnete die Wagentür. »Keine Sorge. Wir waren schön öfter hier.«

Raoul schloss das Auto ab und folgte ihr. »Wen treffen wir?«

»Sonny. Vadim Sonofabiˇc.« Karla klemmte ihren Rucksack mit dem Ellbogen fest an den Leib und drängte sich durch das volle Lokal zur Theke durch.

Raoul wartete, wie sie ihm bedeutet hatte, in der Nähe der Tür. Er sah sich unbehaglich um. Das hier war eine Nichtmenschen-Lokalität, in der jeder Mensch auffiel wie eine Tulpe im Gemüsebeet, aber Karla bewegte sich durch die Menge, als wäre sie hier zu Hause. Sie grüßte hier, warf da eine Bemerkung hin, klopfte auf eine Schulter und lehnte die Einladung ab, sich zu jemandem zu setzen. Dann hatte sie die Theke erreicht und sprach mit der blondierten Trollfrau, die das Bier zapfte.

»Wir waren schon öfter hier?«, murmelte Raoul. »Wir?«

»He, Großer«, knarrte eine heisere Stimme in der Höhe seines Ellbogens. »Wo haste deine Freundin gelassen?«

Raoul senkte den Blick und starrte in die gelben Augen des Kobolds, der mit einem Bierglas in der Hand neben ihm stand. »Karla?«, fragte er zurück.

»Nee, Lady Gaga!« Der Kobold rülpste. »Sonny hat nach ihr gefragt.«

»Sie ist hinten.« Raoul deutete über die Köpfe der Gäste hinweg zur Theke.

»Dann isses ja gut.« Der Kobold gab ihm einen freundlichen Knuff gegen das Knie und wandte sich ab. »Bis die Tage, Brad.« Er verschwand im Gewühl.

Raoul seufzte. Er sah, dass ihn Blicke trafen, dass ihm zugenickt wurde, dass eine dunkelhaarige Frau – eine Banshee? – sogar ganz offen mit ihm flirtete. Anscheinend war er wirklich schon öfter hier gewesen. Er rief lautlos nach Brad, aber der Daimon verharrte in seiner Deckung.

Karla drängelte sich mit zwei Biergläsern in der Hand zu ihm zurück. »Hier«, sagte sie atemlos und drückte ihm eins davon in die Hand. »Ich hoffe, du magst das. Brad hat immer …« Sie verschluckte den Rest des Satzes, weil sie sein Gesicht sah, und trank.

»Dein Date?«, fragte Raoul schroff.

»Sonny war hier, aber ich habe ihn wohl verpasst.« Karla zuckte mit den Achseln. »Ich glaube sowieso nicht, dass er was für mich hat. Er sollte … Ah!« Sie hob die Hand und winkte. »Sonny! Hier!«

Die Menge teilte sich und ließ einen grobknochigen Nichtmenschen durch. Er grinste Karla breit an und klopfte Raoul auf den Rücken. »Hallo, Lieblingsschnüffler.« Er deutete auf die Tür, die in ein Nebenzimmer führte. »Zu laut hier.«

Raoul musterte die Ohren des Nichtmenschen, die groß und behaart waren und ein wenig zitterten.

Das Nebenzimmer war kaum weniger voll, das Stimmengewirr nicht leiser, aber dafür fehlte die musikalische Bedröhnung. Sonny schnaufte und schüttelte heftig den Kopf. »Schrecklich«, sagte er. »Setzen wir uns?« Er steuerte auf einen Tisch in der Ecke zu, an dem ein Bilwisspärchen saß, Händchen hielt und miteinander flüsterte. »He, Korntreter«, sagte Sonny und klopfte auf die Tischplatte. »Das ist mein Tisch. Zieht Leine!«

Der Bilwissmann protestierte, aber seine Freundin zog ihn am Ellbogen weg. Raoul sah den beiden nach, wie sie sich zwei Tische weiter zu einer betrunkenen Dryade setzten. »Bilwisse«, sagte er. »Dryaden und Wurdelaks. Wo kommen auf einmal all die Leute her?«

Sonny hatte sich den besten Platz auf der Bank gesichert und streckte schnaufend die Beine aus. Modergeruch stieg aus seinem fleckigen Mantel. »Im letzten Jahr sind viele von denen in die Stadt gekommen«, sagte er und streckte die Hand nach dem Päckchen Zigaretten aus, das Karla ihm schweigend reichte. »Finden auf dem Land kein Auskommen mehr.« Er riss die Packung auf und steckte gleich zwei Zigaretten auf einmal in den Mund. »Wo habt ihr den Wurdelak gesehen?«, fragte er kauend. »Ich kenn nur einen …«

Raoul packte ihn beim Kragen. Sonny hörte auf zu kauen und starrte ihn verblüfft an. »Wer?«, fragte Raoul scharf. »Für wen arbeitet er?«

Karla beugte sich vor und löste Raouls Finger von Sonnys Kragen. »Langsam«, sagte sie. »Er wird es uns schon sagen, Raoul.«

Der Blick des Nichtmenschen wanderte von Raoul zu ihr. »Raoul?«, sagte er misstrauisch und machte Anstalten, sich zu erheben. »Verscheißert ihr mich?«

»Setz dich, Sonofabiˇc!« Karla hielt ihn zurück. »Du bist doch sonst so schlau.«

Der Nichtmensch beugte sich vor und schnüffelte. »Dachte schon, dass er falsch riecht«, beschwerte er sich. »Das ist nicht Brad.«

»Das ist Brads Wirt. Jetzt komm schon, Sonny. Was ist mit diesem Wurdelak? Es ist wichtig.«

Er lehnte sich zurück und verschränkte mit beleidigter Miene die Arme. »Du hast mich losgeschickt, damit ich was rausfinde«, nörgelte er. »Ich hab mir für dich den Arsch aufgerissen. Und jetzt löcherst du mich wegen dieses bescheuerten Wurdelaks. He, ist euch die Info auch was wert? Sollten wir nicht zuerst über den Preis sprechen?«

Raoul packte erneut den speckigen Kragen des Kerls. »Du sagst uns, was du weißt«, knurrte er. »Und dann entscheiden wir, was die Information wert ist. Okay?«

»Ist ja gut.« Der Mann machte sich frei und richtete seinen Mantel. Sein Blick flackerte zu Karla. »Aufgeregtes Kerlchen, dein Freund. Lass ihn doch das nächste Mal einfach zu Hause, ja?«

»Komm schon«, sagte Karla in versöhnlichem Ton. »Er ist in Ordnung. Wir hatten nur gestern Nacht einen üblen Zusammenstoß mit einem Wurdelak. Er hat auf uns geschossen.«

Sonofabiˇc wurde blass unter seiner wettergegerbten Haut. »Oje«, sagte er. Seine schwieligen Finger griffen nach den Zigaretten. »Das ist übel.« Er kaute und beugte sich vor. »Der Kerl ist ein Dienstmann.« Er nickte bedeutungsvoll.

»Das heißt?« Karla bemühte sich, nicht ungeduldig zu klingen.

»Er arbeitet auf Honorarbasis. Aufträge. Ihr versteht schon! So was wie gestern.«

»Ein Auftragskiller.«

»Ja. Auch das.« Sonny seufzte. »Dürfte schwierig werden, herauszufinden, für wen er arbeitet. Aber ich versuche es.«

Karla nickte. »Danke, Sonny. Du bestimmst dein Honorar.«

Sonny grinste. »Du bist in Ordnung«, sagte er herzlich. »He, verlass den Blödmann, zieh zu mir.«

Karla lachte und klopfte ihm auf die Schulter. »Aber gerne, Sonny. Es war schon immer mein Traum, mit einem Skratti zusammenzuleben.«

Auch so einer, der auf dem Land kein Auskommen mehr fand, dachte Raoul.

Karla und der Skratti steckten die Köpfe zusammen, und Sonny gab seinen Bericht ab. Klatsch und Tratsch aus der Unterwelt, viel unwesentliches Zeug, aber hier und da mochte in all dem Abfall auch ein Goldkörnchen versteckt sein. Das war Arbeit für Brad.

Raoul ließ seinen Blick wandern. Das war eine dieser Spelunken, in denen man auf jede Sorte Wesen treffen konnte. Er wollte Schneewittchen heißen, wenn hier nicht auch Versatile verkehrten.

»Ich hole uns noch was zu trinken«, sagte er und stand auf.

Im vorderen Gastraum stellte er sich neben die Banshee, die ihn eben so unverhohlen angeflirtet hatte. »Hallo«, sagte er.

»Hi, Brad.« Ihre weißen Finger strichen zärtlich über seinen Arm. »Du hast dich ganz schön rargemacht. Gehen wir zu mir?«

Er ließ es zu, dass sie sich an ihn schmiegte. Sie roch ganz zart nach Flieder, und ihre gelben Augen glänzten vor Verlangen. Raoul sah den phosphoreszierenden Schimmer in ihren Pupillen und wich ein wenig zurück. »Ich bin nicht alleine hier«, sagte er.

Die Banshee schüttelte das lackschwarz glänzende Haar aus ihrem Gesicht und warf schmollend die Lippen auf. »Die magere Hexe.« Sie schnaubte verächtlich. »Sie ist eine Halb-und-Halbe. Wie kannst du so etwas hier anschleppen, Brad?«

Er zuckte die Achseln. »Wir sind befreundet.«

Sie klimperte mit den Wimpern und kniff Raoul spielerisch in die Wange. »Mit ihr befreundet«, sagte sie. »Du bist schon ein Irrer. Na, dann bis zum nächsten Mal, da bist du hoffentlich wieder ohne Begleitung hier.« Sie hob sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Ihre Lippen waren kalt.

»He, warte«, sagte Raoul, als sie ihn losließ und sich abwandte. »Weißt du, ob Versatile hier sind?«

Sie drehte sich noch einmal um und warf ihm einen koketten Blick zu. »Was bekomme ich dafür?«

Raoul erwiderte unbeirrt ihren flammenden Blick. »Ich lade dich ein.«

»O-kie«, erwiderte sie fröhlich. Sie packte seine Hand und zog ihn zur Theke. »Gella, einen Sekt. Nicht die billige Plörre, hörst du? Brad zahlt.«

Die Trollfrau grinste breit und holte eine Flasche aus dem Kühlschrank. Raoul nickte und hielt zwei Finger hoch.

Die Banshee nippte an ihrem Glas und seufzte verzückt und leckte einen Tropfen von ihrer Lippe. »Also, was wolltest du wissen?« Sie drehte sich um und musterte die Menge. »Dort hinten, in der Nische«, zeigte sie. »Der Dicke. Das ist einer von denen.« Sie drehte sich wieder zur Theke und trank ihr Glas leer. »Ah. Das ist so gut.« Ihr Blick klebte an dem zweiten Glas. Raoul grinste und schob es ihr hin.

Er ließ sich weiter durch den Raum treiben, bis er in der Nähe der Nische ankam, auf die Sereena gezeigt hatte. Dort saß ein Mann hinter einem halb leeren Glas Bier und las in einem Buch ohne Schutzumschlag. Raoul ging vorbei, als suchte er nach jemandem, und sah den Mann dabei aus dem Augenwinkel an. Er war in den Vierzigern, füllig, wirkte unauffällig – wenn man davon absah, dass er sich in einer Kneipe aufhielt, die vor allem von Nichtmenschen frequentiert wurde.

Raoul drehte sich um, und im gleichen Augenblick sah der Mann von seinem Buch auf. Ihre Blicke trafen sich. Raoul erwartete, dass der Versatile wieder gleichgültig den Kopf senken würde, aber zu seiner Überraschung nickte er ihm zu und gab Raoul ein Zeichen, sich zu ihm zu setzen.

Raoul rückte auf die Bank und sah den Versatilen abwartend an.

»Ich dachte, wir wollten uns nicht in der Öffentlichkeit treffen«, eröffnete der Mann das Gespräch.

Raoul machte ein unbestimmtes Geräusch.

Der Versatile klappte sein Buch zu. »Gibt es ein Problem?« Er hatte ein rundes Gesicht mit besorgten kleinen Augen und einem viel zu kleinen Mund. Das verlieh ihm den Ausdruck eines ängstlichen Säuglings.

»Nein, nein«, beeilte Raoul sich zu versichern. »Alles bestens. Ich bin mit einer Bekannten hier.«

Der andere nickte. »Gut, dann bin ich ja beruhigt. Ich dachte schon …« Er rückte ein wenig vor: »Diese Bekannte – das ist die Ex-Schnüfflerin, oder?«

Raoul nickte widerstrebend. Der Versatile klopfte mit den Fingern auf den Tisch. »Hör mal, Brad, du hast recht. Stell sie mir vor. Dann laufen wir nicht Gefahr, dass sie uns in eine unangenehme Situation bringt.«

Raoul dachte rasend schnell nach. Karla würde ihn einen Kopf kürzer machen, wenn er diese Gelegenheit verstreichen ließ. Er stand auf. »Ich hole sie her.«

Karla saß alleine an ihrem Tisch und sichtete ihre Notizen. Sie blickte auf. »Gehen wir?«

Er berichtete kurz von seiner Begegnung. Karla stand auf und verstaute ihr Notizbuch. »Wie heißt der Typ?«

Raoul schnaubte. »Keine Ahnung.« Er schob Karla durch das Lokal bis zu der Nische. Der Mann blickte auf und nickte freundlich. »Sie sind also Brads Bekannte. Sehr erfreut.« Er erhob sich halb und reichte Karla die Hand.

»Karla van Zomeren«, sagte sie und lächelte.

»Libor Wolf«, erwiderte er. »Setzen Sie sich doch.« Er legte das Buch hin und faltete seine Hände darüber. »Sie haben bei der MID gearbeitet?«

Raoul spürte, wie Karla erstarrte. »Ja«, sagte sie knapp.

Wolf störte sich nicht an ihrer offensichtlichen Zurückhaltung. Er sagte: »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, dass all diese Regelungen vollkommen unnötige Begrenzungen unserer Fähigkeiten darstellen? Weißer Zweig, Schwarzer Zweig – alles nur Methoden, unabhängig denkende Geister zu verkrüppeln, sie möglichst schon als Kinder so zu indoktrinieren, dass sie niemals mehr zu freier Entfaltung ihrer Fähigkeiten kommen …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist so krank. Unsere schöne Kunst so zu deformieren.«

Raoul warf ihm einen Blick zu, schüttelte leicht den Kopf. Karla saß da und starrte mit angewiderter Miene an Wolf vorbei ins Leere.

»Was macht deine Arbeit?«, fragte Raoul ins Blaue hinein.

Libor Wolf drehte den Kopf und sah ihn verwundert an. »Willst du das wirklich hier …?« Seine plumpe Hand kreiste in der Luft und deutete dabei auch auf Karla.

Raoul lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Warum nicht? Wir arbeiten schließlich zusammen.«

Wolfs kleiner Mund formte ein verwundertes O. »Ja«, sagte er dann zögernd. »Nun gut. Ich habe einige Fortschritte bei der Bündelung der verschiedenen Phasen gemacht. Du weißt, dass es extrem schwierig ist, Ætherströmungen zu verfolgen, ohne sie schon durch die Beobachtung zu verändern. Das macht jede daimonenunabhängige Kommunikation im Æther so gut wie unmöglich. Wenn man aber den Schwarzraum anzapft und daraus Energie für die Übermittlung …«

Karla beugte sich heftig vor. »Sie spielen wahrhaftig mit Schwarzraumenergie herum? Sind Sie wahnsinnig?«

Libor Wolf blinzelte beleidigt. »Ich spiele nicht herum. Ich bin der anerkannte Schwarzraumexperte dieses Landes – nein, dieses Erdteils! Sie werden niemanden finden, der mehr darüber weiß als ich. Nur weil der Weiße Zweig zu engstirnig ist, von seinem konservativen Ansatz …«

»Also bitte«, unterbrach Karla ihn erneut. »Ich bin vielleicht keine Expertin, aber ich weiß genug darüber, um zu begreifen, dass Schwarzraumenergie vollkommen unkontrollierbar ist. Niemand kann vorhersagen, was alles geschehen könnte, wenn man daran herumpfuscht!«

»Sie haben keine Ahnung!«, fauchte Wolf. »Schwarzraumenergie könnte mit einem Schlag eine Menge unserer Energieprobleme lösen. All diese schmutzigen Atomkraftwerke, die wirklich vollkommen unkalkulierbar und unkontrollierbar sind – wir haben doch erlebt, was im letzten Jahr in Japan passiert ist, und das kann jederzeit überall geschehen. Wie viele dieser Kraftwerke sind weltweit in Betrieb? Wie viele davon sind marode, überaltert, überlastet?«

Karla biss sich auf die Lippe. Raoul wusste, dass ihre Schwester in so einem Kraftwerk arbeitete und was Karla von den Dingern hielt. Wenn sie Wolf auch noch so abscheulich fand – sie würde ihm kaum widersprechen.

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, sagte sie. »Ich halte ganz sicher nichts von Atomkraftwerken, aber meiner Meinung nach ist Schwarzraumenergie noch weitaus unkontrollierbarer und gefährlicher.«

»Libor, hast du jemanden im Kollegenkreis, der sich mit Memplexen auskennt?«, warf Raoul hastig dazwischen.

Wolf erstarrte. Seine Hände schlossen sich um das Buch, und seine Augen flackerten nach rechts und links. »Memplexe? Nein. Nein, auf keinen Fall. Das ist nicht mein Gebiet, Brad. Warum fragst du mich so etwas? Oh! Ich habe völlig vergessen, dass ich noch einen Termin habe. Wichtig. Ich muss dringend weg.« Er stand so hastig auf, dass der Tisch einen Satz machte, und drückte sich an Karla vorbei. »War mir ein Vergnügen. Wir sehen uns, Brad.«

Er rannte beinahe zur Tür. Raoul sah ihm nach und seufzte. »Ich bin ein Idiot.«

»Nein, er ist ein Idiot.« Karla schwang ihren Rucksack über die Schulter. »Gehen wir. Ich weiß ohnehin nicht, ob die Spur zu den Versatilen uns wirklich weiterbringt.«

Vor der Tür war es beinahe schmerzhaft ruhig nach dem Lärm im Hotchpotch. Die Luft war weich und roch nach Sommer. Sie standen eine Weile nur da und atmeten. »Ich bin ein wenig erschöpft«, brach Raoul das Schweigen. »Wenn du nichts mehr vorhast, würde ich gerne nach Hause gehen.«

Karla wandte ihm das Gesicht zu. Sie musterte ihn und machte dabei ein zorniges Gesicht. »Ich bin doch …«, rief sie. »Raoul, du hast nichts gegessen. Nach dem Blutverlust gestern hättest du heute Ruhe und ein paar ordentliche Mahlzeiten gebraucht – und ich schleife dich den ganzen Tag durch die Gegend!« Sie griff nach seinem Ellbogen und schob ihn zum Auto. »Fahr zu Faustina, lass dich abfüttern«, befahl sie. »Danach legst du dich schlafen. Ich besichtige morgen früh eine Wohnung, danach können wir zusammen frühstücken. Und wenn du Langeweile hast, sieh dir die Kugel an, die ich aus deiner Schulter operiert habe. Vielleicht findest du ja etwas über den Schützen heraus.«

Raoul, der gerade in den Jaguar steigen wollte, hielt inne. »Du besichtigst eine Wohnung? Warum?«

»Weil ich schon lange genug auf deine Kosten lebe. Meine Ersparnisse reichen noch, bis ich einen neuen Job gefunden habe. Ich hab schon ein paar Bewerbungen draußen.«

»Aber du musst nicht …«, widersprach Raoul. Ihm war schwindlig, und er hielt sich am Türholm fest. »Du musst dir keine teure Wohnung suchen.«

»Ich ziehe jedenfalls nicht in die Villa«, sagte Karla heftig. »Und es ist auch keine Option, auf ewig in deinem Gästezimmer zu leben. Ich brauche genauso meine Privatsphäre wie du.«

Er schüttelte den Kopf. »Sieh dir zuerst die Wohnung unterm Dach an, ehe du irgend so ein Loch mietest.«

Karla ging nicht auf seine Worte ein. Sie musterte ihn mitleidig. »Du bist ganz blass. Schaffst du es zum Pagliacci, oder soll ich dich fahren?«

»Warum kommst du nicht mit? Du hast auch noch nichts gegessen.«

»Ich suche noch nach jemandem aus der Gens.«

Raoul sah ihr nach, während ihre schlanke Gestalt in den Schatten der lichten Sommernacht verschwand. Sie bewegte sich wie eine Nachtgeborene – im einen Moment konnte er sie noch sehen, dann war sie verschwunden.

Erst mit ein wenig Verzögerung begriff sein müdes Gehirn, was sie mit ihren Worten gemeint hatte: Sie war auf der Suche nach einem Vampir, dem sie ihr Blut und ihre Essentia anbieten konnte. Raoul schlug erbittert auf das Lenkrad, ehe er den Wagen startete.

Last days on Earth: Thriller
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