12. 19. 19. 10. 19.
Raoul hatte natürlich recht gehabt: Die Wohnung, zu deren Besichtigung sie an diesem Morgen aufgebrochen war, hatte sich als ein völlig überteuertes Rattenloch entpuppt. Es gestaltete sich erstaunlich schwierig, eine bezahlbare, einigermaßen zentral gelegene Unterkunft zu finden.
Sie schloss die Wohnungstür auf und rief: »Bin wieder da«, während sie die Schlüssel auf die Ablage warf und ihren Rucksack unter die Garderobe stellte. Sie ging in die Küche, befüllte die Kaffeemaschine und durchsuchte den Kühlschrank nach Eiern, Butter und Käse.
»Guten Morgen«, sagte eine verschlafene Stimme. Raoul lehnte gähnend und mit zerrauften Haaren am Türrahmen. Die beiden letzten Nächte hatten deutliche Spuren hinterlassen, er wirkte wie ein angezählter Boxer, der auf den erlösenden Gong wartet. »Du siehst aus, als könntest du einen starken Kaffee vertragen«, sagte Karla. »Was macht dein Kopf?«
Er hob die Hand und betastete vorsichtig seine Schläfe. »Uhmmm«, machte er. »Es könnte besser sein.« Er löste sich vom Türpfosten und machte eine unbestimmte Geste in Richtung Bad. »Ich halte mich mal eben unter kaltes Wasser. Frühstück? Gute Idee.« Er schlurfte davon.
Karla briet Spiegeleier und versuchte, sie nicht anbrennen zu lassen. Der Kaffee gurgelte mit einem stöhnenden Geräusch in die Kanne und verströmte sein herbes Aroma, das sich mit dem Geruch der frischen Brötchen mischte. Karla ertappte sich dabei, dass sie leise vor sich hin pfiff.
Als Raoul mit nassen Haaren und klareren Augen aus dem Badezimmer kam, saß sie bei ihrer ersten Tasse Kaffee und las die Zeitung. »Schon wieder ein Hochhausbrand«, sagte sie.
Raoul griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich ein. Karla sah aus dem Augenwinkel, dass seine Hände zitterten. »Wie war die Wohnung?«
»Schrecklich.« Karla schnitt ein Brötchen auf und legte es auf seinen Teller. Er sah sie verwundert an. Karla hob die Brauen. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich fange nicht an, dich zu bemuttern. Hab nur keine Lust, die Krankenschwester zu spielen, wenn du dir die Hand aufschneidest.« Sie musterte den Schnitt in seiner Handfläche.
»Das war eine beruflich notwendige Verletzung«, erklärte er würdevoll. »Ich habe gestern noch den Aufenthaltsort unseres Mörderkommandos herauszufinden versucht.«
Karla hörte sich an, was er zu berichten hatte. Sie lachte, als er von der falsch geeichten Pistolenkugel berichtete und dabei ein Gesicht machte wie ein Schuljunge, der seine Hausaufgaben vergessen hat.
»Du meinst, du hättest eher Erfolg gehabt, wenn du nach dem Schützen gesucht hättest und nicht nach seinem Auftraggeber?«
Raoul bestätigte das mit grimmiger Miene und biss in sein zweites Brötchen. »Ich habe mir jetzt einen guten Teil der fehlenden Erinnerungen angeeignet«, sagte er. »Ist euch aufgefallen, dass ein bestimmtes Motiv immer wieder auftaucht, und zwar völlig zusammenhanglos?«
»Welches Motiv wäre das?«
»Ein Datum und die damit zusammenhängende Überlieferung. Der 21. Dezember.«
»Das Ende der Langen Zählung«, sagte Karla. »Maya-Kalender. Eine der bevorzugten Weltuntergangstheorien in diesem Jahr.«
»So ist es. Du bist doch die Fachfrau für morphisches Dingsda. Was sagst du zu der Feldstärke dieser Theorie?«
Karla dachte nach. Dann nickte sie. »Eine jahrtausendealte Überlieferung, ein Glaube, ein mathematisches oder astronomisches System, eine Kultur, deren Nachfahren immer noch Bezug dazu haben, und eine außerordentlich große Resonanz bei Menschen, die in irgendeiner Weise auf Weltuntergangstheorien abfahren … das dürfte ein verdammt starkes Feld sein. Gut überlegt, Chaosmagier.«
Raoul fuhr sich mit den Fingern durch seinen kurzen Bart. »Und was ist mit dem Memplex-Generator? Wie könnte er damit zusammenhängen?«
Karla schob ihren Stuhl zurück und streckte die Beine aus. Sie fühlte sich zugleich angenehm matt und unternehmungslustig. Das war immer so, wenn ihr Essentia-Spiegel wieder auf Normal-Null stand. »Warten wir ab, was Sonny anschleppt.«
»Dann werden wir uns noch Norxis von Felsenstein ansehen«, ergänzte Raoul. »Ob uns das etwas bringt, wage ich aber zu bezweifeln. Er ist ein konservativer Drache, wenn ich Quass richtig verstanden habe.«
»Das heißt?«
»Er mag keine Menschen. Er findet sie unangenehm, lästig und vollkommen uninteressant.«
Karla machte sich Notizen. »Maya-Kalender«, sagte sie. »Wo finden wir jemanden, der sich damit auskennt?«
»Ich frage Tora. Sie kennt so ziemlich jeden Experten in diesem Land.«
»Dann verfolgen wir den Memplex-Generator-Faden und die Verbindung zu den Versatilen.« Karla schrieb »Sonny« hinter das Stichwort. »Das Killerkommando?«
Raoul runzelte die Stirn. »Warum sind die nur so stümperhaft vorgegangen? Sie hätten uns doch einfach abknallen können, und die Sache wäre erledigt gewesen.«
»Da hat jemand nicht viel Geld für einen Auftrag ausgegeben«, folgerte Karla. »Oder sie sollten uns gar nicht umbringen – nur erschrecken. Eine Warnung?«
»Die keinen Sinn ergibt, wenn man sie nicht ausspricht.«
»Wir werden es herausfinden, wenn wir diesen Wurdelak in die Mangel nehmen.« Karla stand auf und räumte ihre Tasse in die Spülmaschine. »Ich sehe in der Bibliothek nach Literatur über die Maya. Du versuchst den Wurdelak zu finden?«
»Warte«, hielt Raoul sie zurück, als sie zur Tür ging. »Ich habe das ernst gemeint, als ich dir die Dachwohnung angeboten habe. Willst du sie dir nicht wenigstens ansehen?«
Karla zögerte. Es war ein wirklich nettes Angebot. Raoul war ein großzügiger Mensch. Aber wollte sie wirklich von seiner Großzügigkeit abhängig sein? »Was kostet die Wohnung?«
Raoul seufzte. »Wenn ich jetzt sage: ›Nichts‹, wirfst du mir dein Notizbuch an den Kopf, wie ich dich kenne. Bezahl mir Strom und Heizung. Und wenn du einen Job hast, können wir über die Miete noch mal reden.«
Karla nickte knapp. »Danke«, sagte sie und fand selbst, dass es unfreundlich klang. »Ehrlich – danke«, setzte sie wärmer hinzu. »Du bist ein Freund.«
Raoul lächelte nicht, er sah erschreckt aus. »Ich habe keine Freunde«, verteidigte er sich.
»Jetzt schon«, erwiderte sie. »Quass und Tora-san … und mich.« Sie lächelte ihn an. »Du hast selbst gesagt, ich sei deine Freundin und das gebe dir das Recht, dich in meine Angelegenheiten zu mischen.«
Er wandte sich ab. Karla betrachtete ihn nachdenklich. »Warum trennst du dich nicht von ihm?«, fragte sie. »Er ist schuld daran, dass du es nicht wagst, Freundschaften zu schließen.«
»Das verstehst du nicht«, wehrte er ab. »Die Gemeinschaft mit einem Daimon ist etwas Lebenslängliches. Unsere Persönlichkeiten sind mittlerweile so miteinander verzahnt, verschmolzen und verwachsen, dass keiner von uns beiden das noch ändern könnte, ohne ernsthafte Schäden davonzutragen. Solch eine Gemeinschaft löst sich erst mit dem Tod des Wirtes.« Er senkte den Kopf, und Karla hörte den geflüsterten Nachsatz: »Wer weiß, ob das, was sich dann von meinem Körper löst, ein neugeborener Daimon ist. Einer, der auch meine Züge trägt …«
Karla schauderte. »Was für ein grässlicher Gedanke!«
»Ist er das?« Raoul fuhr herum. »Weiterzuexistieren, wenn deine Zeit schon längst abgelaufen ist? Hast du niemals darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn dich dein Liebhaber vollständig umwandeln würde? Wie es sich anfühlen muss, ewig zu leben? Hat dich dieser Gedanke nicht gereizt?«
»Nein«, erwiderte Karla empört.
»Niemals? Auch nicht im entferntesten Winkel deines Bewusstseins?«
Kit hatte es ihr angeboten, mehrmals. Und sie müsste lügen, wenn dieser Gedanke nicht verlockend gewesen wäre. »Ich habe darüber nachgedacht«, gab sie gereizt zu. »Aber es ist keine Option.«
»Nun, da unterscheiden wir uns. Ich habe schon als Junge …« Raoul unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Gleichgültig. Brad und ich sind eine Person. Wenn er dir etwas Böses antut, dann musst du mich zur Rechenschaft ziehen.«
Karla lachte auf. »Das kann ich nicht. Ihr seid so unterschiedlich, Raoul. Du bist nicht Brad.«
Raouls Gesichtsausdruck war starr wie der einer Maske. »Das weiß ich«, sagte er. »Aber er benutzt meinen Körper und damit bin ich verantwortlich. So lauten die Regeln.«
»Mag sein, aber es sind nicht meine Regeln«, fauchte Karla. Sie riss die Tür auf und schmetterte sie hinter sich zu. Warum war sie so wütend auf Raoul? Er war, was er war. Sie begriff diese seltsame Konstruktion nicht. Das Verhältnis, das Raoul zu seinem Symbionten hatte, erschien ihr krank und falsch. War das überhaupt eine Symbiose? Oder hatte Raoul sich freiwillig einem bösartigen Parasiten ausgeliefert, der ihn nun aussaugte und für seine Zwecke benutzte, bis Raoul aufgab und starb? Um als Daimon wiedergeboren zu werden?
Karla blieb auf der Treppe stehen und legte den Kopf in den Nacken. Wut war das eine, mangelnde Information das andere. Kurz entschlossen griff sie zu ihrem Handy und wählte.