12. 19. 19. 17. 17.
Karla saß auf dem warmen Betonboden des Balkons und lauschte ihrem Herzschlag. Was sie gleich tun würde, bedeutete eine Verletzung des Gleichgewichtes, wie sie es noch nie erlebt und schon gar nicht selbst erzeugt hatte. Dass sie so etwas überhaupt in Betracht zog, zeigte ihr, wie weit sie sich inzwischen von ihrem alten Leben entfernt hatte.
Kit kehrte zurück und brachte ihr Salz und ein Bündel weißer Kerzen. Er setzte sich still auf einen der Balkonstühle und sah ihr zu, wie sie das Salz verstreute. Karla klopfte ihre Hände ab und lächelte Kit an. »Ich rufe dich an, sobald ich mir einen Überblick verschafft habe.«
»Was denkst du, was los ist?« Seine Hände lagen still auf seinen Knien, und sein Gesicht war das des Dichters, nicht das des Geschäftsmanns. Dies war einer der Momente, in denen sie ihn von Herzen liebte. Sie kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. »Ich weiß es nicht«, sagte sie.
Er neigte den Kopf und musterte sie. »Pass auf dich auf.«
»Du auch.« Sie nahm sein Gesicht zwischen die Hände und küsste ihn. Dann stand sie auf, holte die Kerzen und stellte sie um den Kreis. Eine beiläufige Handbewegung, und sie brannten. Karla trat in den Kreis, schloss die unterbrochene Linie mit einem sorgfältigen Strich und stellte sich ins Zentrum. Eine Sekunde lang fürchtete sie, das Feld nicht anzapfen zu können – sie griff danach und fand die alten Bahnen immer noch verschlossen –, aber dann floss die Energie schon beinahe ohne ihr Zutun durch ihren Körper und lud sie so schnell auf, dass es sie wie eine kräftige Windböe schüttelte. Das morphische Feld war ungeheuer stark, viel stärker, als es normalerweise sein durfte, selbst in einer so großen Stadt. Karla verdrängte die Sorge, bündelte das Feld und schickte es wie einen Pfeil hinaus. Die Energie straffte sich, und als der Zauber sein Ziel erreicht hatte und dort wie mit Widerhaken haften blieb, riss ein Energieseil Karla aus dieser Schicht der Realität hinüber ins Zwischenreich, zerrte sie schnell wie ein Blinzeln durch den Æther und ließ sie am Ziel ankommen – außer Atem, ein wenig zerrupft und desorientiert, aber gesund und in einem Stück. Nicht, dass sie vorher davon überzeugt gewesen wäre. Solch einen Transport hatte sie noch nie zuvor probiert, und es hätte ebenso gut scheitern können.
Sie versuchte einen Moment lang, wieder zu Atem zu kommen, und prüfte währenddessen ihren Körper auf Vollständigkeit und ihren Geist auf unerwünschte Eindringlinge. Die Prüfung fiel zu ihrer Zufriedenheit aus, ihr Atem ging wieder normal, also blickte sie auf und orientierte sich. Die Zielgenauigkeit ihres unerprobten Zaubers entlockte ihr ein erfreutes Lächeln. Sie stand im trüben Tageslicht vor Raouls Haus. Unter ihren Füßen war Schneematsch, die Äste der Bäume waren winterlich kahl, und ein feuchtkalter Wind pfiff durch die Straße und ihre dünnen Kleider und ließ sie erstarren. Nach der schwülen Hitze, unter der sie vor ein paar Atemzügen noch gestöhnt hatte, war der Kontrast zu den winterlichen Temperaturen umso erschreckender. Karla klaubte mit klammen Fingern hastig ihre Schlüssel aus der Tasche und rettete sich in den Hausflur.
Sie lief die Treppe hinauf, drückte einmal kurz auf die Türklingel und wartete einen Moment, ehe sie den Schlüssel ins Schloss schob. Sie wollte Raoul nicht dadurch zu Tode erschrecken, dass sie plötzlich unangemeldet in seiner Wohnung stand. Falls er überhaupt zu Hause war – denn von drinnen war kein Mucks zu vernehmen.
Sie schloss die Tür hinter sich und stand in der dunklen Diele. Aus keinem der Zimmer drang Licht oder ein Geräusch. Karla stellte ihren Rucksack unter die Garderobe und schob die Tür zum Wohnzimmer auf.
Sie hörte die Bewegung, aber bevor sie sich umdrehen konnte, hatte sie jemand von hinten gepackt und drückte ihr die Luft ab. Karla wehrte sich gegen den Griff, trat und boxte nach hinten und traf auf Widerstand. Der Angreifer ächzte und verstärkte seinen Druck um ihren Hals. Etwas Spitzes bohrte sich in ihre Nierengegend, während sein hastiger Atem über ihre Wange strich.
Karla hörte auf, sich zu wehren, und ließ ihre Muskeln schlaff werden. Der Mann lockerte überrascht seinen Griff, und sie packte seinen Arm und verdrehte ihn. Sie hörte, wie etwas zu Boden klirrte und der Angreifer aufstöhnte. Das schwache Licht, das durch einen Spalt der zugezogenen Vorhänge hereinfiel, glitt über sein Gesicht, ehe er neben dem Messer, mit dem er sie bedroht hatte, zu Boden krachte.
Karla fluchte, betätigte den Lichtschalter und kniete hastig neben ihm nieder. »Raoul«, sagte sie. »Verdammt, du Idiot!«
Er stöhnte wieder und kroch von ihr weg. Sein Gesicht war verzerrt vor Schmerz und Panik. »Nein«, stammelte er. »Nein, bitte nicht, nein …« Er zog sich an einem Stuhl hoch und flüchtete zur Tür des Arbeitszimmers.
»Raoul!«, rief Karla, »Sieh mich an! Ich bin es, Karla!« Sie setzte ihm nach und griff nach seiner Schulter. Er fuhr herum, schlug blind nach ihr.
Karla duckte sich, umfasste seine Taille und brachte ihn erneut zu Fall. Sie kniete sich auf ihn und hielt seine Arme fest. »Raoul. Raoul! Ganz ruhig, Langer. Ich bin es. Karla.«
Jetzt schien sie zu ihm durchgedrungen zu sein. Der Ausdruck schierer Panik wich dem der Verblüffung und Sorge. Raoul hörte auf, sich gegen sie zu wehren, und sah sie an. »Karla«, sagte er. »Wieso – du bist irgendwo in Asien.«
»Ich bin auf dem schnellsten Weg zurückgekommen«, erwiderte Karla und stieg von ihm herunter. »Wenn ich gewusst hätte, wie herzlich du mich empfängst, hätte ich mir das vielleicht noch mal überlegt.« Sie half ihm, sich aufzusetzen. »Ich habe dich verletzt«, sagte sie. »Was ist es, der Arm? Die Schulter?« Sie knöpfte sein Hemd auf und betastete seinen Arm.
Raoul verzog das Gesicht. »Wo kommst du her?«, fragte er benommen.
»Das ist jetzt unwichtig. Was hast du dir dabei gedacht, mir hinter der Tür aufzulauern? Ich hätte dich ernsthaft verletzen können!« Sie legte ihre Hände um das ausgerenkte Gelenk und ließ Essentia hindurchfließen, bis das Energiefeld unter ihren Fingern wieder im gleichmäßigen Rhythmus pulsierte. »Besser?«
Er bewegte vorsichtig die Schulter und nickte. »Wo kommst du her?«, wiederholte er.
Sie reichte ihm die Hand und zog ihn auf die Beine. »Singapur. Jetzt lass das. Was ist los. Bericht, Winter.«
Er nickte matt. Sie sah einige scharfe Falten in seinem Gesicht, die noch vor ein paar Monaten nicht existiert hatten, und sein Blick hatte etwas Gehetztes. Karla milderte ihren Ton, der allein ihrer Besorgnis entsprang, und sagte: »Komm, Raoul. Ich koche uns einen Tee, und dann erzählst du mir, warum dich jemand umbringen will.«
Er ließ sich von ihr an den Küchentisch setzen und mit einem Becher Tee versorgen. Im hellen Licht der Küchenbeleuchtung sah er sogar noch schlimmer aus. Ein Tic ließ sein linkes Auge zucken, seine Hände blieben keine Sekunde ruhig, sondern fuhren unablässig über seine Kleider, den Tisch, nahmen den Zuckerlöffel auf, legten ihn wieder hin, drehten die Tasse, stellten sie wieder ab, fuhren zum Mund und über die Haare …
Karla setzte sich ihm gegenüber und nahm seine Hände. Sie schickte einen gleichmäßigen kleinen Strom Essentia in sein System, um ihm Ruhe zu geben, und sagte leise: »Erzähl.«
Er stieß den Atem aus und senkte den Kopf. »Ich werde auf Schritt und Tritt beobachtet und verfolgt. Zweimal ist auf mich geschossen worden, und nur Brads Aufmerksamkeit hat mich gerettet. Und dann diese seltsamen Geräusche vom Dachboden. Ich bin mit den Nerven völlig am Ende, Karla.«
Sie hielt den Zustrom an Lebensenergie weiter aufrecht, denn es schien ihn zu beruhigen. Ihre Gedanken rasten. »Was ist mit Quass?«, fragte sie schließlich.
Raoul blickte mit alarmierter Miene zur Tür. »Ist da jemand?«, flüsterte er und zog seine Hände aus Karlas Griff. Er schob den Stuhl zurück und ging zur Tür, um vorsichtig hinauszusehen.
Karla beobachtete ihn, wie er geduckt am Türrahmen stand. Seine Furcht, sein Misstrauen waren beinahe greifbar. Sie legte das Gesicht in die Hände und ordnete ihre Gedanken. Es war ganz offensichtlich vollkommen unmöglich, ein klares Wort aus Raoul herauszubekommen. Zu allem Überfluss waren die Schwingungen des morphischen Feldes so stark, dass sie Kopfschmerzen davon bekam. Wo kam diese übermäßig starke Sheldrake-Energie her?
Karla ignorierte ihren dröhnenden Schädel und sah fassungslos zu, wie Raoul ein Messer aus der Schublade nahm und ins Wohnzimmer schlich. Sie seufzte und stand auf. »Brad«, sagte sie laut. »Könntest du übernehmen? Ich muss mit dir reden!«
Sie folgte Raoul ins Wohnzimmer. Er stand an der Tür zur Diele und blickte auf das Messer in seiner Hand. Dann hob er den Kopf und grinste Karla an. »Sorry«, sagte er. »Wenn ich ihn nur mal kurz aus den Augen lasse, dreht er vollkommen durch. Hat er dich sehr erschreckt?«
Karla stieß den Atem aus und nickte erschöpft. »Was ist los, Brad? Seit wann benimmt er sich so?«
Der Daimon ließ achtlos das Messer fallen, das sich mit einem sirrenden Laut und einem dumpfen Schlag ins Parkett bohrte. Er setzte sich in den bequemsten Sessel und schlug die Beine übereinander. »Ich fürchte, das ist der ganz normale Verfall«, sagte er im Plauderton. »Er hat schon überdurchschnittlich lange durchgehalten. Taugen im Grunde nichts, diese organischen Gehirne. Sie brennen viel zu schnell durch.«
Karla setzte sich ihm gegenüber und rieb sich über die Augen. Der Druck auf ihren Schläfen wurde unerträglich. Es war, als wollte ihr jemand das Gehirn aus den Ohren quetschen. »Hör auf zu faseln«, sagte sie. »Ich brauche Fakten. Stimmt es, dass auf ihn geschossen wurde?«
Brad zuckte nonchalant die Achseln. »Nicht, dass ich wüsste. Hat er das erzählt?«
»Er sagte, du hättest ihn gerettet.«
Brad faltete die Hände hinter dem Kopf. »Damit hat er im Grunde sogar recht«, sagte er nachdenklich. »Ich bin im Augenblick seine geistige Gesundheit. Wenn ich mal kurz weg bin, siehst du ja, was geschieht.« Sein Lächeln war breit und unverschämt.
Karla nickte knapp. »Also alles Einbildung? Was ist mit Quass?«
Der Daimon hob eine Braue. »Der Drache? Ich denke, dass jemand versucht, ihn zu vergiften. Wahrscheinlich eins seiner schrecklichen schuppigen Familienmitglieder. Das ist nichts Ungewöhnliches. Aber ich gebe zu, es hat Raouls geistiger Stabilität nicht gerade gutgetan, dass sein bester Freund einen Verfolgungswahn entwickelt.«
»Es gibt also weder irgendwelche dunklen Mächte, die Raoul beschatten und bedrohen, noch ist jemals auf ihn geschossen worden, und auch die ominösen Geräusche auf dem Dachboden sind reine Phantasie«, fasste Karla ungeduldig zusammen.
Brad nickte und sagte: »Du kannst ihm helfen.«
»Wie?«
»Indem du mich übernimmst.« Brad fixierte sie eindringlich. »Er klammert sich an die Ruinen seines Verstandes. Das ist immer so, ich habe es schon tausendmal erlebt. Wenn ich jetzt gehe, wird er sich wieder regenerieren. Wahrscheinlich kann er sich in Zukunft nicht mehr selbstständig die Schuhe zubinden. Aber er wäre nicht vollkommen matschig im Kopf und auch irgendwie noch am Leben. Zum Spazierengehen und Blümchenpflücken reicht es sicher noch.«
Karla schauderte. Die Gefühllosigkeit, mit der Brad über seinen Wirt sprach, widerte sie an. »Und du glaubst, dass ich mich freiwillig in so ein Verhältnis begeben möchte?«, fragte sie. »Damit ich in ein paar Jahren auch überschnappe?«
Brad sah sie mit weit geöffneten Augen an. »Du bist älter und stabiler, als er es war, als er mich aufnahm«, sagte er. »Du kannst gut noch zwanzig, fünfundzwanzig Jahre durchhalten, bevor es zu den ersten Ausfallerscheinungen kommt. Und bis dahin hast du einen First-Class-Daimon zu deiner Verfügung.«
Karla schüttelte heftig den Kopf. »Nein, danke«, sagte sie.
Brad nahm es ohne erkennbare Gemütsregung zur Kenntnis. »Damit ist Raoul dann wohl erledigt«, sagte er sanft.
Karla stand auf und blickte auf ihn hinab. Sie war so zornig, dass sie ihn am liebsten geschlagen hätte. »Du wirst jetzt den Rest des Abends dafür sorgen, dass er sich ausruht«, sagte sie. »Bleib am Steuer, lass ihn schlafen. Ich habe noch etwas zu erledigen. Sobald ich zurückkomme, kannst du wieder deiner Wege gehen.«
Der Daimon nickte gleichgültig. »Kein Problem. Ich wollte ohnehin noch ein paar der Bücher lesen, die er gekauft hat.« Er stand auf und ging ins Arbeitszimmer.
Karla sah die geschlossene Tür an und murmelte einen Fluch.
Als sie ihre Wohnungstür öffnete, lockten einen Moment lang mit Macht ihre Dusche und ihr Bett, aber dann siegte die Sorge. Während sie sich umzog und ihren Rucksack aufräumte, rief sie ein Taxi, überprüfte die Türklingel – sie funktionierte wieder – und legte sich dann nur kurz auf ihr Bett, um sich während des Wartens ein wenig auszuruhen. Mit geschlossenen Augen spürte sie der Energie nach, die wie eine Gewitterwolke über der Stadt hing. Woher stammte dieses unglaublich starke Feld? War doch irgendwo ein großer Memplex-Generator in Betrieb, dessen Existenz sie für unmöglich gehalten hatte?
Sie ertappte sich dabei, dass sie nach nebenan lauschte. Waren da irgendwelche Geräusche? Sie hielt den Atem an. Aber außer dem normalen Brummen des Straßenverkehrs und einem leisen Gluckern und Surren, das wahrscheinlich vom Heizkörper kam, hörte sie nichts.
Die Türklingel ließ sie auffahren. Sie war eingeschlummert und fühlte sich bis auf die Knochen erschöpft und zerschlagen. Ein Jetlag der ganz besonderen Güteklasse, dachte sie.
Das Taxi wartete auf der anderen Straßenseite. Seine Scheinwerfer beleuchteten die Schneeflocken, die vom Himmel taumelten. Der Wind hatte sich gelegt. In der Ferne heulte eine Sirene, und Brandgeruch lag in der Luft. Karla zog die dicke Jacke enger, sie fror in der ungewohnten Kälte und vor Müdigkeit.
Vor dem Bankgebäude, auf dem Quass von Deyens Penthouse thronte, stand sie eine Weile im Schneetreiben. Sie betrachtete die großen Fenster der Bank, die mit Brettern geschützt waren. Auf dem Weg hierher hatte sie eine ganze Reihe solcher provisorisch vernagelter Schaufenster gesehen. Der Taxifahrer hatte sich entschuldigt, weil er nicht den kürzesten Weg nehmen konnte. Eine der Hauptstraßen war gesperrt, weil es am Tag zuvor in der Innenstadt wieder einmal zu Krawallen gekommen war, mit brennenden Autos und Gebäuden, Plünderungen und Toten. Dies ist der Weltuntergang, dachte Karla.
Dann griff sie nach ihrem Telefon und wählte. »Horace«, sagte sie, als der Butler sich meldete, »ich stehe unten. Lassen Sie mich ein?« Sie folgte den Instruktionen des Butlers, die sie um das Gebäude herum in eine Seitenstraße führten und dort zu einem unauffälligen Eingang. Als sie dort anlangte, surrte schon der Türöffner.
In der großen Empfangsdiele wartete der Butler auf sie. »Frau van Zomeren«, sagte er, »ich bin überrascht.«
»Horace, hören Sie auf, Konversation zu betreiben. Erzählen Sie mir, was Ihrem Herrn fehlt.«
Der Butler zögerte einen Moment. Dann verzog er seine dienstlich-ausdruckslose Miene zu einem Lächeln, das ihn um Jahre jünger wirken ließ. »Darf ich Sie in die Küche bitten?«, fragte er. »Dort ist es warm, und wir sind ungestört.«