12. 19. 19. 17. 17.
Horace berichtete, was er wusste, und das war so gut wie nichts. Etwa vor vier Wochen hatte Quass von Deyen begonnen, sich in seiner Bibliothek einzuschließen. Er weigerte sich, jemanden vorzulassen – auch Raoul nicht –, und ließ deutliche Anzeichen von Verfolgungswahn erkennen.
»Er vertraut nur noch mir«, sagte Horace und rührte mit sorgenvoller Miene Zucker in seinen Tee. »Niemand sonst darf zu ihm. Er will nicht ans Telefon gehen, weil er befürchtet, dass jemand aus dem Æther sein Gehirn mit Strahlung verseuchen könnte. Ich habe zwei Mitglieder seiner Familie angerufen, aber auch dort ist niemand bereit, ans Telefon zu gehen. Deren Dienerschaft ist ebenso ratlos wie ich.«
Karla benötigte einige Sekunden, bis sie begriff, was Horace ihr da erzählte. »Sie wollen damit sagen, dass auch andere Drachen betroffen sind?«
Er hob mit einer ratlosen Geste die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, Frau van Zomeren. Herr von Deyen ist die stabilste Persönlichkeit, die mir in meinem Leben je begegnet ist. Ich verstehe nicht, was ihn so verändert hat.«
»Gift? Ein Fluch?«
»Gift halte ich für ausgeschlossen.« Horace wirkte einen Augenblick lang gekränkt, dann schüttelte er mit einem entschuldigenden Lächeln den Kopf. »Alles, was mein Herr zu sich nimmt, geht vorher durch meine Hände.«
Karla nickte nachdenklich. »Dann bliebe immer noch die Frage, ob ihn – und die anderen Drachen – jemand verflucht hat.«
»Auch das halte ich für extrem unwahrscheinlich.« Horace zögerte. Sein sorgenfaltiges Gesicht unter den kurzen grauen Haaren spiegelte den Kampf, den er mit sich ausfocht. Dann stieß er resigniert Luft durch die Nase und zog einen seiner blendend weißen Handschuhe aus. Karla, die ihn noch nie mit nackten Händen gesehen hatte, starrte sie fasziniert an. Es war eine ganz gewöhnliche, sehr gepflegte Hand mit kurzen Nägeln und einer glatten Haut.
Horace hielt ihr die Hand hin. Karla, die nicht recht wusste, was er von ihr wollte, berührte sie mit den Fingerspitzen und saß dann wie erstarrt da. Kraftwellen. Magier und Hexen gaben sich nicht gerne die Hand. Jeder, der über magische Kräfte verfügte, konnte bei einem solchen Kontakt allerlei an Information über sein Gegenüber sammeln – seine Stärke, sein Potenzial, seine Ausrichtung …
»Sie sind ein Versatiler«, sagte Karla.
Horace zog seine Hand weg und schlüpfte wieder in den Handschuh, den er sorgfältig glättete. »So ist es«, bestätigte er. »Herr von Deyen suchte einen magiebegabten Butler. Unter anderem, um eventuellen Verfluchungen vorzubeugen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Karla. Sie rieb sich über die pochenden Schläfen. »Sind Sie der Konstrukteur des Memplex-Generators in seinem Arbeitszimmer?«
Horace schlug die Augen nieder und legte mit großer Sorgfalt den Löffel auf seine Untertasse. Er nahm den Henkel der Teetasse zwischen Daumen und Zeigefinger und hob sie zum Mund. Karla betrachtete ihn ungeduldig. »Ja«, sagte er schließlich und stellte die Tasse ab. Er tupfte sich die Lippen und seufzte. »So einen Generator baut Ihnen jeder von uns an einem Nachmittag zusammen. Die Baupläne sind kein Geheimnis. Es ist kinderleicht, Frau van Zomeren.«
»Das heißt, jeder, der einen Bauplan besitzt, kann einen solchen Generator herstellen?«
»Ja.«
»Und wenn man einen größeren Generator bauen will? Sagen wir – hundertmal so stark wie diesen?«
Seine Augen weiteten sich. »Das wäre eine Herausforderung. Aber ich denke, es wäre machbar.« Er runzelte die Stirn. »Wenn man einige kleine Generatoren koppelt – das könnte über eine verstärkte Schwarzraum-Kupplung funktionieren –, dann wäre es vielleicht möglich, diese zu einem größeren Komplex zu verbinden. Man müsste natürlich dafür sorgen, dass keine ungesteuerten Resonanzen entstehen, aber …«
Karla unterbrach ihn. »Sie haben so ein Gerät also nicht gebaut?«
Er verneinte beinahe betrübt.
Schwarzraum. Mit wem hatte sie in der Vergangenheit über Schwarzraum-Energie gesprochen? Karla trank ihren Tee und durchforstete ihre Erinnerungen, bis es ihr einfiel.
»Libor Wolf«, sagte sie. »Sagt Ihnen der Name etwas?«
Horace lächelte schwach. »Natürlich«, erwiderte er. »Wir sind nur eine kleine Gruppe hier in der Stadt, da kennt jeder jeden.«
»Er ist der Schwarzraum-Experte«, sagte Karla.
Horace nickte. »Wenn jemand wirklich eine Schwarzraum-Kupplung oder eine Batterie benötigt hat, dann wird er mit diesem Anliegen höchstwahrscheinlich bei Libor gelandet sein.«
Karla schloss halb die Augen. »Ich brauche also seine Telefonnummer. Aber zuerst möchte ich die Maschine sehen.«
Der Butler erhob sich. »Die Telefonnummer bekommen Sie von mir«, sagte er. »Und falls Sie eine Schwarzraumbatterie haben möchten, baue ich Ihnen die aus der Espressomaschine aus.«
Karla riss die Augen auf. »Sie betreiben nicht wirklich ein profanes Küchengerät mit hochgefährlicher Schwarzraumenergie!«
Horace nickte steif. »Der Dampf wird so sehr viel schneller heiß und verleiht dem Kaffeepulver eine unnachahmliche Note …« Er winkte ab und lächelte. »Das ist nicht interessant, verzeihen Sie.«
»Horace, wenn wir das alles hier überleben, möchte ich mich gerne länger mit Ihnen unterhalten«, erwiderte Karla und schob ihren Stuhl zurück. »Bauen Sie mir die Batterie aus, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht. Und ich hätte gerne einen dieser Baupläne.«
Der Generator war wirklich so einfach konstruiert, wie Horace es angekündigt hatte. Karla verglich den Bauplan mit der Maschine, die in der Kammer stand, und lauschte geistesabwesend dem leisen Summen des Gerätes. Sie markierte zwei Anschlussstellen auf dem Plan mit einem Fragezeichen und kroch dann hinter den Generator, um den Stromanschluss zu kontrollieren. Es überraschte sie nicht, als sie nichts dergleichen fand.
»Horace, Sie kommen gerade recht«, sagte sie und klopfte ihre Knie ab.
Der Butler stellte einen handtellergroßen Kubus auf den Tisch und hob fragend eine Braue.
»Wie wird der Generator angetrieben? Ich habe auf dem Plan nichts gefunden, was mir Aufschluss darüber gibt.«
Horace hockte sich neben sie und nahm mit zwei Handgriffen die vordere Blende des Generators ab. »Hier«, sagte er. »Das ist der Kollektor. Wenn er in Betrieb ist, lädt der Generator sich selbst auf.«
»Umgebungsenergie«, murmelte Karla. »Das ist genial. Selbst wenn das Sheldrake-Feld zu schwach wäre, reicht die morphische Resonanz wahrscheinlich vollkommen aus, um eine Energieschaukel zu erzeugen, die wiederum die Feldstärke ansteigen lässt.« Sie klopfte mit dem Zeigefinger an ihre Schneidezähne. »Wie stellt man das Ding ab?«
Horace schüttelte den Kopf. »Ich habe die strikte Anweisung, den Generator laufen zu lassen, egal, was passiert.«
Karla stemmte die Hände in die Hüften und musterte den Butler streng. »Ich glaube, dass dieser Generator in Verbindung mit der ungewöhnlich starken Sheldrake-Energie, die über dieser Stadt hängt, Ihren Herrn in den Wahnsinn treibt. Wenn Sie wollen, dass er wieder zu klarem Verstand kommt, würde ich an Ihrer Stelle das Gerät zu Kleinholz verarbeiten.«
Horace sah unsicher aus. »Was lässt Sie zu diesem Schluss kommen?«, fragte er.
»Ich hatte die Gelegenheit, mit einem Drachen Essentia auszutauschen«, erwiderte Karla. »Dieser Generator erzeugt eine ähnliche Wellenstruktur, aber sie hat durch die Wechselwirkung mit dem ungewöhnlich starken morphischen Feld eine Verzerrung erfahren, die möglicherweise die Systeme eines Drachen nicht verarbeiten können. Es ist eine Form der Vergiftung – als würden Sie Distickstoffmonoxid statt Sauerstoff atmen.«
Horace nickte langsam. »Das ist Ihre Vermutung.«
Karla hob die Hände. »Ich habe im Moment nichts anderes als Vermutungen. Aber als Ermittlerin habe ich gelernt, auch auf meine Intuition zu hören – und die schreit: Abschalten!«
Horace beugte sich vor und griff in das Innere des Gerätes.
»Warten Sie«, sagte Karla. »Zeigen Sie mir, was Sie da machen, damit ich es nötigenfalls wiederholen kann.«
Sie kniete sich neben den Butler und folgte aufmerksam seinen Handgriffen. Horace trennte zwei Leitungen von ihren Anschlüssen und legte dann einen Schalter um. Eine kleine Kontrolllampe blinkte hektisch auf. Der Generator summte immer noch gleichmäßig vor sich hin. Horace runzelte die Stirn.
»Das müsste jetzt eigentlich tot sein«, murmelte er und griff tief ins Innere der Maschine.
Karla studierte die Pläne. »Wenn der Generator wirklich die Resonanzschaukel benutzt …«, dachte sie laut.
Der Generator gab ein knirschendes Geräusch von sich und verstummte. Karla spürte, wie der Druck auf ihren Schläfen nachließ.
Horace stand auf. »Danke«, sagte er. »Der Hinweis war goldrichtig.« Er lachte und klopfte Karla auf die Schulter, dann deutete er eine peinlich berührte Verbeugung an. »Verzeihung. Das ist mir so herausgerutscht … Entschuldigen Sie!«
»Schon gut«, sagte Karla und grinste. »Wir sind ein Team. Kommen Sie, Horace. Bringen Sie mich zu Herrn von Deyen. Ich möchte sehen, wie es ihm geht.«
Der Butler führte Karla zu einer geschlossenen Tür. Er klopfte an und rief: »Herr von Deyen? Hier ist Besuch für Sie. Frau van Zomeren.«
Es blieb still. Der Butler sah Karla besorgt an und öffnete die Tür. Im Kamin verglomm rötlich der Rest eines Feuers, sonst war es dunkel. Horace betrat die Bibliothek und sagte: »Ich lege Holz nach, Herr von Deyen.«
Karla folgte dem Butler kurz entschlossen. »Herr von Deyen?«, sagte sie. »Entschuldigen Sie mein Eindringen …«
Feuer sprang vor ihren Augen aus der Dunkelheit. Sie riss unwillkürlich die Hände hoch und formte einen magischen Schild. Das Feuer brandete mit lautem Zischen gegen den Schutzwall. Sie hörte Horace rufen.
Karla zog sich schrittweise zurück, geblendet von der plötzlichen Helligkeit, halb taub von dem Lärm des Feuerstoßes. Als die Nachbilder der Flammen verblassten, erkannte sie den riesigen, sich windenden Drachenleib, der die große Bibliothek beinahe vollständig ausfüllte. Phosphoreszierende Wellen liefen über den schuppigen Körper, scharfe Krallen rissen tiefe Furchen in den Dielenboden, violett glühende Augen suchten ihren Blick, um sie zu bannen. Ein tiefes, unheilverkündendes Grollen ließ den Boden unter ihren Füßen erbeben. Karla schlug die Lider nieder und zog sich hastig zur Tür zurück.
Sie hörte, wie Horace den Namen des Drachen rief. »Herr von Deyen. Alles ist gut, bitte beruhigen Sie sich. Niemand will Ihnen schaden. Ich bin hier. Ich passe auf Sie auf. Sehen Sie, außer mir ist niemand im Raum. Ruhig. Ich mache Ihnen ein schönes Feuer. Ruhig …«
Karla blieb vor der Tür stehen und wischte sich mit zitternden Händen den Schweiß von der Stirn. War es am Ende gar nicht der Generator, der von Deyens Verstand zerrüttet hatte, sondern doch ein anderer giftiger Einfluss? Eine Form der Magie, die Horace, der Versatile, mit seinen Mitteln nicht zu entdecken vermochte?
Karlas Atem beruhigte sich. Sie wartete, bis Horace die Tür hinter sich schloss, und nahm dann seinen Arm. »Was denken Sie?«
Seine Lippen bildeten einen geraden, festen Strich in seinem blassen Gesicht. Er hob resigniert die Schultern. »Ich sehe nicht, dass das Abschalten des Generators etwas verändert hätte. Leider, Frau van Zomeren.«
Karla drückte seine Schulter. »Vielleicht ist dieses kranke morphische Feld insgesamt zu stark«, sagte sie. »Horace, ich befürchte, dass ich zu spät dran bin. Welches Datum haben wir?«
Der Butler sah sie verständnislos an. »Den 20. Dezember«, sagte er. »Was hat das Datum mit Herrn von Deyens Zustand …?«
Karla unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Geben Sie mir die Nummer dieses Schwarzraum-Experten. Irgendjemand betreibt einen großen Generator, und ich will nicht mehr Karla heißen, wenn das Ding nicht irgendwo hier in dieser Stadt steht!«
Der Butler entfernte sich wortlos.
»Und bringen Sie mir die Batterie mit«, rief Karla ihm nach. Sie wählte eine Nummer, klemmte ihr Telefon ans Ohr und wartete darauf, dass Tora-san sich meldete.
Die Großmeisterin sagte nur: »Ich hatte Sie gewarnt«, als Karla sie um einen Termin bat. »Na gut, kommen Sie vorbei.«
Horace wartete in diskretem Abstand, bis Karla das Gespräch beendet hatte, und reichte ihr dann die Schwarzraum-Batterie. Karla dankte ihm und sagte: »Ich rufe mir ein Taxi, dann sind Sie mich los.«
Der Butler schüttelte den Kopf. »Warten Sie. Ich sage Kastner Bescheid, damit er Sie fährt. Herr von Deyen würde das sicherlich wünschen.«
Karla dankte ihm, und wenig später stand ein livrierter Chauffeur in der Tür und geleitete sie zu einer dunklen Limousine, die Felsensteins Nobelschlitten glich wie ein Ei dem anderen. Anscheinend gab es, was Autos und Chauffeure betraf, einen Standard, den man als Drache einzuhalten hatte.
Karla machte es sich im Fond bequem und überdachte ihr weiteres Vorgehen. Unter der Nummer, die Horace ihr gegeben hatte, meldete sich nur eine Mailbox. Sie erkannte die Stimme des Versatilen, der mit ihr und Raoul im Hotchpotch gesprochen hatte.
Karla gähnte und sah auf die Uhr. Mitternacht. Der Morgen des 21. Dezembers brach gerade an. Weltuntergang. Wenn dieser Tag vorüber war, würde sie es endlich wissen …
Sie stapfte durch den Schneematsch auf Tora-sans Haus zu, während hinter ihr die Limousine davonglitt. Nirgendwo brannte Licht, aber in einem Fenster spiegelte sich der Widerschein von Kerzen. Karla suchte vergeblich nach der Türklingel und klopfte schließlich an die Tür.
Sie hörte leichte Schritte nahen, dann schwang die Tür auf, und Karla blickte in die Mündung einer erstaunlich großen Pistole. Sie lächelte verblüfft und erwartete, dass die finster dreinblickende Großmeisterin die Waffe senken und sie hereinbitten würde, aber statt dessen ruckte die Pistole ein Stück höher, bis sie genau auf Karlas Stirn zielte. Tora-san bedeutete ihr einzutreten und schloss die Tür. »Versuchen Sie keine Tricks«, hörte Karla die Großmeisterin sagen. Die Mündung der Waffe presste sich kalt in ihren Nacken.
»Vorwärts«, kommandierte Tora-san. Ihre Stimme klang so hart und unnachgiebig, wie das Metall der Waffe sich anfühlte.
Karla schnappte nach Luft. »Was haben Sie vor?«
»Ich werde mich mit Ihnen unterhalten.« Der Druck der Pistole trieb Karla ins Zimmer.
»Und wenn Sie das getan haben, werden Sie mich erschießen?«
»Möglicherweise. Wenn mir nichts anderes übrig bleibt.«
Karla spürte, dass ihre Knie weich wurden. »Sie haben auf Raoul geschossen«, sagte sie leise.
»Das habe ich.«
In einem verzweifelten Anfall von Todesverachtung duckte Karla sich und versuchte, den Arm mit der Waffe zu packen. Aber noch bevor sie das Handgelenk der Großmeisterin zu fassen bekam, traf sie ein harter Schlag gegen den Kopf, der sie in schwarze Bewusstlosigkeit schickte.