12. 19. 19. 12. 14.

 

Die nächste halbe Stunde schüttelten sie Hände, merkten sich Namen und ergingen sich in höflicher Konversation. Sie waren die einzigen Menschen im Saal, und Karla fragte sich, wie Quass seinen Gästen ihre Anwesenheit verkauft hatte. Dann hörte sie, wie Quass einem Drachen erklärte, dass Raoul Winter von Adlersflügel eine karitative Einrichtung ins Leben gerufen habe, die der Vorstand des Dragons Clubs auf der Liste der zu fördernden Einrichtungen zu setzen gedenke. Ein Waisenhaus für nichtmenschliche Kinder.

Karla verkniff sich ein Grinsen und nickte einer Drachenfrau zu, die sie neugierig anblickte. Drachenfrauen. Sie hatte nie darüber nachgedacht, dass auch weibliche Exemplare dieser Spezies existieren mussten. Ob es auch Drachenkinder gab? Es hieß allgemein, dass diejenigen Drachen, die auf der Welt lebten, die ursprüngliche Population repräsentierten. Drachen, sagte man, lebten ewig und waren so gut wie unverwundbar. Das sprach zumindest dagegen, dass sie sich fortpflanzen konnten. Andererseits waren sie multidimensionale Wesen, genau wie die Daimonen. Diese Welt war nur eins unter Myriaden von möglichen Biotopen für diese Spezies.

Diener eilten umher und boten den Gästen Tabletts mit Getränken an. Leise Musik untermalte die Gespräche und das Gelächter. Es mochte ja stimmen, dass Drachen im Prinzip ungesellige Wesen waren, aber heute schienen sie sich alle gut zu amüsieren. Karla merkte, dass sie sich entspannte. Sie nippte an dem Glas mit rosafarbenem Champagner und lauschte der Unterhaltung zweier Drachen, die sich in freundschaftlichem Ton über den Ausgang einer Wette stritten.

Sie schlenderte weiter. Als unwichtige Begleiterin des noblen Herrn Winter von Adlersflügel, der gerade von Vorstandsmitglied zu Vorstandsmitglied gereicht wurde, hatte sie keinerlei Funktion und konnte sich relativ unbemerkt bewegen. Sie hörte hier zu, wie zwei Drachenfrauen mit harten Bandagen ein Aktiengeschäft verhandelten, dort lauschte sie dem Klatsch zweier Männer über den erstaunlichen Lebenswandel eines dritten, dann stand sie am Buffet und sah zu, wie die Bediensteten letzte Hand an die reichhaltig gefüllten kalten Platten legten. Menschenessen. Sie hatte alles erwartet, aber dazu gehörten ganz sicher weder Austern noch Hummer, nicht das rosa gebratene Roastbeef und auch nicht die Spargelspitzen, keinesfalls die Salate, das Angebot an Käse und Brot, die Obstkörbe oder die geeiste Suppe.

Sie wandte sich um und stand dem Gastgeber gegenüber. »Hallo«, sagte sie und lächelte ihn an. »Sie sind sogar beim Buffet bis ins letzte Detail konsequent.«

Er lachte und legte die Hand an ihren Ellbogen. Seine Finger hatten beinahe die richtige Temperatur. Karla wagte einen schnellen Blick in seine Augen – dort allerdings endete die Maskerade.

»Es ist ein Kostümfest«, erklärte der Drache und geleitete sie zu einem der Tische. »Wir mögen solche Bälle. Es ist so pittoresk und überaus exotisch, sich einen Abend lang wie ein Mensch unter Menschen zu fühlen.«

Karla sah sich um und fragte leise: »Rechnen Sie noch mit Felsenstein?«

Quass wandte ihr sein Löwengesicht zu. Seine Hand, die immer noch leicht ihren Ellbogen berührte, schloss sich fest um ihren Arm. Karla hörte seine Stimme in ihrem Kopf: Keine Angst, Karla. Ich habe dafür gesorgt, dass das Gerücht die Runde macht, ich sei amtsmüde. Heute sind alle Mitglieder des Vorstands und so gut wie die gesamte Dragonity Europas hier bei mir versammelt. Er wird kommen.

Karla sah ihn verblüfft an. Er lächelte.

»Das haben Sie für uns getan?«

Sein Lächeln wurde stählern. Raoul und mich bindet ein Xanass. Er wünscht dieses Treffen, also sorge ich dafür.

»Ah, Quass, was für ein exquisites kleines Fest«, unterbrach sie eine dunkelhäutige Drachenfrau, die Schmuck im Gegenwert eines Staatshaushaltes am Leibe trug. Sie musterte Karla vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, entblößte lächelnd ein paar kräftige Zähne und sagte: »Meine Liebe. Wie entzückend!« Ihre Finger, die etwas zu lang waren und ein paar Knochen mehr als üblich zu enthalten schienen, berührten Karlas Collier.

»Danke«, sagte Karla. »Ich kann das Kompliment nur erwidern.«

»Ach, dieser billige Tand«, erwiderte die Drachin und legte eine Hand auf die Kette aus taubeneigroßen Saphiren, die auf ihrem Dekolleté baumelte. Ihre glitzernd gelben Augen musterten Karla weiterhin ungeniert mit dem Ausdruck von jemandem, der ein exotisches Tier im Zoo betrachtet. »Sie sind aber kein Mensch, oder?«

»Cosmea«, rügte Quass, »so etwas fragt man nicht.«

»Ist schon gut, Herr von Deyen, es stört mich nicht.« Karla blickte der Drachenfrau auf die Nasenwurzel und erklärte: »Ich bin eine sogenannte Halb-und-Halbe. Wissen Sie, was das ist?«

»Nein, aber es klingt interessant. Erzählen Sie mir mehr.« Die Drachenfrau griff nach Karlas Hand und zog sie zum Tisch.

Nach und nach nahmen alle Platz. Neugierige Blicke streiften Karla und Raoul, der jetzt auch wieder an ihre Seite kam. Er beugte sich über sie und deutete einen Kuss an, murmelte: »Was für eine illustre Schuppenbande. Aber Felsenstein fehlt noch immer.«

»Er kommt noch«, hauchte Karla ihm ins Ohr. »Quass hat einen Köder für ihn ausgelegt.«

Raoul nahm an ihrer Seite Platz, griff nach seinem Glas und trank. Er sah müde aus. Karla beugte sich zu ihm und fragte: »Wie viele Drachen gibt es in Europa? Achtzig, hundert?«

Raoul hob die Braue, sah sich um und pfiff tonlos durch die Zähne. »Du hast recht. Das hier dürften alle sein.«

Der Dragons Club. Karla begann zu begreifen. Der Club war kein Wohltätigkeitsverein für ein paar gelangweilte Drachen. Er war die Drachengemeinde des Kontinents. Alle. Die gesamte Dragonity.

»Wenn jetzt eine Bombe explodiert, bricht die Finanzwelt einiger Länder zusammen«, murmelte Raoul, der anscheinend den gleichen Gedanken verfolgte wie Karla.

Quass erhob sein Glas und erklärte das Buffet für eröffnet. Lachend erhoben sich die ersten Mutigen, um die aufgefahrenen Leckereien zu besichtigen.

Quass arbeitete sich unter höflichen Worten langsam zum Tisch vor, an dem Raoul und Karla saßen und das Treiben beobachteten. »Er kommt«, sagte er leise. »Der Aufzug ist in Betrieb.« Er zwinkerte Raoul zu und ging weiter.

Die ersten kehrten mit ihren Tellern an den Tisch zurück. Raoul erhob sich und reichte Karla die Hand. »Lass uns sehen, was es zu essen gibt.«

Karla hatte keinen Appetit, und auch Raoul starrte missvergnügt die Delikatessen an, doch sie wollten keine Aufmerksamkeit erregen. Die Köche bemühten sich derweil, ihnen alles zu erklären. Anscheinend waren sie wählerisches Publikum gewöhnt.

Schließlich hatten beide Teller in der Hand. »Ich mag mich nicht wieder neben diese Cosmea setzen«, sagte Karla.

»Wir können hier schlecht stehen bleiben«, erwiderte Raoul. Er nickte einer Gruppe von Drachen zu, an deren Tisch noch zwei Plätze frei waren, und schob Karla dorthin.

»Schau einer an«, sagte Karla und ignorierte das Lächeln eines vorbeidefilierenden blonden Drachenmanns, der sie unter gesenkten Lidern betrachtete. »Das Collier wirkt.« Sie grinste und aß ihren Salat auf.

An der Tür des Ballsaals entstand Unruhe. Jemand trat ein und wurde mit Begeisterung empfangen.

»Großer Auftritt«, kommentierte Raoul. Er kniff die Augen zusammen und erhob sich, und Karla folgte seinem Beispiel.

Der Mann, der jetzt durch die Schar der Gäste pflügte wie ein Eisbrecher, hatte der Kleiderordnung der Einladung nur sehr nachlässig Folge geleistet. Er trug einen Frack, aber seine Gestalt war nur mit äußerstem Wohlwollen als menschlich zu bezeichnen. Karla hörte, wie Raoul einen gedämpften Fluch ausstieß. Er polierte sein Monokel, blickte hindurch, zuckte resigniert die Achseln und ließ es wieder fallen. »Ändert nichts«, murmelte er.

Norxis von Felsenstein war ein Hüne, einen Kopf größer als alle anderen, so breit wie ein Schrank und ebenso kantig. Aus dem blendend weißen Kragen seines Hemdes ragte ein stromlinienförmiger, glänzend schwarzer Schädel, geschuppt wie der einer Schlange. Jede einzelne Schuppe besaß einen irisierend grünen Rand, der glitzernd das Licht der Leuchter und Kerzen widerspiegelte. Der Effekt war atemberaubend und erinnerte an Schmetterlingsflügel und Klavierlack.

Karla bemerkte, wie fest sie Raouls Handgelenk umklammerte, und lockerte ihren Griff. »Er kommt auf uns zu«, hauchte sie und straffte unwillkürlich ihre Schultern.

Die Gesichtszüge des Drachenmannes waren flach und ausdruckslos. Seine Augen, glitzernd wie Juwelen, standen weit auseinander und schienen von innen heraus zu leuchten. Er schritt geradewegs auf Raoul zu, blieb vor ihm stehen und blickte auf ihn hinunter.

Quass, der an seiner Seite geradezu zierlich wirkte, schien den Auftritt seines Rivalen nicht zu goutieren. Sein Gesicht war eine starre Maske der Missbilligung. Er räusperte sich, als er neben Karla stehen blieb, und stellte vor: »Norxis von Felsenstein – Raoul Winter von Adlersflügel.«

»Ein Mensch«, sagte der Hüne. »Quass, das ist indiskutabel. Ich wünsche, dass der Mensch geht.«

Raoul verzog keine Miene. Quass hob eine Braue und erwiderte: »Dies ist mein Haus, Norxis. Ich bestimme die Regeln. Es steht dir natürlich frei, wieder zu gehen …«

Der schwarze Drache fauchte leise und erbost wie eine Katze. Kleine Flammen tanzten um seine Nasenlöcher. »Du legst es darauf an, mich zu verärgern«, sagte er. »Bitte. Ich werde dir nicht die Genugtuung verschaffen, ohne mich unserer Versammlung vorzusitzen.« Er drehte sich auf dem Absatz um, und prallte dabei heftig gegen Karla, die sich ihm beiläufig in den Weg gestellt hatte.

»Oh«, sagte sie und griff Halt suchend nach seinem Arm. Er zuckte zurück, aber sie hatte schon sein Handgelenk gefasst und leitete impulsiv einen ungezügelten Stoß Essentia zu ihm hinüber.

Der Drache blieb stehen und starrte auf sie hinunter. »Was ist das?« Seine Stimme war kalt, aber Karla konnte die unterdrückte Erregung spüren, die darin mitschwang. Eine schmale, gegabelte Zunge glitt aus dem beinahe lippenlosen Mund und züngelte ihr entgegen. Der Blick aus glitzernden Augen glitt an ihr herab und blieb an dem Collier hängen, das sie trug.

»Sehr erfreut«, sagte der Drache zur allseitigen Verwunderung. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Karla van Zomeren«, sagte sie, während ihr Herz schneller schlug. »Das Vergnügen ist auf meiner Seite, Herr von Felsenstein.« Sie hob die Hand, und der Drache ergriff sie und beugte sich darüber. Seine Zunge kitzelte über ihren Handrücken. Karla zwang sich, nicht zurückzuweichen, als sein Blick prüfend über ihr Gesicht wanderte. »Was wünschen Sie von mir, Nachtgeborene?«

Karla hörte das Raunen der Umstehenden. Sie ignorierte alle, lächelte zu Norxis auf und erwiderte: »Ihre Gesellschaft genügt mir vollauf, Herr von Felsenstein.«

Er nahm schweigend ihren Arm und führte sie zu einem der kleinen Tische, die an der Fensterfront aufgebaut waren. Die beiden Drachendamen, die dort saßen, sprangen unter Felsensteins flammendem Blick hastig auf und räumten den Platz. »Setzen Sie sich«, sagte der Drache und blickte sich um. Verlegen wandten sich die neugierigen Blicke ab, das Plaudern und Besteckklappern setzte zögernd wieder ein.

»Gut.« Der Drache schob sich auf den Stuhl, der zu zierlich für seine mächtige Gestalt war. Karla konnte die wuchtige Dunkelheit erkennen, die seinen Körper umgab wie eine Materiewolke. Auch in seiner wahren Gestalt musste er ein Riese sein, weit größer als der Durchschnitt der Drachenwesen, die hier im Saal versammelt waren.

»Der Mensch ist Ihr Gefährte?«, eröffnete Norxis das Gespräch, nachdem ein Diener ihnen etwas zu trinken gebracht hatte. Seine Klauen, die nur nachlässig der Form menschlicher Finger nachgebildet waren, klickten gegen den Stiel des Weinglases, das vor ihm stand. Karla nickte.

Der Drache sah zu Raoul, der immer noch am anderen Ende des Saales stand und sich dort mit Quass unterhielt. »Er ist ein Magier«, sagte er nachdenklich. »Warum lädt dieser Idiot Quass einen Magier und eine Nachtgeborene zu einer Versammlung des Dragons Clubs ein?«

Karla lächelte und nippte an ihrem Champagner. »Raoul ist wohlhabend. Mit der Unterstützung Ihres Clubs soll eine Stiftung ins Leben …«

»Das interessiert mich nicht«, unterbrach Felsenstein sie grob. »Dieses ganze humanitäre Gesäusel ist eines Drachens unwürdig. Wenn es nach mir ginge …« Sein Blick flackerte über Karlas Collier. »Das ist ein hübsches Kettchen, was Sie da tragen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Gehört es nicht Quass?«

Karla konnte nicht anders, sie musste lachen. »Drachen«, sagte sie. »Sie haben einen Blick für solch unwesentliche Details, nicht wahr?«

»Unwesentlich?« Norxis klang amüsiert, auch wenn sein schuppiges Gesicht keine Regung erkennen ließ. »Dieses Collier hat einmal mir gehört, junge Dame. Im Zuge einer Wette habe ich es an unseren gemeinsamen Freund abtreten müssen. Mich würde wirklich interessieren, wieso das Schmuckstück jetzt um den Hals einer Nachtgeborenen liegt.«

Karla lächelte, obwohl sie innerlich kochte. Dieser elende von Deyen hatte sie kaltblütig in die Falle rennen lassen.

»Wir sind befreundet«, sagte sie schlicht. »Sehr gut befreundet.«

Der Drache musterte sie mit unbewegter Miene. »Wenn ich Quass’ Vorlieben nicht besser kennen würde, müsste ich jetzt wohl davon ausgehen, dass seine abgelegte Geliebte mir Avancen macht.« Er lachte kurz und trocken auf. »Nun kenne ich aber meinen alten Quass recht gut – Sie entsprechen ganz und gar nicht seinem Beuteschema, Verehrteste.«

Karla erwiderte unbehaglich den Blick der glitzernden Augen. Ein wenig zu spät ermahnte sie sich, nicht direkt hineinzusehen, aber da war es schon geschehen. Die schillernde Tiefe zog sie an und hielt sie fest. Karla fühlte sich wie eine mitten in einem Spinnennetz notgelandete Fliege. Sie entschied sich, nicht zu zappeln, sondern der Spinne entgegenzutreten.

Ich schätze Ihre Attitüde, hörte sie den Drachen sagen. Menschen sind immer so zimperlich. Ein wenig mehr Aggression täte Ihrer Spezies gut.

Karla hielt ihren Geist still. Sie wollte nicht, dass Felsenstein allzu tiefe Einblicke gewann. »Sie halten mich für aggressiv?«

Der Drache besaß ein sehr anziehendes Lachen. Er legte seine Klauenhand wie zufällig auf ihre Hand. Sie fühlte sich warm und ledrig an, wie ein weicher, oft getragener Handschuh. Es war kein unangenehmes Gefühl.

Sie haben versucht, um es in Menschenworten zu sagen, mir an die Wäsche zu gehen, meine Liebe. Ihre Avancen können aber doch kein zufälliger Akt der Freundlichkeit gewesen sein?

Karla war einen Moment lang sprachlos. Der Drache entließ ihren Blick und wandte sich seinem Weißwein zu. »Nun?«

»Ich bin ein wenig verwirrt«, gab Karla zu. »Sie sind der erste Mann Ihrer Spezies, mit dem ich mich über Dinge unterhalte, die derart persönlicher Natur sind.«

»Schön ausgedrückt.« Norxis lachte wieder, aber diesmal klang das Lachen weitaus weniger angenehm. »Sie wollen also sagen, dass Ihr Angebot, das Sie mir keine zehn Sekunden nach unserem ersten Zusammentreffen gemacht haben, nicht ernst gemeint war?«

Karlas Gedanken rasten. Sie trank einen Schluck aus ihrem Glas, und war sich dabei der Blicke, die sie gelegentlich von den Nachbartischen und der Tanzfläche streiften, nur zu bewusst.

»Nein«, sagte sie dann.

»Nein?« Er beugte sich vor und berührte ihr Kinn, um es anzuheben. »Sehen Sie mich an«, sagte er. »Ich werde nicht versuchen, Sie zu lesen. Aber ich hasse es, wenn meine Gesprächspartner mir ausweichen.«

Karla ging das Risiko ein, erneut seinen Blick zu erwidern. Dieses Mal war seine geistige Berührung behutsam und sanft. Was wollen Sie von mir? Es ist Ihnen gelungen, mich zu überraschen. Ich bin gewillt, Ihnen einen Wunsch zu erfüllen.

Karla wagte einen Vorstoß. »Haben Sie Ihre Bücher inzwischen zurückbekommen?«

Die kalten Juwelenaugen blieben starr auf sie gerichtet. Ich verstehe nicht?

»Ihre Sammlung. Die Bücher, die Sie dem Museum Riebenberg zur Verfügung gestellt haben. Einige davon wurden gestohlen. Ein Wachmann kam dabei zu Tode.«

Sie konnte das Unverständnis fühlen, bevor er antwortete.

Was interessiert es mich, ob ein Mensch in einem Menschenmuseum getötet wurde?

»Und Ihre Bücher?«

Er lachte und lehnte sich zurück. »Altes, bedrucktes, stinkendes Papier«, sagte er laut. »So etwas können auch nur Menschen für wertvoll halten. Ich hatte vollkommen vergessen, dass ich den Kram verschenkt hatte, statt ihn einfach wegzuwerfen.«

Karla legte nachdenklich den Kopf zurück. »Warum haben Sie es dann getan? Ich denke, ich kann die üblichen Beweggründe ausschließen.«

Er blickte in sein Glas, das er zwischen den Fingern drehte. Die Frage schien ihn zu langweilen. »Politik«, sagte er nur. »Das verstehen Sie nicht, Sie sind keine von uns.« Er stellte das Glas ab und stand auf. »Ich fürchte, ich habe vorhin etwas missverstanden. Es tut mir leid.« Seine Hand ergriff die ihre und führte sie an den lippenlosen Mund. Wieder fing sein Blick ihre Augen ein und hielt sie fest. »Wenn Sie sich allerdings dazu entschließen könnten, Ihr wirklich verlockendes Angebot zu wiederholen …« Sein Blick streifte das Collier, und Felsenstein setzte beiläufig hinzu: »Ich bin allerdings weniger geizig in meinen Zuwendungen als der gute Quass. So ein albernes Kettchen zu verschenken wäre unter meiner Würde.« Er ließ ihre Hand los, warf seine Visitenkarte auf den Tisch und nickte, bevor er sich abwandte und zu einer Gruppe von Drachen ging, die in einer entfernten Ecke des Saales miteinander redeten.

Karla stieß den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hatte. Sie nahm ihr Glas und trank es in einem Zug leer.

»Der gute Champagner«, tadelte Raoul und setzte sich neben sie. »Und?«

»Und – was?«, erwiderte sie gereizt. Sie fuhr sich über die Augen und seufzte. »Entschuldige, Raoul. Die Unterhaltung war nervenaufreibend.«

»Wie hast du ihn dazu gebracht, mit dir unter vier Augen zu sprechen?« Raoul sah besorgt aus. »Quass war vom Donner gerührt.«

»Ich auch«, murmelte Karla. »Er hat – ich habe … Ich muss irgendetwas gemacht haben, was ihn vermuten ließ, ich sei auf – auf Drachenjagd.«

Raouls düsterer Blick wurde noch finsterer. »Wie meinst du das?«

Karla hob ihr Glas und fing nachdenklich die Reflexe des Lichtes in seinem Schliff ein. »Nicht mit Pfeil und Bogen jedenfalls«, erwiderte sie. »Ich habe, als er mich umrannte, mit einem kräftigen Strom Essentia auf ihn geschossen. Anscheinend ist das unter Drachen eine Art von Anmache.«

Raouls Lider zuckten leicht. »Warum hast du das getan?«

Sie hob die Schultern. »Keine Ahnung. Es ist passiert. Er hat mich erschreckt.«

Sie schwiegen und beobachteten die anderen Gäste. Seit Norxis von Felsensteins Eintreffen schienen die Drachen immer schneller umeinander zu kreisen. Die Bewegung trieb zwei Gruppen voneinander fort: Die eine scharte sich um Quass, eine andere, unwesentlich kleinere, gruppierte sich nach und nach um den schwarzen Hünen. Die Gesprächsfetzen, die zu ihnen hinüberschwappten, transportierten den zischenden, grollenden Klang der Drachensprache Sstroyxl.

»Politik«, sagte Karla nachdenklich. »Es geht um Politik.«

Raoul nickte. »Es geht immer um Politik.« Er beugte sich vor und klaubte die Visitenkarte vom Tisch. »Was will er von dir?«

Karla nahm sie ihm ab und steckte sie sorgfältig ein. »Was soll er schon wollen?« Sie stand auf. »Spiel nicht den Eifersüchtigen. Du bist nicht mein Liebhaber.«

»Vielleicht solltest du ihn aufsuchen«, sagte Raoul zu ihrer Überraschung.

»Was?« Karla lachte und gab ihm einen Stoß. »Willst du mich dem Drachen zum Fraß vorwerfen, nur um an Informationen zu gelangen?

Sie nahm Raouls Arm und ließ sich von ihm zum Fenster geleiten. Der Vorhang stand ein Stück offen und ließ kühle Luft ein. Karla atmete tief ein und wieder aus. »Welcher Art ist eigentlich deine Verbindung mit Quass?«

Raoul lehnte mit verschränkten Armen am Fensterrahmen. »Wie bitte?«, fragte er ungläubig.

Karla schüttelte den Kopf. »Sei nicht pikiert. Ich denke, dass darüber geredet wird – Felsenstein deutete das eine oder andere an.«

Raoul wandte unwillkürlich den Kopf und sah zu Quass hinüber, der mit ernster Miene einem älteren Drachenmann lauschte. »So ein Blödsinn«, sagte er. »Quass ist ein guter, alter Freund. Wir kennen uns seit Urzeiten. Er hat nie …« Er unterbrach sich mit einem unwirschen Knurren. »Dieser Intrigant!«

Karla nickte langsam. »Das ergibt Sinn. Raoul, wir sollten uns jetzt bei unserem Gastgeber bedanken und uns vorsichtig zurückziehen. Die Spannung steigt von Minute zu Minute, und ich möchte nicht dabei sein, wenn das Gewitter losbricht.«

Sie warf einen bedeutsamen Blick auf die beiden diskutierenden Gruppen. Die Drachen verloren mehr und mehr ihr menschliches Aussehen. Schuppenhände ragten aus weißen Manschetten, kantige, stachelbewehrte Köpfe und spitze Zähne begannen das Bild zu dominieren, funkelnde Juwelen hingen um lange, bewegliche, dornige Hälse. Hier und da stiegen Rauchwölkchen aus geblähten Nüstern, ließ ein Flammenstoß Funken sprühen, knurrte eine tiefe Stimme zornig auf.

Raoul griff nach Karlas Arm und durchquerte mit ihr den Saal. »Quass, darf ich dich einen Moment stören?«, fragte er den Hausherrn. Der Drache entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner und zog Raoul und Karla beiseite. »Ihr solltet gehen«, sagte er. »Es liegt Ärger in der Luft.«

»Das haben wir auch schon bemerkt.« Raoul sah seinen Freund besorgt an. »Brauchst du unsere Hilfe?«

Quass verneinte mit ernster Miene. »Du kannst nichts tun. Ich werde meine Position dieses Mal wohl mit einem Duell behaupten müssen.« Er verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. »Früher hätte mich der Gedanke elektrisiert und zur Hochform geputscht. Ich werde anscheinend alt und müde, mein Freund.«

Karla sog die Luft ein. »Duell? Etwa mit diesem Monstrum von Felsenstein? Der reißt Sie doch in Stücke.«

Quass zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Nun ja. Er ist mein ewiger Rivale. Ich werde es wahrscheinlich überleben, aber meinen Vorsitz bin ich mit Sicherheit los. Er ist unbestreitbar besser in Form als ich alter Bücherwurm.«

Karla schnaubte, schob die beiden Männer beiseite und steuerte auf den schwarzen Drachen zu. »Was hat sie vor?«, hörte sie Quass rufen.

Der Drache unterbrach sein Gespräch und blickte auf Karla hinab. »Frau van Zomeren?«

»Herr von Felsenstein«, sagte Karla und starrte ihn grimmig an, »ich könnte mir vorstellen, jetzt gleich mit Ihnen einen kleinen Ausflug zu machen. Seien Sie versichert, dass dies ein einmaliges Angebot ist, das ich in dieser Form nicht wiederhole.«

Die Umstehenden begannen zu murmeln und zu zischeln. Blicke wie glühende Feuerhaken streiften Karla.

Norxis von Felsenstein hob den Kopf und begann zu lachen. »Das ist köstlich«, sagte er laut. »Sie sind eine tollkühne kleine Kreatur.« Er reckte den Hals und sah Quass an. »Du hast loyale Freunde unter den Weichhäutern, mein Lieber. Sie werfen sich für dich sogar todesmutig einem Ungeheuer zum Fraße vor.«

Quass hob die Hand und ließ sie wieder sinken. »Dies war nicht meine Idee«, sagte er resigniert. »Aber ich schätze Ihren Einsatz, liebe Frau van Zomeren. Bitte, glauben Sie mir, er ist nicht vonnöten.« Er drehte sich zu Raoul um und sprach gedämpft mit ihm.

»Mein Angebot war ernst gemeint«, sagte sie leise zu Felsenstein. »Etwas Beängstigenderes als Sie ist mir noch nie begegnet. Ich pflege mich meinen Ängsten lieber zu stellen, bevor sie mich im Schlaf verfolgen.« Sie hob den Blick und begegnete seinen spöttisch schimmernden Juwelenaugen.

Sind Sie nun mutig oder wahnsinnig?

»Beides«, erwiderte sie halblaut. »Ich war Magistra der MID und habe diese Diebstähle untersucht. Etwas ist ganz gehörig faul daran, und ich will wissen, was dahintersteckt.«

Der schwarze, glänzende Kopf nickte langsam. »Ich verstehe«, sagte der Drache. »Ich bin also ein Verdächtiger«

»Aber ja.« Karla lächelte kühl. »In höchstem Maße. Wesenheiten wie Sie, die nach persönlicher Macht streben, haben in der Regel nur geringe Skrupel, dabei auch über Leichen zu gehen.«

Sie erwartete, dass er wütend werden würde, aber Felsenstein überraschte sie. Er fixierte sie eindringlich und nickte. »Gut. Das ist es mir wert.«

Er wandte sich ab und sagte etwas in der klirrenden Drachensprache zu den Umstehenden. Auch ohne seine Worte oder die Antworten zu verstehen, konnte Karla erkennen, dass seine Äußerung Zorn und Unmut hervorrief. Verständnislose Blicke streiften sie, unterzogen sie einer so scharfen Musterung, dass Karla es beinahe körperlich zu spüren glaubte.

»Quass, ich verabschiede mich«, rief Norxis so, dass auch Karla ihn verstehen konnte. »Wir verschieben unser Duell ein paar Tage – ich denke, das ist in deinem Sinne.« Er stieß einen Funkenschauer aus, der ein menschliches Kichern ersetzte. »Heute wäre daraus ohnehin nur ein blutiges, langweiliges Gemetzel geworden. Vielleicht bringst du dich ein bisschen in Form, dann wird es etwas amüsanter für mich.«

Er legte seine riesige Hand auf Karlas Schulterblatt und winkte Horace, der still in der Nähe der Tür stand. »Besitzt die Dame einen Mantel?«

Karla ließ sich von ihm aus dem Saal und zum Aufzug geleiten. Die schwere, warme Berührung seiner Hand in ihrem Rücken beschleunigte ihren Herzschlag, und das Letzte, was sie sah, war Raouls fassungslose Miene.

La belle et la bête, dachte sie und umklammerte entschlossen ihre winzige Handtasche. Wir werden ja sehen, wer wen frisst.

Last days on Earth: Thriller
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