12. 19. 19. 04. 01.
Karla fand Obermagister Korngold in einem der Æther-Labors, wo er mit Kveta Hegerova, der Forschungsleiterin, in eine heftige Diskussion verwickelt war. Karla blieb an der rot lackierten Tür mit dem warnenden gelb-schwarzen Æther-Zeichen stehen.
Korngold kam durch die Tür gestürmt und rannte Karla fast über den Haufen. »Van Zomeren«, bellte er. Sein Gesicht, das dunkel war vor Zorn, verfinsterte sich um eine weitere Schattierung. »Was treiben Sie hier? Warum sind Sie nicht an Ihrem Platz und tun was für Ihr Gehalt?«
»Ich muss mit Ihnen sprechen«, erwiderte Karla, ohne sich durch seinen Unmut erschüttern zu lassen. »Es haben sich einige neue Entwicklungen in der Raubsache ergeben.«
Er nickte knapp und wandte sich zum Lift. Karla folgte ihm, betrachtete die steife Linie, die seine Schultern bildeten, und die abgehackten Bewegungen, mit denen er seine Absätze auf den unschuldigen Boden rammte, und seufzte unhörbar. Sie hatte einen schlechten Zeitpunkt gewählt, um die kitzlige Frage nach den unterschlagenen Morden anzusprechen.
Korngold riss die Tür zu seinem Büro auf, dass sie gegen die Wand knallte, knurrte: »Kaffee?«, und deutete mit einer wütenden Handbewegung auf die Maschine, die auf dem Aktenschrank stand. Mit einem erschreckten Rülpser begann das Wasser zu kochen.
»Ja, danke«, erwiderte Karla und ließ sich auf den angebotenen Stuhl fallen.
»Also, was haben Sie zu berichten?«
Karla zögerte kurz. Dann zuckte sie die Achseln und ging ohne Umweg aufs Ziel los. »Die Unterlagen waren unvollständig.«
Korngold sah auf, offensichtlich verblüfft. »Bitte?«
Karla erwiderte seinen Blick nicht weniger erstaunt. »Die Raubsache, mit der Sie mich betraut haben.«
Korngolds Gesichtsausdruck änderte sich nur unwesentlich. »Ich weiß, welchen Fall Sie bearbeiten«, blaffte er. »Was meinen Sie mit ›unvollständig‹?«
Karla bemühte sich um einen neutralen Ton. »Die beiden Morde«, erwiderte sie geduldig. »Der Wachmann im Schloss Riebenberg und der Wächter in der Staatlichen Bibliothek.«
Korngold starrte sie an, als hätte sie plötzlich Mandarin zu sprechen begonnen. »Morde«, wiederholte er dann. Er stand auf, um Kaffee in zwei angestoßene Becher zu gießen.
Karla stellte das Gebräu, das in Farbe, Geruch und Konsistenz kochendem Teer glich, auf den Tisch und sah den Obermagister fragend an. Der trank in grimmigem Schweigen seinen Kaffee und starrte auf seine Unterlagen hinab, als wären sie das Necronomicon persönlich.
»Wir wissen nichts von irgendwelchen Morden«, sagte er. »Magister Beck und die Spurensicherung waren in beiden Fällen vor Ort und haben einen Einbruch aufgenommen. Keine Leichen, Magistra van Zomeren.«
»Wir haben mit der Kuratorin selbst gesprochen«, gab Karla scharf zurück. »Wollen Sie sagen, sie lügt?«
»Natürlich nicht!« Korngold stellte den Becher so heftig ab, dass Kaffee auf die Tischplatte spritzte. »Aber ich befürchte, dass jemand ihre Erinnerung manipuliert hat. Sie ist unbega… magisch benachteiligt?«
»Das ist sie.« Karla runzelte die Stirn. »Aus welchem Grund sollte jemand zwei Morde simulieren?«
»Es hat keine Morde gegeben, Magistra. Nur zwei simple Einbrüche, die allein dadurch interessant werden, dass es keinerlei Spuren gibt.«
»Und warum hat der Schwarze Zweig dann Kenntnis von den Morden?«
»Der Schwarze Zweig hat einen Scheißdreck!«, fuhr Korngold auf. Er beugte sich vor und griff nach dem Telefon. Während er auf den Anschluss wartete, fuhr er fort: »Wissen Sie, was die betroffenen Versicherungsgesellschaften uns erzählen werden, wenn wir nicht sehr bald wenigstens einen Teil des Diebesgutes wieder auftreiben?«
Er hob die Hand, als Karla antworten wollte, und sprach in den Hörer: »Ja. Korngold hier. Kann ich mit Großinquisitor Loyal sprechen? Danke, ich warte.«
Er drehte seinen Schreibtischsessel zum Fenster, und Karla betrachtete seinen Hinterkopf. Der Großinquisitor. Korngolds Amtskollege von der Zentralen Magischen Aufklärung. Ein harmlos aussehender Höllenhund.
Ihre Gedanken wurden von Korngolds Stimme unterbrochen. »Fred, ich muss mit dir reden. Es geht um den Bücherraub.«
Korngold lauschte eine Weile ungeduldig und fiel dem anderen dann ins Wort: »Ja, ich weiß. Fred, halt mal einen Moment die Luft an! Meine Ermittlerin kommt mit einer ungeheuerlichen Behauptung zu mir, und ich will herausfinden, was da los ist. Hör zu.« Er schilderte kurz, was Karla ihm gerade berichtet hatte. Dann hörte er zu. Er hatte sich wieder zum Schreibtisch gedreht, und sein Blick flog immer wieder zu einem blau leuchtenden Knopf am Telefon, der rhythmisch flackerte, während der Großinquisitor sprach.
»Danke«, sagte Korngold schließlich. »Das ist es auch, was ich meiner Ermittlerin gesagt habe. Nein, euer Mann hat diese Information angeschleppt. Ich weiß ja nicht, wie du ihn einschätzt …« Wieder lauschte er, schüttelte sacht den Kopf. Grinste. Schnalzte mit der Zunge. Gab kleine, amüsierte Laute von sich. »Doch, das ist sehr interessant«, sagte er schließlich. »Gut. Danke, dass du mich informiert hast. Wir sprechen später noch … ja, ich melde mich. Bis dann, Fred.« Er legte auf und gluckste. Seine Laune schien sich während des Gespräches gravierend verbessert zu haben. »Van Zomeren«, sagte er und nahm ein Pfefferminzbonbon aus einer Schale auf dem Tisch, »Ihr neuer Kollege hat Sie an der Nase herumgeführt, wie es scheint.«
Karla schüttelte den Kopf. »Das denke ich nicht. Die Kuratorin hat den Toten gesehen.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen oder der Dunkelmagier?« Korngold schob das Bonbon von der einen Backe in die andere.
»Wir beide.« Karla zögerte. Eigentlich stimmte das nicht. Das Gespräch hatte Raoul geführt, sie hatte nur zugehört und gelegentlich eine Zwischenfrage gestellt.
Korngold sah den Zweifel in ihrer Miene und nickte nachdrücklich. »Sehen Sie? Er hat sie beeinflusst.«
Das hatte Brad allerdings. Karla wurde unsicher. »Wieso gehen Sie davon aus, dass der Großinquisitor die Wahrheit sagt?«
Korngold deutete auf das blaue Lämpchen, das jetzt erloschen war. »Wir haben gegenseitige Vorsichtsmaßnahmen getroffen«, erklärte er. »Wenn einer von uns lügt, können wir das erkennen. MLD. Magischer Lügendetektor.«
Karla starrte das Lämpchen fasziniert an. »Ich dachte, die funktionieren nicht?«
Korngold zerbiss genüsslich das Bonbon. »Nicht für offizielle Zwecke. Das kriegen wir bei Gericht nicht durch. Aber inoffiziell – doch. Das funktioniert sehr gut. Genauso wie der Abhörschirm gegen dieses herumschnüffelnde Daimonenpack.«
Das Geräusch des zwischen seinen Zähnen zersplitternden Bonbons endete nach einem knirschenden Crescendo. Korngold spülte einen Schluck Kaffee hinterher, fuhr mit der Zunge über seine Zähne und sagte: »Also, van Zomeren, das mit den Morden ist purer Unsinn. Gehen Sie professioneller an die Sache heran, wenn ich bitten darf. Die Untersuchungsberichte sind Ihr Arbeitsmaterial.« Er musterte sie nicht unfreundlich. »Was wollten Sie noch von mir?«
Karla sortierte ihre Gedanken. »Der Sammler«, sagte sie schließlich. »Felsenstein. Können Sie mir einen Termin bei ihm besorgen?«
Korngold warf einen schnellen Blick auf die Unterlagen. »Oh«, sagte er. »DER Felsenstein.« Er trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die Schreibunterlage. »Ich werde es versuchen«, sagte er dann. »Sonst noch etwas?« Karla verneinte und erhob sich.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, Magistra.« Der Obermagister warf die Akte auf den Stapel neben seinem Ellbogen. »Und tun Sie mir und sich einen Gefallen: Nehmen Sie diesen – hm – seltsamen Vogel, der leider ihr Partner ist, nicht allzu ernst. Lassen Sie ihn mitlaufen, aber kümmern Sie sich nicht um ihn. Er ist ein wenig …« Korngold suchte nach einem Ausdruck und begann wieder unterdrückt zu lachen. »… ein wenig verdreht. Stören Sie sich möglichst wenig an ihm. Dann sollten Sie keine Schwierigkeiten haben, den Fall zu einem schnellen Abschluss zu bringen.«
Karla stand auf dem Korridor und nagte an ihrem Daumennagel. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Ganz offensichtlich wusste die ZMA ebenso wenig von den Morden wie ihr eigener Laden. Aber warum, bei Merlins Magengeschwür, sollte Raoul sie dermaßen aufs Glatteis geführt haben? Oder wusste er am Ende gar nichts davon, war das ein böser Streich seines Daimons?
Sie betrat in Gedanken versunken ihr Büro.
»Carlo, da ist was für dich abgegeben worden«, empfing Mick sie. Die junge Hexe saß an ihrem Schreibtisch und feilte hingebungsvoll ihre grün lackierten Nägel.
Karla öffnete den Briefumschlag, auf den Mick mit ihrer Nagelfeile gezeigt hatte, und zog einige Zeitungsausschnitte und einen hastig geschriebenen Begleitbrief heraus. Sie überflog ihn und schob gleichzeitig die Ausschnitte unter ihre Schreibtischunterlage. Sie sah auf die Uhr, und im gleichen Augenblick klopfte jemand an.
»Pünktlich wie ein Hexer«, sagte Karla und warf ihr Notizbuch und den Brief in ihren Rucksack. »Herein.«
Raoul steckte den Kopf zur Tür herein und schenkte ihr und vor allem Mick einen strahlenden Blick. »Guten Morgen, die Damen«, sagte er. »Karla, Ihr Taxi ist da.«
Karla nahm ihre Jacke vom Haken. »Mick, wenn jemand nach mir fragt, bin ich bis heute Nachmittag außer Haus.«
»Sie machen ein schrecklich grimmiges Gesicht«, sagte Raoul. »Worüber denken Sie nach?«
Die Aufzugtür glitt auf, und sie traten ein. »Die Morde«, erwiderte Karla ausweichend. »Sie haben laut unseren Unterlagen nie stattgefunden.«
Raoul hob gleichmütig die Schultern. »Das war ja die Frage – wieso die MID Sie über diese Morde im Unklaren lässt. Anscheinend haben Sie von Ihrem Vorgesetzten keine befriedigende Auskunft bekommen.«
Sie verließen den Aufzug und durchquerten die Halle. Es verblüffte Karla, wie gelassen Raoul dieses Thema behandelte. »Nein, die Auskunft war unbefriedigend«, erwiderte sie. »Allerdings stammte sie nicht von meinem Vorgesetzten, sondern von Ihrem.«
Jetzt hatte sie ihn doch erwischt. Er zuckte zusammen und verfehlte das Schlüsselloch an seinem Wagen. »Mein … was?« Sein Blick war kalt. »Mit wem glauben Sie gesprochen zu haben?«
Karla hielt nicht minder kalt dagegen: »Mit Großinquisitor Loyal.«
Sie erwartete eine Reaktion wie gespieltes Erstaunen, Empörung, Leugnen, Verblüffung. Stattdessen lächelte er und schloss das Auto auf. »Loyal, ach so. Er hat keine Ahnung.«
Karla stieg ein und erinnerte sich. Er hatte behauptet, seine Informationen direkt von Tora-san bekommen zu haben. Das war natürlich die beste aller Tarnungen, wenn er sie wirklich belog. Niemand stellte der Großmeisterin des Schwarzen Zweiges Fragen. Niemand.
»Sie machen es sich etwas zu leicht«, gab sie spitz zurück. »Immerhin scheinen die Unterlagen der Zentralen Magischen Aufklärung auch keine anderen Fakten aufzulisten als die der MID. Kein Mord – keine Leiche.«
Raoul ließ den Jaguar anrollen und steuerte ihn vom Hof. Er sah nachdenklich aus. »Jemand scheint großes Interesse daran zu haben, uns im Dunkeln tappen zu lassen«, sagte er, als sie an der ersten Ampel hielten. »Ich verstehe es auch nicht, Karla. Aber der Umstand, dass Tora ausgerechnet mich für diese Aufgabe ausgesucht hat und nicht einen der festen ZMA-Mitarbeiter, scheint einen Grund zu haben.«
Karla entschied sich, den Frontalangriff zu wagen. »Ich glaube, dass entweder Sie oder Ihr Daimon mich belügen.«
Die Ampel sprang auf Grün, der Wagen machte einen Satz nach vorne und schoss die Straße hinunter. »So«, sagte Raoul. »Und warum sollte ich das tun?«
»Sie sind Dunkelmagier, und Brad ist ein Daimon. Wahrscheinlich findet ihr das zum Brüllen komisch.«
Er gab ein Geräusch von sich, das zwischen Grunzen und Knurren lag und in einem Husten endete. Karla sah ihn verblüfft an. »Lachen Sie mich aus?«
»Ja«, sagte er erstickt. »Sie sind entzückend, wenn Sie sich echauffieren. Ich könnte Sie küssen.«
»Unterstehen Sie sich!« Karla begann wider Willen zu grinsen. »Brad?«
Er wandte ihr kurz den Kopf zu, und sie blickte in seine amüsiert funkelnden Augen. Es war zweifellos Raoul, ganz und gar ohne Einmischung seines Daimons.
»Warum finden Sie das so amüsant?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, irgendwer ist daran interessiert, die Ermittlungsbehörde an der Nase herumzuführen. Tora-san hat Wind davon bekommen und ihren Hund von der Leine gelassen – mich. Ich könnte versuchen, sie zu den Hintergründen zu befragen, aber ich weiß, was sie antworten würde.« Er schwieg kurz und suchte die Häuserzeile ab. »Dort drüben ist die Bibliothek.«
»Was würde Tora-san sagen?«
»Raoul, mein Junge, wenn du endlich einmal lernst, dein eigenes Gehirn zu benutzen, sind wir einen großen Schritt weiter.« Er imitierte sehr gekonnt eine raue, dunkle Frauenstimme.
Karla lachte. »Woher kennen Sie die Großmeisterin so gut?«
»Sie war meine Lehrerin.« Hinter der Toreinfahrt öffnete sich ein großer, von Fensterfronten eingefasster Innenhof. Die Parkgelegenheiten lagen auf der linken Seite. Raoul steuerte den Jaguar in eine freie Lücke, stellte den Motor ab, öffnete seine Tür und setzte hinzu: »Und sie hat mich großgezogen.«
Karla blieb verblüfft noch eine Sekunde länger im Wagen sitzen. Als sie ausstieg, war Raoul schon auf dem Weg zu der Treppe, die zum Haupteingang hinaufführte.