12. 19. 19. 04. 01.
Karla musste zugeben, dass das italienische Restaurant, in das Raoul sie geführt hatte, einige Klassen über ihrem Lieblingschinesen angesiedelt war. Das »I Pagliacci« lag in einer ruhigen Seitenstraße in der Nähe des Parks.
»Abends bekommen Sie hier ohne Reservierung keinen Tisch«, bemerkte Raoul, der den Blick auffing, mit dem sie den Gastraum musterte. Das Ambiente war ebenso gehoben wie die Preise, die sie nur kurz hatte sehen können, als der Kellner Raoul eine Karte reichen wollte. Ihre eigene Karte bot keinerlei Information über solche uninteressanten Details wie die Kosten eines Menüs. Karla hatte sich darüber beschwert, aber Raoul hatte lächelnd geantwortet, er sei verabredungsgemäß an der Reihe und außerdem seien Nevio, der Padrone, und seine Frau alte Freunde.
Besagter Padrone kam dann auch selbst an den Tisch. Er war klein und rundlich, beinahe kahl und strahlte wie die Sonne, als er Karla die Hand reichte. »Wie schön, wie schön«, sagte er enthusiastisch. »Caro amico, ich freue mich, dass du endlich einmal nicht alleine kommst. Was darf ich bringen? Womit kann ich dich und deine schöne Begleiterin glücklich machen?«
»Wir verhungern, Nevio«, erwiderte Raoul. »Hast du etwas, das schnell geht?«
Der Padrone lächelte sie und dann Raoul an und erwiderte vergnügt: »Lasst euch überraschen.«
Kaum war er fort, stand auch schon der Kellner wieder an ihrem Tisch und servierte einen riesigen Antipasti-Teller.
Karla seufzte vor Entzücken. »Wenn wir den geschafft haben, brauchen wir kein Hauptgericht mehr.«
Das Essen war so gut, wie die Ausstattung des Lokals hoffen ließ. Karla genoss jeden Bissen der köstlichen Vorspeisen, jeden Schluck Wein, jede Gabel Pasta, jeden Happen Fisch, jedes Löffelchen Dessert, als wäre es das letzte Essen, das sie in ihrem Leben bekommen würde.
»Sie haben nicht zu viel versprochen«, sagte sie endlich, als ein dampfender Espresso vor ihnen stand. »Jetzt laufen wir nicht mehr Gefahr, dass ich Ihnen vor lauter Hunger die Nase abbeiße.«
Er stützte das Kinn auf die Hand und sah sie an. »Nevio hat recht«, sagte er.
Karla ging auf die Bemerkung nicht ein. Sie blätterte in ihrem Notizbuch. »Sie brauchen so was nicht, oder?«
»Nein.« Karla spürte seinen intensiven Blick und wich ihm konsequent aus. »Wir sollten besprechen, wie wir weiter vorgehen.« Nun sah sie doch auf. Raouls Blick richtete sich an ihrem Ohr vorbei in die Ferne, er schien in Gedanken Lichtjahre entfernt zu sein.
Karla betrachtete ihn. Wenn er so aussah, kommunizierte er mit Brad – so gut kannte sie ihn inzwischen. Seine Miene verdüsterte sich langsam, er griff nach dem Glas Grappa, das er zuvor beiseitegeschoben hatte, und trank es in einem Zug aus.
»Gut«, sagte er unvermittelt und fokussierte seinen Blick wieder auf Karla. »Ich bin gleich wieder da.«
Raoul ging durch die Schwingtür, grüßte Gennaro, den Koch, der zwischen Töpfen und Pfannen in Kochschwaden stand, und öffnete dann die Tür, die in den hinteren Küchenbereich führte. Er schloss sie sorgfältig hinter sich, fühlte einen kurzen Moment der Beklemmung in der engen Schleuse und klopfte dann an die innere Tür.
Dieser fensterlose, hell erleuchtete Raum war Faustinas Reich. Nevios Frau stand an ihrer Arbeitsfläche, auf der sie gerade eine Marinade zubereitete, und blickte bei seinem Eintreten erfreut auf. »Raoul, mein Lieber. Was für eine Freude!«
Raoul beugte sich über ihre Hand und deutete einen Kuss an. Faustina lächelte. Ihr rabenschwarzes Haar hatte sie über der glatten, weißen Stirn streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem straffen Knoten gebunden, und sie trug, wie immer, ein hochgeschlossenes, altmodisch anmutendes Kleid, mit einem kleinen silbernen Kreuz an einer Silberkette als einzigem Schmuck.
»Nevio hat mir erzählt, dass du eine Freundin mitgebracht hast«, sagte sie und deutete auf den hochbeinigen Hocker neben der Arbeitsfläche. »Erzähle mir von ihr. Seit wann seid ihr zusammen?«
Raoul setzte sich auf die Kante des Hockers und sah ihr zu, wie sie mit einem langstieligen Löffel die Marinade probierte und noch ein wenig Pfeffer hinzugab. »Sie ist eine Kollegin«, sagte er. »Wir arbeiten gemeinsam an einem Fall. Nichts weiter, Faustina.«
»Wie schade.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Du siehst müde aus. Macht dein Demonio dir Ärger? Du solltest ihm nicht so viel Macht über dich geben, Raoul.«
Er schüttelte sacht den Kopf, und Faustina seufzte. »Anderes Thema, eh? Gut, meinetwegen. Aber jemand sollte auf dich achtgeben. Du bist ein lieber Junge.«
»Du denkst zu gut von mir.« Er lächelte auf sie hinab. Faustina war klein und zierlich, aber energisch. Sie kommandierte die Küche mit eiserner Faust, die allerdings in einem Samthandschuh steckte.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte sie und legte die Hände zusammen.
»Faustina, was bedeutet ›in nomine misericordiae, familiaris‹?«
Sie schürzte ein wenig die Lippen, als röche sie etwas Unangenehmes. »Wo hast du das gehört?«
»Heute Nachmittag, auf der Straße. Ein junger Dhampir sagte es zu einer ihm offensichtlich fremden Dame. Und er hat um eine Gabe für einen Exsanguiniker in Not gebeten.«
»Das ist nichts, was dich interessieren muss, Raoul.«
»Tina«, sagte er eindringlich, »Bitte. Ich muss wissen, was das bedeutet!«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Ihre dunklen Augen verengten sich. »Deine Freundin – ah, perdono –, deine Kollegin … ist sie ein Mensch?«
Jetzt war er es, der zögerte. »Ja.«
Sie lächelte ihn an und legte eine Hand auf seine Wange. »Schau nicht so finster drein, Lieber.«
»Lenk bitte nicht ab«, sagte Raoul. »Was hatte diese Begegnung zu bedeuten?«
»Bitte, Raoul. Das ist nichts, was wir einem Taggeborenen verraten würden. Ich weiß nicht, ob ich das für dich übersetzen darf.«
»Faustina, ich bin Magier. Ich besitze Grundkenntnisse in Latein, also weiß ich, was die Worte sagen: ›Im Namen der Barmherzigkeit, Freundin‹. Aber was haben sie zu bedeuten?«
»Ist sie noch draußen?«
Raoul nickte. Faustina stand auf und ging zu einem Telefon an der Wand. Wenig später öffnete sich die Tür, und Karla trat ein. »Guten Tag«, sagte sie. »Entschuldigen Sie, der Kellner sagte, ich solle …«
Faustina hatte schon ihre Hand ergriffen und drückte sie fest. »Sie sind Raouls Kollegin. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Sie sah Raoul auffordernd an.
»Faustina Clemente«, sagte er. »Die Padrona. Karla van Zomeren, Magistra der MID.«
»Sehr erfreut«, sagte Karla. Sie musterte Faustina mit ihrem scharfen Blick, und Raoul merkte, dass sie begriff.
Faustinas Musterung war nicht weniger gründlich. »Sie sind wirklich eine von uns«, sagte sie. »Salve, familiaris. Welcher Gens gehören Sie an?«
Raoul öffnete verblüfft den Mund, und er sah, wie Karlas Gesichtsausdruck von Unverständnis zu blankem Entsetzen wechselte. »Nein«, sagte sie laut. »Nein, das ist ein Irrtum.«
Faustina lachte. »Liebes Kind«, sagte sie, »Sie riechen nach Blutfülle. Ihr Delicatus sollte ein wenig achtsamer damit umgehen, Sie einzustellen, sonst werden Sie noch auf der Straße angesprochen.« Sie zwinkerte Raoul zu.
Karla wurde blass. »Darf ich mich kurz hinsetzen?«, bat sie.
Raoul schob ihr einen Stuhl hin und drehte sich zu Faustina um. »Du willst sagen, sie ist ein Vampir?«
»Nein«, erwiderte sie. »Noch nicht. Möglicherweise auch nie, wenn ich mir ansehe, wie erschreckt das arme junge Ding über diese Vorstellung ist.« Sie seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also gut, Raoul. Du hast gewonnen.« Sie hob mahnend den Finger. »Aber es bleibt unter uns, hörst du? Nichts davon verlässt diese Küche!«
Karla, die sich ein wenig erholt hatte, hob den Kopf. »Ich kann mir denken, was passiert ist«, sagte sie grimmig. »Ich bringe diesen Mistkerl um. Signora Clemente, sagen Sie mir bitte ganz genau, wie ich vorgehen muss. Einen Pflock durchs Herz? Knoblauch in den Mund und den Kopf abschlagen?«
Die Vampirin lachte. »Sie sind entzückend, cara.«
»Das glauben Sie.« Karla ballte die Fäuste.
»Er hat also nicht aufgepasst, Ihr … Freund. Ist er so unerfahren?« Faustina runzelte leicht die Stirn.
Raoul fühlte sich seltsamerweise enttäuscht. Brad lachte. Dummkopf. Hast du geglaubt, so ein Sahneschnittchen läuft noch frei herum? »Was kann sie jetzt tun?«, hörte er sich fragen.
Faustina rieb sich nachdenklich über die Stirn. »Nun, zuerst sollte sie ihn bitten, dass er sie gut einstellt. Im Moment produziert sie einen Überschuss, der jeden Dürstenden in der Umgebung verrückt machen dürfte. Deshalb auch die Bitte des Mannes.«
Karla, die in ungute Gedanken versunken schien, schrak auf und sah Raoul vorwurfsvoll an. »Sie haben Ihr erzählt …?«
Raoul hob um Verzeihung bittend die Hand. »Ich hatte den Eindruck, dass es Sie beunruhigt, und war neugierig, was der Zwischenfall zu bedeuten hatte.«
Karla nickte unwirsch.
Raoul wandte sich wieder an die Vampirin. »Also kann jeder einfach so hingehen und um eine – eine Blutspende bitten?«
Faustina nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Es ist etwas komplizierter, aber ja – im Prinzip schon. Kein Mitglied einer Gens würde einem Dürstenden diese Bitte ausschlagen, wenn es wie deine Freundin Überschuss produziert.«
Karla stand auf. »Signora Clemente, ich danke Ihnen. Ich muss jetzt jemanden aufsuchen und ihn einen Kopf kürzer machen.«
Faustina beugte sich vor und nahm Karlas Hand. »Meine Liebe, wenn ihr Delicatus jung und unerfahren ist, dann weiß er womöglich nicht, was er angerichtet hat. Seien Sie nachsichtig mit ihm. Ich würde Ihnen in diesem Fall aber jemanden mit Erfahrung empfehlen, der Sie sauber einstellen kann.«
Karla sah sie ungläubig an. »Einen Vampirarzt oder so was?«
Die Vampirin hielt ihrem Blick stand. »Mein Princeps«, sagte sie. »Das Oberhaupt meiner Gens – meiner Familie.« Sie presste die Lippen zusammen und warf Raoul einen schnellen Blick zu. »Ich flehe dich an, Raoul, im Namen unserer Freundschaft. Halte den Mund darüber. Das alles geht Taggeborene nichts an.«
Karla lachte auf. »Für das, was Sie mir gerade so nebenbei erzählt haben, werde ich morgen einen Haufen Geld hinlegen müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Mieser kleiner Dreckskerl.«
Raoul war froh, sie wieder lachen zu sehen. Der erste Schock war wohl vorüber.
»Falls der Verursacher dieses Desasters ein erfahrener Nachtgeborener ist, könnte er das selbst tun?«, hörte er sie nun fragen.
Faustina nickte mit skeptischer Miene. »Aber einem besonnenen Mann passiert so etwas nicht.«
»Besonnen war er auch nicht.« Karla wandte sich Raoul zu. »Ich gehe jetzt zur MID und erledige meinen Papierkram. Heute Abend bin ich notgedrungen privat beschäftigt. Sehen wir uns morgen Vormittag?«
»Ich fahre Sie«, erwiderte Raoul und nickte Faustina zu. »Grüß Nevio von mir. Und danke.«
Sie erwiderte das Nicken mit ernster Miene. Raoul schob Karla in die Türschleuse und hielt einen Augenblick ihre Hand fest. »Wenn ich etwas für Sie tun kann …?«, sagte er leise.
Er hörte ihren leisen Atem. »Nein«, sagte sie dann. »Danke. Das ist nett von Ihnen. Aber ich komme alleine klar.«
Die äußere Tür öffnete sich. Karla schob sie auf und ging zum Ausgang. Raoul folgte ihr langsam. Was für eine seltsame Verwicklung. Die kühle Magistra hatte einen Vampirliebhaber? Das hätte er nie zu denken gewagt.
Du nicht, sagte Brad und kicherte. Du vielleicht nicht, Schäfchen.
Vor seinem Auto wartete Karla. Ihr Blick war verschattet und hatte jeden Anschein von Zorn verloren. Sie sah nur noch müde und ein wenig traurig aus. Er hätte sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet, aber stattdessen öffnete er ihr die Wagentür und ließ sie einsteigen.
Feigling.