12. 19. 19. 11. 02.
Raoul verbrachte den Vormittag in seinem Arbeitszimmer auf der Suche nach einer Methode, wie er die verunglückte Verzauberung des Wurdelaks wieder rückgängig machen konnte. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Notizen und die Wolfsfigur schien ihn hämisch anzugrinsen. Raoul seufzte und stand auf. Kaffee half manchmal beim Denken.
Er spürte Brads Gegenwart, noch ehe der Daimon sich meldete. »Wo warst du?«
Recherche. Brad klang satt und zufrieden, anscheinend hatte er einen ausgiebigen Ausflug in den Datenstrom gemacht.
Raoul rieb sich über die Stirn. Er fühlte sich ausgelaugt und müde, und er hatte so viel mit Brad zu besprechen. Zu vieles war ihm in den letzten Tagen merkwürdig erschienen. Er seufzte und setzte einen extrastarken Kaffee auf. »Brad? Wir müssen reden.«
Der Daimon maulte wie ein kleines Kind. Er wolle ruhen. Er habe schwer gearbeitet. Raoul könne ihn nicht zwingen – kreuzverdammter Sklaventreiber!
»Brad«, wiederholte Raoul mit bröckelnder Geduld, »muss ich erst wütend werden? Gehorche, Pouru…«
Nein, nein, schon gut. Brad fiel ihm hastig ins Wort. Raoul hatte nie herausgefunden, ob sein vollständiger Name dem Daimon Schmerzen bereitete.
»Also.« Raoul setzte sich an den Küchentisch und rührte Zucker in den Kaffee.
Das ist ungesund. Zerfrisst deine Gefäße.
»Halt’s Maul!« Raoul nahm einen zweiten Löffel.
Brad pfiff ein Liedchen, irgendeinen dieser Ohrwürmer, auf die er so stand. Wenn er wollte, konnte er mit der gleichen Kunstfertigkeit Rachmaninow oder Bach pfeifen (was an sich schon ein Verbrechen war), aber in der Regel vergriff er sich an der leichteren Muse.
Raoul sammelte seine Gedanken. Es musste so viel von Brad erfahren. Warum er ihn so lange aus dem Verkehr gezogen hatte. Warum jemand versuchte, ihn umzulegen. Was er mit Karla …
Er verschluckte den letzten Gedanken, aber Brad hatte ihn schon aufgeschnappt und produzierte das geistige Äquivalent zu einem anzüglichen Grinsen.
Interessieren dich die Details? Soll ich sie dir in Farbe und Ton überspielen? Es wäre mir ein Vergnügen …
»Brad!«, sagte Raoul warnend. »Das geht mich nichts an und verletzt Karlas Intimsphäre.«
Brad kicherte. Schade, Boss. Du hättest sicher nicht weniger Vergnügen daran als ich. Sie ist …
»Brad!«
Raoul massierte seine Augen mit den Handballen. Brad brachte ihn immer so weit, dass er Emotionen produzierte. Nun gut, das war ein Teil ihrer Partnerschaft. Daimonen genossen Gefühle aus zweiter Hand wie ein exquisites Mahl.
»Der Typ, der auf mich geschossen hat«, packte Raoul das nächstliegende Thema beim Schopf. »Der Wurdelak. Kennst du ihn?« Er zeigte Brad das Bild des Gestaltwandlers: Einmal, wie er die Pistole auf Raoul richtete, dann seine Wolfsgestalt.
Brad war still. Dann antwortete er: Ja, denke schon.
Raoul wartete auf eine Erklärung. Er trank seinen Kaffee und fragte schließlich: »Und?«
Und was? Brad summte.
»Woher kennst du ihn, warum hat er auf mich geschossen, für wen arbeitet er …?«
Kyriákos Dimitriadis. Mietkiller. Billig und schlecht. Nimmt irgendein Zeug, das ihn langsam macht. Er war wohl früher mal einer der Besten, hat sogar für Perfido gearbeitet. Aber seit über einem Jahr ist er ziemlich weg vom Fenster. Hat ein paar Aufträge versenkt. Steht bei einigen der Bosse auf der Abschussliste. Deshalb versteckt er sich auch da unten im Waldhotel. Abschaum.
»Waldhotel«, wiederholte Raoul.
Dieses Loch im Wald. Da tauchen alle unter, die nicht gefunden werden wollen.
Raoul machte sich Notizen. Das hatte er von Karla übernommen. Er starrte auf den Notizblock und das kaum leserliche Gekritzel. Wann hatte er angefangen, sich nicht mehr auf sein unbestechliches Gedächtnis zu verlassen? Seit wann stolperte er über unerklärliche Lücken in seinen Erinnerungen? Er schloss die Augen, biss so fest auf die Zähne, dass der Druck in seinen Schläfen schmerzte. War es schon so weit?
War es das? Brad schien sich zu entfernen. Raoul packte zu und hielt ihn an der Oberfläche.
»Ich brauche den Auftraggeber des Killers«, sagte er. »Und ich will von dir hören, warum er hinter dir oder mir her ist. Du hast vier Monate Zeit gehabt, uns beide in die Scheiße zu reiten, und ich habe das Gefühl, du hast die Zeit gründlich ausgenutzt.«
Brad winselte. Boss, lass los! Ich erzähl dir ja alles, was ich weiß. Keine Ahnung, wer Kyriákos auf uns gehetzt hat. Ich habe für unsere nette Ermittlerin ein bisschen rumgeschnüffelt. Hab bei der Gelegenheit in dem einen oder anderen Hinterzimmer beim Pokern ein bisschen was verloren. Vielleicht bin ich da jemandem auf die Füße getreten – keine Ahnung, Raoul. Ehrlich nicht!
Raoul seufzte und lockerte seinen Griff. Wenn Brad anfing zu jammern, bekam er nichts mehr aus ihm heraus. »Ich habe dir verboten, um Geld zu spielen«, sagte er deshalb nur. »Hau jetzt ab, regenerier dich! Aber ich will noch einen ausführlichen Rapport. Und kümmer dich bei deinen nächsten Recherchen um diesen mysteriösen Auftraggeber.«
Brad war fort, ehe er ganz zu Ende gesprochen hatte.
Als Karla kam, saß Raoul immer noch da und schob gedankenverloren seine leere Tasse von der einen zur anderen Seite des Tisches. »Raoul? Alles in Ordnung?«
Er blickte auf und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe nur über etwas nachgedacht.«
»Du siehst schrecklich aus. Hast du dich mit Brad gestritten?«
Raoul spürte das Zucken, das über sein Gesicht ging. Er legte die Hand auf die Wange und schüttelte den Kopf. »Ich habe Kopfschmerzen.« Er stand hastig auf und wandte sich ab. »Sollten wir uns nicht mal deine Wohnung ansehen?«
Er hörte Karla Luft holen. Eine Weile blieb sie still, dann sagte sie mit einer Resignation in der Stimme, die ihm wehtat: »Ja. Gut. Ich finde ja doch keinen Job.«
Raoul drehte sich um und machte einen Schritt auf sie zu. Karla verschränkte die Arme und setzte ihr verschlossenstes Gesicht auf. Doch Raoul ließ sich davon nicht abschrecken. »Was willst du damit sagen?«
»Dass ich überall auf der schwarzen Liste stehe. Ich bekäme in dieser Stadt noch nicht mal einen Job als Aushilfskellnerin. Der Weiße Zweig ist nachtragend.«
»Sie können dich doch nicht …« Raoul fehlten die Worte. Er sah Karlas Miene und sagte: »Der Schwarze Zweig würde dich aufnehmen. Sofort.«
Karlas Augen schienen für den Bruchteil einer Sekunde granatrot aufzuleuchten. Raoul blinzelte verblüfft, aber die Erscheinung war schon vorüber.
»Oder ich könnte in den Schoß der Gens zurückkehren«, erwiderte Karla mit samtweicher Stimme, bei der sich Raouls Nackenhärchen aufrichteten.
Er senkte den Blick und sagte: »Entschuldige, dass ich mich immer wieder in dein Leben einzumischen versuche. Ich habe dich einfach gern.«
Karla schwieg. Dann sagte sie versöhnlich: »In Ordnung, Langer. Zeig mir schon deine tolle Wohnung.«
Raoul holte den Schlüssel und stieg dann vor Karla die Treppe hoch. »Das Schloss klemmt ein bisschen«, sagte er, als er aufschloss. »Und die Klingel geht nicht. Ich sorge dafür, dass beides in Ordnung gebracht wird.« Er schob die Tür auf und ließ Karla eintreten.
»Ah, sie ist möbliert.« Es klang erfreut.
Raoul sah sich kritisch um. Es war sauber, aber ein wenig staubig. »Ich schicke Magdalena noch einmal herauf, ehe du einziehst. Äh. Falls du einziehen möchtest.«
Karla ging durch die Räume. Es war eine kleine Wohnung, die aus Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad bestand. Weil es die Dachwohnung war, besaß sie nur recht kleine Fenster. Raoul machte eine kritische Bemerkung dazu.
»Oh, das ist schon gut«, sagte Karla. »Ich bin ein bisschen lichtempfindlich in letzter Zeit.« Sie öffnete die Tür zu der fensterlosen Kammer, die als Abstellraum diente. »Sehr schön«, sagte sie. »Falls ich mal Familienbesuch bekomme.« Ihr Lächeln war so sarkastisch wie ihr Tonfall. »Wer wohnt nebenan?«
»Niemand«, erwiderte Raoul. »Du hast die Etage ganz für dich allein.«
Karla klopfte an die Wand zum Nebenraum. »Was ist dahinter?«
»Speicher. Ungenutzt. Wahrscheinlich stehen noch ein paar alte Möbel darin, die meinem Großvater gehört haben.«
Karla nickte geistesabwesend. Sie stand in der winzigen Diele und blickte durch die Tür ins Wohnzimmer. »Es gefällt mir sehr gut. Für so eine Wohnung in dieser Lage könntest du eine ordentliche Miete bekommen. Warum steht sie leer?«
Raoul legte ihr den Schlüssel in die Hand. »Weil ich es hasse, wenn mir jemand auf dem Kopf herumtrampelt.« Er kämpfte gegen den Impuls an, Karla in den Arm zu nehmen. Sie sah so unglücklich aus. »Du bist mir jederzeit willkommen. Das Bad ist spartanisch und die Küche winzig. Du kannst unten alles benutzen. Wann immer du willst. Jederzeit.«
»Danke«, sagte sie. »Ich hoffe, ich kann mich irgendwann mal bei dir revanchieren.«
»Ach, dummes Zeug«, erwiderte er. »Wenn du mir gelegentlich Gesellschaft leistest, muss ich mich bedanken. Mit Freunden bin ich nicht allzu reich gesegnet, wie du weißt.«
Er erzielte den gewünschten Effekt: Karla lachte. Sie griff nach seinem Pferdeschwanz, zog ihn daran zu sich und gab ihm einen freundschaftlichen Kuss auf den Mund. »Dann geh ich mal packen«, sagte sie. »Lass deine Haushälterin, wo sie ist, das hier ist sauber genug für mich.« Sie schob ihn zur Tür hinaus.
Während sie die Treppe hinunterstiegen, fragte Raoul: »Wann absolvieren wir unsere Kostümprobe für das Dinner?«
Karla schnaubte. »Lieber jetzt als später. So ein Affenzirkus, nur um jemanden zu vernehmen.«
»Anders kommen wir an Felsenstein nicht heran.«
»Ist doch ohnehin sinnlos.«
Raoul blieb vor seiner Tür stehen und sah Karla an. »Wieso?«
»Weil wir im Trüben fischen, ohne genau zu wissen, was wir suchen.« Karla machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich sollte mich besser darum kümmern, mein Leben in den Griff zu bekommen.«
Raoul öffnete die Tür und ließ Karla in die Wohnung. »Komm«, sagte er. »Reden wir.«
Karla saß auf dem Sofa, in der Ecke, die Raoul inzwischen als »Karlas Platz« bezeichnete. Sie hielt eine große Tasse Milchkaffee in den Händen und wärmte Finger und Gesicht daran.
»Was macht dein … deine Produktion?«, fragte Raoul.
Karla verzog das Gesicht. »Danke. Morgen bin ich wieder fällig.« Sie trank und seufzte. »Wahrscheinlich fahre ich rauf zur Villa. Es ist angenehmer, wenn Maurizio das macht. Er ist auf mich eingestellt – und ich auf ihn.«
Raoul verspürte einen kurzen Anflug von Neid. Oder war es Eifersucht? »Warum warst du gestern so wütend auf mich?«
Karla antwortete nicht. Sie stellte die Tasse ab und streckte sich. Dann kringelte sie sich wieder auf ihrem Platz zusammen und sah ihn mit ihren irritierend hellen Augen reglos an. »Warum ich sauer war? Ich mag es nicht, wenn man sich auf meine Kosten amüsiert.«
Raoul verstand nicht, was sie damit sagen wollte.
Karla kniff die Augen zusammen. »Du weißt es wirklich nicht?«, fragte sie ungläubig. »Langer, du hast mich gestern mehrmals damit aufgezogen, dass du mir deine Tricks in die Schuhe geschoben hast. Obwohl du genau weißt, dass ich im Moment absolut nutzlos bin.«
»Du hast gestern zweimal einen verflucht starken Zauber gewirkt«, sagte Raoul verblüfft. »Ganz mächtiges Juju. Ich habe dich nicht aufgezogen. Ich war ausreichend damit beschäftigt, das Auto auf der Straße zu halten.«
Karla lehnte sich zurück und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Die widerstreitenden Gefühle, die sich in ihrem Gesicht spiegelten, waren deutlich wie Leuchtzeichen. »Ich hätte es doch gespürt«, sagte sie schließlich. »Meine Kanäle sind vollkommen dicht. Ich kann die Sheldrake-Energie orten, ich kann sie sogar berühren – aber mir stehen keinerlei Mittel zur Verfügung, mit denen ich sie bündeln, konzentrieren und nutzen könnte. Das macht mich rasend. Ich war noch nie so zornig wie im Moment.«
Die Explosion am gestrigen Abend, die darauf folgende Energiebarriere auf der Straße – das waren kraftvolle Zauber gewesen. »Du musst einen Umweg gefunden haben«, sagte Raoul. »Kann es sein, dass du einen neuen Kanal geschaffen hast, ohne es zu wissen?«
Karla schüttelte den Kopf, aber da war Zweifel in ihrem Blick. »Wie gehen wir jetzt weiter vor?«, sagte sie dann. Raoul verstand den Wink und faltete die Hände vor den Knien. »Du siehst keinen Sinn darin, dich weiter mit den Bücherdiebstählen zu beschäftigen«, sagte er. »Aber du vergisst die Morde.«
Karla hob die Schultern und senkte sie wieder. »Wir haben keinerlei verwertbare Spuren gefunden. Brad hat alles in Bewegung gesetzt, was du dir nur denken kannst, und nichts gefunden. Wer auch immer die beiden getötet hat – er ist aus dem Nichts gekommen und auch wieder dorthin verschwunden.«
»Vielleicht setzen wir an dieser Stelle noch einmal an?«, schlug Raoul vor. »Wir stecken doch ohnehin fest. Alle Spuren, denen wir gefolgt sind, verlaufen im Sand. Machen wir also einen letzten Versuch, ehe wir aufgeben und in unsere alten Leben zurückkehren?« Im gleichen Moment hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Für Karla gab es kein Zurück mehr.
»Ein Neustart«, erwiderte sie nachdenklich. »Vielleicht ist das die Lösung. Du bist manchmal ein kluger Mann, Raoul.«
»Nur manchmal?« Er lachte, aber er fühlte sich unbehaglich. Ihre Worte schienen mehr zu meinen als ihren gemeinsamen Fall.
»Sollen wir uns in die Kostümprobe stürzen?«, fragte er.
Raoul führte sie zum Ankleidezimmer – das eigentlich eine Abstellkammer für alle möglichen Haushaltsgerätschaften war und außerdem einen großen Kleiderschrank beherbergte. Er öffnete die beiden Türen und lud Karla mit einer Handbewegung ein, sich alles anzusehen. Dann hockte er sich auf einen Schemel, schlug die Beine übereinander und sah ihr dabei zu, wie sie Bügel von links nach rechts schob und an Kleiderstoffen zupfte.
»Das ist ungefähr meine Größe«, sagte sie und hängte ein langes, eng geschnittenes Kleid in einem leuchtenden Orange an die Tür. »Aber die Farbe ist grauenhaft.«
Raoul stellte sich vor, wie sie es trug, und unterdrückte ein Geräusch, das gegen ihn hätte ausgelegt werden können. Er bemühte sich um eine neutrale Miene und machte: »Hm.«
Karla wühlte weiter. »Betreibt Brad einen Kostümverleih?« Sie lachte und hielt ein paillettenbesticktes giftgrünes Minikleid hoch. »Wenn ich das anziehe, gibt es einen Skandal, oder?«
»Garantiert.« Raoul betrachtete das Kleid und Karla und zog es vor, sich lieber nicht vorzustellen, wie sie darin aussehen würde. Er hustete und konzentrierte sich zur Abkühlung seiner überhitzten Fantasie eine Weile auf ein Arrangement aus Besen und Eimer, das in der Ecke stand.
Karlas Ausruf ließ ihn herumfahren. Sie stand da und hielt mit verzückter Miene ein weinrotes Kleid in den Händen. »Raoul, wenn das passt! Das ist das Kleid, von dem ich mein Leben lang geträumt habe!« Sie sah sich um. »Ich brauche einen Spiegel. Geh raus, Langer. Ich will dieses Kleid anprobieren. Spiegel? Es muss hier doch so etwas wie einen Spiegel geben!«
Raoul sprang auf und verneigte sich förmlich. »Ich sorge für Euer Abbild, Dame meines Herzens.«
Karla lächelte. »Dann lauft, mein Ritter.«
Raoul stand hinter der geschlossenen Tür. Im Ankleidezimmer raschelte und klapperte es. Er stellte sich vor, wie Karla den Seidenstoff über ihren Kopf und ihren Körper gleiten ließ, wie sie sich verrenkte, um den Reißverschluss zu schließen, wie ihre Hände den Stoff glatt strichen …
»Reiß dich zusammen, Winter«, sagte er grimmig.
Die Tür öffnete sich, gerade als er mit einem Standspiegel zurückkehrte. Raoul schob ihn mit abgewandtem Blick vor sich her und stockte, als Karla ihm entgegentrat. »Oh«, sagte er und zwang sich, nicht zu auffällig zu starren. »Das sieht aus, als wäre es für dich genäht worden.«
Das dunkelrote Seidenkleid saß an Karla, als hätte es jemand aufgemalt. Vom ärmellosen Oberteil bis zur Hüfte war es so eng, dass Raoul sich fragte, wie sie es überhaupt geschafft hatte, ohne Hilfe in das Ding hineinzukommen. Karla strahlte ihn an. »Es ist umwerfend, oder?« Sie drehte sich um die eigene Achse. Der verboten tiefe Rückenausschnitt des Kleides war ebenso atemberaubend wie seine Vorderansicht. Raoul schluckte.
Karla vollendete die Drehung und sah in den Spiegel, den Raoul ihr hastig hinschob. »Ach«, sagte sie und starrte versunken ihr Spiegelbild an, ohne sich dabei in die Augen zu sehen.
»Warte«, sagte er. »Das ist noch nicht komplett.« Er ging ins Arbeitszimmer und löste den Bannzauber vom Tresor. Mit der Schatulle, die darin neben einigen schwer zu beschaffenden und illegalen magischen Ingredienzien gelegen hatte, kehrte er zu Karla zurück.
Aus dem Kästchen blitzte es weiß und tiefgrün. Karla schnappte nach Luft, als sie das Collier vorsichtig von seiner Samtunterlage nahm. »Raoul, ist das echt?«
»Quass hat es mir für dich mitgegeben. Es ist unsere Garantie dafür, dass Norxis von Felsenstein mit uns reden wird.«
Karla legte das Collier um und schüttelte dabei fortwährend den Kopf. »Es ist echt. Raoul, das kann ich nicht tragen. Wenn damit etwas passiert …«
»Es ist gut versichert, da möchte ich wetten«, erwiderte Raoul. »Außerdem möchte ich den Dieb sehen, der in der Lage wäre, dir das Ding zu stehlen, ohne dabei ernsthaften Schaden zu nehmen.«
Er stellte sich hinter sie und legte seine Arme um ihre Taille, um über ihre Schulter hinweg ihr Bild im Spiegel zu betrachten. Das Collier schmiegte sich um Karlas Nacken und warf kleine, blitzende Reflexe auf ihre helle Haut. Sie befühlte es träumerisch mit den Fingerspitzen. Ihr Blick war verschleiert. »Was für ein verrücktes Schmuckstück für einen Drachen. Was macht er damit?«
Raoul dachte an die vielen Abende, an denen Quass mit ähnlich unbezahlbaren Colliers gespielt hatte wie mit billigen Fingerschmeichlern, und seufzte. »Er umgibt sich gerne damit.«
Karlas Blick war wieder nüchtern, als sie sich aus seiner Umarmung löste und das Collier abnahm. »Wieso soll es uns den Zugang zu Felsenstein erleichtern?«
Raoul schnaubte amüsiert. »Weil er ein Drache ist. Er wird nicht widerstehen können, das Collier aus der Nähe zu betrachten.«
Karlas Augen weiteten sich. Sie setzte zu einer Antwort an, hob dann die Hände und begann zu lachen. »Männer.«
»Schuhe«, erwiderte Raoul sachlich und blickte auf ihre nackten Zehen, die unter dem Kleid hervorblitzten.
Karla folgte ihm zu der Truhe, die neben dem Schrank in der Ecke stand. »Ihr habt auch noch Schuhe?«, fragte sie ungläubig. »Raoul, dein Daimon ist ein Fetischist.«
»Ja«, erwiderte er gleichmütig und klappte den Deckel auf.
Karla wühlte und hatte bald das zum Kleid passende Paar Pumps gefunden. Sie probierte die Schuhe an und bewunderte sich kurz im Spiegel, dann seufzte sie und hob die Hände, um ihre Arme zu bedecken. »Ich brauche Handschuhe«, sagte sie. »Es muss ja nicht gleich jeder sehen, was ich bin.«
Raouls Blick wanderte unwillkürlich zu den schwachen Malen, die ihre Armbeugen übersäten. »Ich dachte immer, sie würden an der Halsschlagader trinken«, murmelte er.
»Zu gefährlich«, erwiderte Karla. »Handschuhe?«
»Hier.« Er zog eine Schublade auf. Handschuhe, Wäsche, Strümpfe – es war alles da.
Karla öffnete neugierig die zweite Schublade. Sie starrte hinein, schluckte und knallte sie wieder zu. »Meine Güte«, sagte sie. »Wenn er mir damit gekommen wäre, hätte ich ihn aus dem Zimmer geprügelt.« Sie fing Raouls Blick auf und beugte sich hastig über die andere Lade.
Raoul lehnte sich an die Tür und gab sich trübsinnigen Gedanken hin. Brad hatte ihm angeboten, seine Erinnerungen an Karla mit ihm zu teilen. Reute es ihn jetzt, das so vehement abgelehnt zu haben? Aber er wollte keine Secondhanderinnerungen an etwas, das er am liebsten …
Karla unterbrach seine Gedanken mit einem erfreuten Ausruf. Sie zerrte ein Paar schwarzer, langer Handschuhe hervor und zog sie an, dann drehte sie sich zu ihm um und breitete die Arme aus.
Raoul hielt die Luft an. Schwarze Spitze auf weißer Haut. Das dunkelrote Kleid. Das leuchtend helle Haar und ein Paar Augen, die ihn anlachten. Er drückte sich abrupt vom Türrahmen ab und stürmte hinaus.
»Was ist?«, hörte er Karla. »Renn nicht weg. Du musst mir noch aus dem Kleid helfen!«