12. 19. 19. 03. 17.

 

Karlas Laune war bereits auf einem Tiefpunkt, als sie ihren Rucksack auf den Schreibtisch warf. Sie wurde noch schlechter, als das Telefon klingelte und sie einen Fluch unterdrücken musste, der das Ding in seine Einzelteile zerlegt und ihr einen Verweis mehr eingebracht hätte. Dann riss sie den Hörer von der Gabel. »Ja?«

»Van Zomeren, kommen Sie bitte in mein Büro.« Der Obermagister legte wieder auf.

»Hekates heiliger Hintern!« Karla schmetterte den Hörer zurück auf die Gabel.

»Na, du bist aber heute gut drauf«, kommentierte Mick, die gerade durch die Tür kam. »Was ist los, ist dein Auto schon wieder kaputt?«

Karla schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Sie kniete vor ihrem Schreibtisch und wühlte im Papierkorb. »Die Wunderland-Akte, die ich gestern hier abgelegt habe«, sagte sie. »Hast du eine Ahnung …?«

Mick schnaubte und pflückte einen Ordner von Karlas Schreibtisch. »Abgelegt?«

Karla erhob sich würdevoll und starrte ihre Kollegin warnend an. Mick lächelte besänftigend. Karla riss ihr wortlos den Ordner aus der Hand und stürmte zur Tür.

»Ach, Carlo? Der Chef wollte dich …« Micks Stimme wurde vom Knall der Tür übertönt.

Heute wünschte sie sich, nie aufgestanden zu sein. Der Besuch bei Fokko Tjarks hatte sie nicht aufgemuntert, im Gegenteil. Ihr Partner lag nach wie vor im künstlichen Koma, und sie hatte nur ein paar Minuten vor seinem Bett gestanden und ihm erzählt, welche Wendung der Wunderland-Fall genommen hatte und dass sie damit rechnete, degradiert zu werden.

Sicher hatte Fokko von ihrem Bericht nichts mitbekommen, aber sie hatte dennoch das Gefühl, es ihm schuldig zu sein. Sie hatten so lange an diesem Fall gearbeitet …

Aktenschubse, dachte sie. Ewige Götter, bitte lasst nicht zu, dass sie mich in den Innendienst strafversetzen. Ich opfere euch mein Erstgeborenes, nein, meine beiden Erstgeborenen, wenn ihr mich davor bewahrt!

»Magistra van Zomeren!« Der Obermagister beugte sich über seinen Schreibtisch. Karla lehnte sich ein wenig zurück und unterdrückte ein Seufzen. Sie wusste inzwischen, welche Wirkung sie auf ihre Vorgesetzten hatte. Karla van Zomeren war weder geduldig noch diplomatisch, und ihr Temperament stand in krassem Gegensatz zu ihrem hellen Teint, ihren blonden Haaren und den grauen Augen. »Du bist ein Wechselbalg«, hatte Fokko sie immer aufgezogen. »Bist du sicher, dass dir deine Eltern keine Trollgene vererbt haben?«

»Van Zomeren!« Jetzt war Korngolds Stimme so laut, dass kleinere Gegenstände auf dem Schreibtisch zu hüpfen begannen. Gleich würde er losbrüllen, und das wollte Karla nicht aus der Nähe erleben.

»Obermagister«, unterbrach sie ihn hastig, »ich gebe zu, dass wir bei Perfidos Beschattung ein paar kleine Fehler begangen haben. Aber …«

»Kleine Fehler?« Der Obermagister schmetterte die Faust auf den Tisch. »Was würden Sie denn dann als ›großen Fehler‹ bezeichnen? Wenn Ihr Partner von einem wildgewordenen Troll in Stücke gerissen wird?«

Karla biss die Zähne zusammen. Fokko hatte einen Schlag abgefangen, der ihr gegolten hatte und sie mit Sicherheit getötet hätte. Nun lag er im Koma, und sie war daran schuld. Der verdammte Leibwächter dieses verdammten Blutsaugers Perfido. Sie hatte ihn einfach nicht rechtzeitig gesehen. Im Grunde konnten sie noch von Glück reden, dass Trolle an ihrer traditionellen Bewaffnung festhielten – ein Schlag mit dem Knüppel über den Kopf war nicht zwangsläufig tödlich. Wenn sie an die moderne Ausrüstung mancher Koboldbanden dachte – einen solchen Hinterhalt hätten weder sie noch ihr Partner überlebt.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit hastig wieder auf ihren Chef. Er hatte sich immerhin ein wenig abgeregt.

»… Ihnen den Wunderland-Fall zu entziehen«, dröhnte seine Stimme. »Die Beweise, die sie für Perfidos Beteiligung an dem Anschlag geliefert haben, sind dürftig. Auf dieser löchrigen Grundlage kann unsere Behörde keine Anklage erheben.«

Karla nickte wütend. Ein Jahr Arbeit für die Katz. Sie wusste mit jeder Faser ihres Körpers und jeder Schwingung ihrer Seele, dass Perfido schuldig war. Und sie war ihm so dicht auf den Fersen gewesen, so dicht …

Sie zwang sich, ihrem Vorgesetzten zuzuhören. Gleich würde er die Worte aussprechen, die sie in den Innendienst versetzten, und dann würde sie ihm ihre Marke und die Waffe auf den Tisch knallen und gehen.

»Ihr Partner ist auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben«, sagte der Obermagister. Er faltete die Hände zu einem Spitzdach und sah Karla darüber hinweg an. Sie glaubte, in seinen braunen Augen so etwas wie Mitgefühl zu lesen, und runzelte die Stirn.

»Sie sind gut mit ihm klargekommen, oder?«

Wieder nickte sie. Misstrauisch.

Er senkte den Blick auf eine Akte, die vor ihm lag. Karla versuchte, sie zu entziffern, aber dieses Papier war magisch verschlüsselt. Korngold war nicht umsonst der jüngste Obermagister der Magisterischen Informationsdienststelle. Karla lächelte. Er war gut.

»Die Zusammenarbeit mit Ihrem vorherigen Partner ist dagegen weniger glücklich verlaufen, wie ich mich erinnere.«

Bei diesen Worten verschwand jede Spur eines Lächelns aus Karlas Gesicht. Die »Zusammenarbeit« mit dem Mann, der vor Fokko Tjarks ihr Partner gewesen war, hatte in einer Prügelei vor dem MID-Gebäude ihr unrühmliches Ende gefunden.

»Es lag nicht an mir«, sagte sie schroff. »Der Mann war ein Schwarzmagus vom allerübelsten Kaliber. Sie hatten meinen Bericht über seine Methoden auf dem Tisch liegen.«

»Das hatte ich«, erwiderte Korngold mild. »Und ich habe die Empfehlung zu seiner Suspendierung mit meiner wärmsten Empfehlung nach oben weitergegeben.«

Karla entspannte ihre Fäuste und nickte widerwillig. Korngold hatte sie bei dieser Angelegenheit wirklich unterstützt, das musste sie zugeben. Sie hatte Sontheim einen Kinnhaken verpasst, weil er eine Zeugin beinahe krankenhausreif »befragt« hatte.

Einem handgreiflichen Konflikt zwischen einer Weißen Hexe und einem Dunkelmagus folgte in der Regel ein internes Ermittlungsverfahren, aber der Schwarze Zweig hatte in diesem Fall seinen Mann unverzüglich abgezogen.

Karla sah den Obermagister an. Worauf wollte er hinaus?

»Ich werde Sie also vom Wunderland-Fall abziehen. Ihr neuer Fall liegt bereits auf Ihrem Schreibtisch, und Ihr Partner wurde informiert.«

Karla horchte auf. Ein neuer Fall? Der Obermagister zeichnete eine Sigille auf das verschlüsselte Aktenblatt und reichte es ihr. Ein Personalbogen, wie sie jetzt sah, da die Verschlüsselung aufgehoben war. Sie überflog ihn und nickte unbehaglich. »Ein freier Mitarbeiter der ZMA? Das ist ungewöhnlich.«

Der Obermagister hob die Schultern. »Personalknappheit«, erwiderte er. »Der Mann hat eine ausgezeichnete Bewertung.«

Karla las sie gerade. Tora-san persönlich hatte ihn empfohlen. Das war allerdings eine Referenz, die sich sehen lassen konnte.

Karla schob den Bogen in seine Hülle zurück. »Ich kontaktiere ihn in den nächsten Tagen.«

»Nein, Sie kontaktieren ihn unverzüglich.« Korngold tippte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Magistra, Sie sollten Ihre Ressentiments gegenüber unseren Kollegen vom Schwarzen Zweig einer Überprüfung unterziehen.«

»Ja, Chef.« Sie erhob sich. »Sonst noch etwas?«

Er fixierte sie stumm, und sie erwiderte seinen Blick ebenso unnachgiebig.

»Verschwinden Sie, van Zomeren«, sagte er schließlich und winkte ungeduldig. »Gehen Sie mir aus den Augen.«

Last days on Earth: Thriller
titlepage.xhtml
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_000.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_001.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_002.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_003.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_004.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_005.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_006.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_007.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_008.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_009.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_010.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_011.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_012.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_013.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_014.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_015.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_016.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_017.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_018.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_019.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_020.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_021.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_022.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_023.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_024.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_025.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_026.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_027.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_028.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_029.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_030.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_031.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_032.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_033.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_034.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_035.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_036.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_037.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_038.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_039.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_040.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_041.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_042.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_043.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_044.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_045.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_046.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_047.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_048.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_049.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_050.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_051.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_052.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_053.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_054.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_055.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_056.html
CR!9R439ST3N922HB1RMVRJNJ59S084_split_057.html