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Karla kniete neben der Tür und lauschte. Nach der Gewehrsalve und dem Motorengeräusch war es still geworden. »Rufe ich einen Krankenwagen, oder bringe ich dich im Jaguar hin?«, fragte sie. »Kannst du laufen?«

Raoul antwortete nicht. Karla fuhr herum. Er lehnte zusammengesunken an der Wand, der Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und Blutgeruch hing dick und schwer in der Luft. Karla biss sich auf die Wange. Sie konnte diesen Geruch nicht ertragen, er machte sie kribbelig.

Raouls Gesicht hatte die Farbe von altem Papier. Karla konnte die Essentia sehen, die zusammen mit seinem Blut aus ihm heraussickerte wie aus einem leckgeschlagenen Gefäß. Sie musste ihn schleunigst in ein Krankenhaus schaffen. Karla bückte sich, um die Autoschlüssel aufzuheben, die Raoul hatte fallen lassen.

Als sie sich aufrichtete, stemmte sich Raoul gerade mühsam mithilfe seines Stabes auf die Beine. Er schüttelte den Kopf wie ein Boxer, der die Wirkung eines Schlags abschüttelt. »Nicht ins Krankenhaus«, ächzte er. »Hilf mir. Nach oben in die Wohnung!«

Karla schob ihre Schulter unter seinen unverletzten Arm. »Du hast zu viel Blut verloren. Die Wunde wird sich infizieren. Und wenn die Kugel noch drinsteckt …«

Er wandte mühsam den Kopf und sah sie an, sein Blick ließ sie verstummen. »Es ist immer noch genug Blut im System«, sagte er. »Die Kugel steckt, ich kann sie fühlen. Du wirst sie rausholen.« Das breite Grinsen, das sein Gesicht teilte, machte sie schaudern. Seine Augen funkelten in einer wahnwitzigen Freude. Er genoss seine Schmerzen, ihre Furcht, ihren Abscheu …

Karla musste sich zwingen, ihn nicht loszulassen. »Du bringst ihn um«, sagte sie mit flacher Stimme. »Das kannst du nicht machen.«

»Kann ich nicht?« Sein Lachen klingelte in ihren Ohren. »Denk doch nach«, fuhr er fort. »Wir können nicht ins Krankenhaus gehen. Das ist eine Schusswunde. Solche Verletzungen werden sofort gemeldet.« Er unterbrach sich und stöhnte.

Sie stiegen in verbissenem Schweigen die Treppe hinauf. Karla öffnete die Tür zu Raouls Wohnung und half dem Verletzten ins Badezimmer.

»Der Spiegel«, sagte er heiser. Sein Gesicht war bleich, die Augen lagen tief in ihren Höhlen und glänzten. Er schälte sich unter Stöhnlauten aus seiner blutigen Jacke. Karla biss sich auf den Finger. Er musste große Schmerzen haben, aber Brad genoss es. Sein Gesicht war zu einer Grimasse irrsinniger Wonne verzogen, sein Grinsen hatte etwas Ekstatisches. Und jetzt streifte er das blutgetränkte Hemd ab, zischte vor Schmerz und tauchte seine Finger tief in das Loch, das die Kugel geschlagen hatte.

»Brad«, schrie Karla. »Du infizierst die Wunde!«

Er biss die Zähne aufeinander und starrte in den Spiegel. Sie konnte die Wesen sehen, die nur darauf warteten, den verletzten Wirt zu übernehmen. Aber noch war Brad zu stark.

»Bring mir den Erste-Hilfe-Kasten«, befahl er. »Im Wandschrank, oberstes Brett.«

Als Karla damit zurückkehrte, hockte Brad auf dem Badewannenrand, wie es ein paar Stunden zuvor Raoul getan hatte. Immer noch floss Blut, sickerte Essentia aus der zerfetzten Schulter.

»Du bringst ihn um«, sagte Karla.

Der Daimon hob den Kopf und sah sie mit seinen wahnsinnigen Augen an. »Wenn er das nicht aushält, ist er es nicht wert«, erwiderte er lächelnd. »Aber ich sollte Vorsorge treffen, du hast recht.«

Seine blutverschmierte Hand löste sich vom Badewannenrand und griff nach der Kiste, die Karla ihm hinhielt. Er zog eine schwarze Plastikflasche heraus und stellte sie neben sich. Dann öffnete er ein schmales Etui, das blitzende chirurgische Messer und Pinzetten enthielt. Brad knurrte zufrieden. »Gehört mir«, sagte er, ihren fragenden Gesichtsausdruck richtig interpretierend. »Saubere Lappen, dort in der Tasche. Verbandszeug. Pflaster. Kannst du verbinden?«

Karla nickte verbissen. Wundversorgung und Erste Hilfe gehörten zur Grundausbildung einer Magistra.

Der Daimon stemmte sich auf die Füße und beugte sich wieder zum Spiegel. Mit ein paar sicheren Handbewegungen säuberte er die Wunde und ihre Ränder und begann dann mit einer langen Pinzette darin herumzustochern.

Karla konnte nicht mit ansehen, wie er Raouls Schulter misshandelte. Sie nahm ihm die Pinzette ab, sagte: »Setz dich«, und drehte die Klemmlampe neben der Badewanne so, dass ihr Licht in die Wunde fiel. Mit zusammengebissenen Zähnen und leichtem Schwindel, den der Blutgeruch ihr verursachte, begann sie die Wunde zu sondieren. Dabei war sie sich die ganze Zeit bewusst, dass Brad sie fixierte. Sein Atem ging zischend und schnell. Er hatte Schmerzen. Und, bei allen Oni der japanischen Unterwelt, er genoss sie!

»Gut«, sagte er keuchend. »Du machst das sehr gut.« Seine blutigen Hände umfassten ihre Taille, zogen sie dichter an sich heran.

»Lass das!«, fauchte Karla. Schweiß lief ihr in die Augen. Sie musste sich zusammenreißen, damit ihre Hände nicht unkontrolliert zu zittern begannen. »Wenn die Wunde sich entzündet, wenn er daran stirbt, stehst du ohne Wirt da, also hör auf, mich zu stören!«

Sie sah sein Grinsen im Augenwinkel. Oh, er genoss nicht nur seine Schmerzen! Da waren auch noch ihr Zorn und ihre Angst, ihre Sorge um Raoul … Nahrung. Essentia für Daimonen. Ein wahres Festmahl.

Sie hatte die Kugel. Zweimal entglitt sie der Pinzette, zweimal musste sie neu nachfassen, dann war sie draußen und landete klirrend im Waschbecken. Karla warf die Pinzette hinterher und stützte sich auf. »Er hat zu viel Blut verloren«, sagte sie. »Brad, wenn wir euch nicht in ein Krankenhaus bringen, schafft euer Körper das nicht.«

Er spuckte verächtlich aus und stand auf. Schwankend klammerte er sich an den Waschbeckenrand, starrte in den Spiegel. »Wir werden das reinigen«, knurrte er. »Du siehst, ich bin vernünftig.« Er griff nach der Plastikflasche, schraubte sie auf und schüttete einen großen Schluck des Inhalts direkt in die Wunde. Das Zeug schäumte weiß und rosa auf, und Karla glaubte, ein leises Zischen zu hören.

»Bist du wahnsinnig?«, sagte sie. »H2O2? Das ist doch mittelalterlich. Haben wir kein Jod …?«

Er ließ die Flasche fallen und rang stöhnend nach Luft. »Wow!«, stieß er hervor. »Das knallt!« Er spülte das schäumende Gemisch mit Wasser aus und blieb eine Weile mit geschlossenen Augen stehen. »Verbinden«, sagte er dann.

Karla legte, so gut sie es konnte, einen Druckverband an. »Ich bin keine verdammte Ärztin«, sagte sie wütend. »Hat Raoul einen Hausarzt? Was ist mit diesem Doktor Frankenstein hier im Haus?«

»Frankenheim.« Brad ließ sich von ihr ins Schlafzimmer helfen. »Psychiater, meine Liebe. Er hat noch weniger Ahnung von Schusswunden als du.«

Er legte sich auf das Bett und schloss die Augen. Raoul hatte zu viel Essentia verloren. Ein Nachtgeborener würde jetzt zu seiner Delicata oder zu ihr kommen …

Karla setzte sich vorsichtig auf die Bettkante neben ihn. Sie legte ihre Hand auf seinen gesunden Arm und fühlte seinen Puls.

Brad sah sie an. Seine Augen glühten im Halbdunkel des Schlafzimmers. »Wenn ich in dein Gesicht sehe, weiß ich, dass er es vielleicht nicht schafft.« Er lachte keuchend, packte mit festem Griff ihr Handgelenk und zog sie zu sich hinunter. Sein Mund berührte ihr Ohr. »Wenn er stirbt«, flüsterte er, »musst du mich rufen. Wir wären ein gutes Team, Baby. Du und ich in einem Körper. Macht dich der Gedanke nicht an?«

Karla versuchte, sich von seinem Griff zu befreien, aber seine Finger hielten sie eisern umklammert. »Ich bin nicht interessiert«, sagte sie scharf.

Er kicherte. »Ob du willst oder nicht, mein Liebling: Höre meinen Namen, bei dem du mich rufen wirst. Ich werde gehorchen, Königin meines Herzens. Ich muss gehorchen, wenn du meinen Namen rufst.«

Karla wollte ihn nicht hören. Sie wollte dieses Geheimnis nicht mit dem Daimon teilen. Es war schmutzig.

Seine Lippen kitzelten an ihrem Ohrläppchen, er küsste es und flüsterte dann: »Pourudhâxshtay.«

Karla verschloss ihre Ohren und versiegelte ihr Gedächtnis vor dem Eindringen dieses unheiligen Namens, aber es war umsonst. Er bohrte sich in ihr Bewusstsein wie ein giftiger Wurm, und sie erkannte, dass sie ihn nie wieder vergessen würde, solange sie lebte. Sie war unfähig, sich gegen ihn zu wehren. Der Name breitete sich aus, verankerte sich in jedes ihrer Neuronen, besetzte ihre Synapsen, klammerte sich an ihre Axone, brandete durch ihre Zellen und Blutgefäße, brannte in ihren Muskeln, pochte in ihren Augen. Pourudhâxshtay. Gebrandmarkt, gezeichnet, verseucht durch den Namen eines Daimons. Pourudhâxshtay.

Sie keuchte und stieß ihn von sich, musste sich bremsen, um ihn nicht zu schlagen.

Er fiel auf das Kissen zurück und schrie vor Schmerz. Karla sah in sein bleiches, gezeichnetes Gesicht und hob die Faust an den Mund, um nicht zu schreien.

Raoul verdrehte die Augen und wurde bewusstlos. Karla sondierte seine Lebenskraft. Sie glomm so schwach wie eine sterbende Kerzenflamme. Karla schloss die Augen und zwang ihre rasenden Gedanken zur Ruhe. Es war zu spät, um noch einen Notarzt zu rufen. Raouls Leben drohte unter ihren Händen zu erlöschen. Wäre Raoul ein Vampir, dann wäre jetzt alles ganz einfach. Selbst in seinem bewusstlosen Zustand hätte sie ihm Essentia geben können – wenn auch nicht ihr Blut. Aber das war vielleicht auch nicht nötig? Die Essentia war es, die den Lebensfunken erhielt.

Sie sah auf ihn hinab. Der Verband um seine Schulter zeigte rote Flecken. Raouls Gesicht war eingefallen wie das eines Sterbenden. Karla stieß den angehaltenen Atem aus und beugte sich vor. Sie legte ihre Hände auf seinen Solarplexus und seine Stirn, schloss die Augen und ließ die Essentia durch ihre Hände in seinen Körper fließen.

Sie versank in einen Dämmerzustand, in dem sie nicht mehr wusste, ob sie wachte oder schlief und träumte. Das stete Rauschen ihres Blutes, das leise Wispern, mit dem der Strom der Lebenskraft durch ihre Nerven summte, flüsterten durch ihr Bewusststein wie Stimmen, die in einer fremden Sprache redeten.

Der Körper, auf dem ihre Hände lagen, fühlte sich kalt und leblos an. Sie konnte weder Atembewegungen noch Pulsschlag in ihm spüren. War er unter ihren Händen gestorben, ohne dass sie es bemerkt hatte?

Tonnenschwere Gewichte schienen an ihren Lidern zu hängen. Sie hätte sich so gerne einfach nur neben ihn ins Bett gelegt, die Decke über ihren Kopf gezogen und geschlafen.

Raoul lag still da. Reglos wie ein Toter. Sie beugte sich vor, lauschte an seinen Lippen. Da war ein Atemgeräusch, leise, wie Wind, der durch Laub säuselt. Und an seiner Kehle pochte der Puls wie das Ticken einer Uhr. Raouls Gesicht war entspannt, blass, aber nicht mehr totenbleich.

Karla atmete erleichtert auf. Was auch immer diese unorthodoxe Weitergabe von Essentia bewirkt haben mochte – es hatte ihn allem Anschein nach nicht umgebracht.

Sie ließ ihre Hand auf seinem Arm liegen und drosselte den Strom der Lebenskraft, die von ihr zu ihm floss, zu einem stetigen Rinnsal. Noch war sein Zustand alles andere als stabil, aber Raoul lebte und würde es wahrscheinlich auch morgen noch tun.

Last days on Earth: Thriller
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